Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Das Unternehmen war schwieriger, als sie gedacht hatte. Jedes Quartier hatte seine Unzukömmlichkeiten, die sich nicht immer im ersten Augenblick erkennen ließen, und so war Therese innerhalb von wenigen Wochen dreimal genötigt zu übersiedeln, bis sie endlich bei einer ältlichen Frau in einem vierten Stockwerk ein Zimmer fand, das reinlich und nett gehalten war – und in dessen Nachbarschaft nicht ein halbes Dutzend Kinder schrien und lärmten oder ein betrunkener Mann seine Frau prügelte. Die Vermieterin, Frau Nebling, schien nach Aussehen und Redeweise besseren Kreisen anzugehören. Sie trug zu Hause ein abgetragenes, aber gutgeschnittenes Morgenkleid aus rosa Samt, und beim Aufräumen, das sie selbst besorgte, hatte sie lange, freilich vielfach gestopfte Handschuhe über die Finger gezogen. In den ersten Tagen sprach sie nur wenig mit Theresen und besorgte ihr das bescheidene Mittagessen, ja nahm auch zuweilen daran teil, ohne sich mit ihr in längere Unterhaltungen einzulassen. Nachmittags entfernte sie sich und kam erst am späten Abend oder nachts wieder nach Hause.

So war Therese viel allein und machte gern von dem ihr eingeräumten Recht Gebrauch, sich im sogenannten Salon aufzuhalten, der mit seinen hellen Vorhängen und den Ölbildern an den Wänden freundlicher erschien als das schmucklose Kabinett, in dem Therese wohnte. Nach den vielen Umzügen der letzten Wochen fühlte sie sich so müde, so schwer, daß sie sich kaum entschließen konnte, das Haus zu verlassen. Sie las keine Bücher mehr, immer nur die Zeitung, diese aber vom 135 ersten bis zum letzten Wort, ganz mechanisch, ohne am Ende eigentlich zu wissen, was darin stand. Dann versuchte sie sich wohl die verschiedenen Menschen in ihre Erinnerung zurückzurufen, die bisher in ihrem Leben bedeutungsvoll gewesen waren. Aber es gelang ihr selten, die Gedanken auch nur für kurze Zeit fest an eine bestimmte Gestalt zu heften; jede entschwebte ihr gleich wieder, und so geisterten sie alle durcheinander traumhaft, fremd und fern. Mit sich selbst erging es ihr kaum anders. Wieder einmal kam sie sich gleichsam abhanden, sie faßte ihr Schicksal, sie faßte ihr Wesen nicht mehr; – daß der unförmliche Leib, an dem sie herunterblickte, daß die Hände, die verschlungen auf ihren Knien lagen, ihr zugehörten, – daß ihr Vater im Irrenhaus gestorben war, daß sie die Geliebte eines Leutnants gewesen, daß irgendwo in einem mährischen oder böhmischen Nest oder weiß Gott wo in der Welt ein Mensch lebte, von dem sie ein Kind bekommen sollte . . . all das war ebenso unwirklich für sie, als es dieses Kind selbst war, das sich doch seit vielen Wochen schon mit unerbittlichen Zeichen seines Daseins in ihr regte und dessen Herz sie gleichsam in ihrem eigenen klopfen fühlte. Es war ihr, als hätte sie dieses noch ungeborene Kind früher einmal geliebt; sie wußte nicht recht wann, und ob stunden- oder tagelang; aber jetzt spürte sie von dieser Liebe nichts in sich und weder Staunen noch Reue darüber, daß es sich so verhielt. Mutter . . . Sie wußte, daß sie es werden sollte, daß sie es war, aber es ging sie eigentlich nichts an. Sie fragte sich wohl, ob es anders wäre, wenn sie ihr Frauenlos in einer anderen, in einer schöneren Weise hätte erleben dürfen, als ihr nun einmal beschieden war, wenn sie, wie andere Mütter, in einer wenigstens äußerlich gefestigten Beziehung zu dem Vater des Kindes, oder wenn sie gar als Ehefrau innerhalb eines geordneten Hausstandes die Stunde der Geburt hätte erwarten dürfen. Aber all das war ihr so unvorstellbar, daß sie es sich auch nicht als ein Glück vorstellen konnte.

Und ein oder das andere Mal kam ihr wieder der Einfall – da sie jetzt so gar keine Regung von Mütterlichkeit in sich verspürte, keine Sehnsucht nach, kaum ein Wissen von dem Kinde –, ob nicht doch alles nur ein Schein, nur ein Irrtum sein könnte? Sie hatte einmal gehört oder gelesen, daß es gewisse Zustände gebe, die eine Schwangerschaft nur vortäuschten. War es nicht denkbar, da ihre Seele so gar nichts von diesem Kinde wußte und wissen wollte, daß das, was sie in diesen letzten Monaten körperlich erlebte, nichts anderes war als Reue, schlechtes Gewissen, Angst – die sie vor sich selbst ableugnen wollte – und die von ihrem Vorhandensein auf diese Weise Kunde gaben? Das seltsamste aber war, daß sie sich nach dem Ende dieser Zeit gar nicht sehnte, ja, eher empfand sie eine gewisse Scheu davor, wieder in die Welt zurück zu müssen, die sie verlassen. Würde sie sich jemals wieder in den geordneten Gang des Lebens zu finden verstehen, jemals wieder mit gebildeten Menschen reden, sich einer regelmäßigen Tätigkeit widmen, eine Frau unter anderen Frauen sein können? Sie war jetzt außerhalb alles Seins und alles Tuns gestellt; und es bestand eigentlich keine Beziehung für sie als die zu dem unendlich fernen bläulichen Stück Himmel, in das ihr Blick versank, wenn sie in der Ecke des Diwans lehnte. So verschwebte, so irrte, so träumte Theresens Sinn sich ins 137 Leere und verlor sich gerne darin, als wenn ihr ahnte, daß, sobald sie sich in die Wirklichkeit zurückfand, doch nur Sorge und Kummer zum Empfang bereitstehen würden.

Was Therese zuweilen sonderbar berührte, das war, daß Frau Nebling von ihrem Zustand überhaupt nichts zu bemerken schien, jedenfalls in keiner Weise die geringste Notiz davon nahm. Mittags aßen die beiden Frauen gemeinsam, nachmittags verließ Frau Nebling das Haus und kam nach wie vor erst in später Stunde wieder. Zuweilen überfiel Therese das Gefühl ihrer Einsamkeit drohend, wie ein plötzlicher Schreck. Da kam ihr einmal der Einfall, Sylvie mittelst eines kurzen Billetts zu sich zu bitten. Doch als diese tatsächlich am darauffolgenden Sonntag nach ihr fragte, ließ Therese ihr durch Frau Nebling bestellen, daß sie schon wieder, unbekannt wohin, übersiedelt sei.

Eines Tages, als sie zum Fenster hinausblickte, sah sie ihren Bruder um die Ecke biegen, hatte eben noch Zeit, rasch ins Zimmer zurückzutreten, und ängstigte sich ein paar Minuten lang, daß er sie gesehen haben, ins Haus treten und nach ihr fragen könnte. Dann wieder schämte sie sich dieser lächerlichen Angst in der Erwägung, daß sie doch keinem Menschen auf der Welt weniger Rechenschaft schuldig sei als gerade ihm. Im übrigen befand sie sich wohl und sicher; Frau Nebling hatte mit keinem Worte darauf angespielt, daß ihr ein weiterer Aufenthalt Theresens unbequem oder gar peinlich sein könne, an Geldmitteln mangelte es ihr vorläufig nicht –, wenn es not tat, konnte sie auch einen Arzt holen lassen, der in jedem Fall zur Diskretion verpflichtet war; daß Frau Nebling sie etwa mit dem Kind von heute auf morgen aus dem Hause jagen 138 würde, hielt sie für undenkbar, und in jedem Fall würde sich von hier aus alles weitere ohne Übereilung in Ordnung bringen lassen.

In diesen Tagen spielte sie auch manchmal mit dem Gedanken, an Alfred zu schreiben. Sie wußte zwar, daß sie es doch nicht tun würde; aber sie spann den Gedanken gerne fort, stellte sich vor, daß er zu ihr hereinträte, von ihrem Schicksal ergriffen, ja erschüttert wäre; – und sie träumte weiter: er liebte sie noch immer, ganz gewiß, auch ihr Kind würde er lieben; er nahm sie zur Frau; er war Arzt auf dem Lande, sie lebten zusammen in einer schönen Gegend, sie bekam zwei Kinder von ihm, drei; – und war er denn nicht eigentlich auch der Vater dieses ersten, das sie erwartete? Jener Kasimir Tobisch, existierte denn der wirklich? Hatte er nicht immer etwas Gespenstisches an sich gehabt? Ja, war er nicht vielleicht der Satan selber gewesen? Alfred war ihr Freund, ihr einziger Freund, ja ihr Geliebter, auch wenn er nichts davon wußte. Und seine Erscheinung veränderte sich wundersam in der Erinnerung ihres Herzens. Sein sanftes, allzu sanftes Antlitz veredelte sich, so daß es beinahe dem eines Heiligen glich; seine Stimme klang ihr dunkel und süß durch Zeitenfernen, und wenn sie sich in rückgewandten Gedanken mit ihm auf jener weiten abendlichen Ebene zärtlich umschlungen sah, so war es ihr zugleich, als schwebte sie mit ihm vom Erdboden langsam empor dem Himmel zu.


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