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3. Kapitel.

§ 9. Die Mannigfaltigkeit der Küsse.

So sind nun nach der Umarmung Küsse usw. anzubringen. Was ist hierbei früher und was später anzuwenden, Küsse, Nägelmale oder Zahnwunden? – Es gibt unter ihnen keine Reihenfolge bei der Ausführung: so sagt (der Verfasser):

Für Küsse, Nägel- und Zahnmale gibt es keine Reihenfolge, wegen der Anwendung in der Leidenschaft. Hauptsächlich werden sie vor der geschlechtlichen Vereinigung angewendet, Schläge und sīt-Machen während derselben.

»Keine Reihenfolge, wegen der Anwendung in der Leidenschaft«, weil man dabei von der Leidenschaft beherrscht ist. Ein Mensch nämlich, der von Leidenschaft erfüllt ist, sieht nicht auf eine Reihenfolge. Der Unterschied ist aber dabei der, daß sie »vor der geschlechtlichen Vereinigung«, vor der Vereinigung der Zeugungsglieder, geschehen. Während der Vereinigung der Zeugungsglieder findet die Anwendung »hauptsächlich«, meistenteils, infolge der Hingebung an die Leidenschaft oder um die Leidenschaft zu wecken von seiten des Liebhabers und der Liebhaberin statt. Der Sinn ist, die Anwendung geschieht hauptsächlich in der Vereinigung der Zeugungsglieder: »Schläge und sīt-Machen aber während der fleischlichen Vereinigung«, der Vereinigung der Zeugungsglieder; hauptsächlich: dann nämlich ertragen sie hauptsächlich die Schläge, da die Leidenschaft gewachsen ist. Der Sinn ist, vorher nicht hauptsächlich, bei der Menge der Schläge und des daraus erfolgenden sīt-Machens.

Das ist die Ansicht nur einer Autorität, indem damit auf die Replik (des Autors) hingewiesen wird. So sagt er:

Alles überall, da die Leidenschaft keine Rücksicht kennt. So lehrt Vātsyāyana.

»Alles überall«: die fünf Dinge, Küsse usw., sind vor und während der Vereinigung hauptsächlich anzuwenden, »da die Leidenschaft keine Rücksicht kennt«. Denn Feurige verlangen eine Vereinigung, bei der das hauptsächlich oder nicht hauptsächlich berücksichtigt wird. Für Matte dagegen gilt die obige Ansicht.

Folgende Besonderheit jedoch ist bei beiden Ansichten gleich:

Diese soll man während des ersten Koitus gegenüber einer Frau, die noch nicht in Leidenschaft geraten ist, nicht allzu offen anwenden und abwechselnd, weil das das Wesen der Leidenschaft ist. Darauf aber sehr eilig und in besonderer Häufung, um die Leidenschaft anzufachen.

»Diese« fünf Dinge, Küsse usw. – »Während des ersten Koitus«, zu Beginn des Liebesgenusses. – »Nicht allzu offen«, nicht zu deutlich; indem man sie nicht so ausgeführt, wie es ihren Merkmalen entsprechen würde. »Und abwechselnd«, gegenüber (?) einer Frau, die noch nicht in Leidenschaft geraten ist. Entweder dieses oder jenes »soll man anwenden«; nur eins, nicht alles zusammen. Z. B.: Entweder Küsse oder Nägelmale; Küsse oder Zahnwunden; Küsse oder Schläge, Küsse oder sīt-Machen. Das ist viererlei. Die Nägelwunden dreierlei; die Zahnwunden zweierlei und die Schläge eins: so ergeben sich, der Ordnung entsprechend, zehn Fälle; und ebenso viele der Ordnung entgegenlaufende; also an einer Stelle zwanzig Anwendungen. – »Weil das das Wesen ist.« Zur Zeit des Beginnes nämlich ist die Leidenschaft matt, und dann herrscht Gleichgültigkeit und die Unfähigkeit des Ertragens. Dementsprechend ist also die Anwendung (der Küsse usw.). – »Darauf aber«: in der Zeit nach dem Beginnen übersteigt die Leidenschaft das gewöhnliche Maß. Es findet Mißachtung gegenüber dem Leibe statt: dementsprechend werden hier »sehr eilig« und »in besonderer Häufung«, unter Ausführung der Gruppen der Kombinationen, dieses oder jenes, auch hier die zwanzig Dinge zur Anwendung gebracht. Warum soll man sie so anwenden? Darauf antwortet (der Verfasser): »Um die Leidenschaft anzufachen«; d. h. bei Beobachtung dieser Reihenfolge wächst die Leidenschaft. Sonst würde der Genuß bei dem Koitus vernichtet werden. – So besteht nun für vertraute Liebende unter den Küssen usw. keine Reihenfolge; wohl aber besteht eine solche, wenn die Anwendung geschieht, um Vertrauen erst zu erwecken; denn eins ist immer wichtiger als das andere, und mit Gewalt vorgehen ist unmöglich.

Nach den Umarmungen wird die Mannigfaltigkeit der Küsse erörtert. Deren verschiedene Arten entbehren nicht der Verschiedenheit des Ortes; so sagt (der Verfasser):

Auf die Stirn, das Haar, die Wangen, die Augen, die Brust, den Busen, die Lippen und den Innenmund drückt man Küsse; bei den Bewohnern von Lāṭa auch auf die Verbindungsstelle der Schenkel, die Armhöhle und die Gegend unter dem Nabel. In der Leidenschaft und nach Landessitte gelten diese und jene Stellen, aber nicht von allen Leuten sind sie zu benutzen. – So lehrt Vātsyāyana.

Hier gilt »Brust« für den Mann, »Busen« für die Frau; der Rest gehört beiden gemeinsam. »Lippen«: Ober- und Unterlippe. »Innenmund«: das Innere des Mundes, Gaumen usw. Hiervon wird (der Verfasser) das Küssen auf das Innere des Mundes mit der Zunge später beschreiben. Das Küssen auf diese acht Stellen gilt bei den alten Lehrern als erlaubt, indem es nicht verboten ist. – »Auf die Verbindungsstelle der Schenkel, die Armhöhle und die Gegend unter dem Nabel.« – Die Verbindungsstelle der Schenkel ist die Weiche; die Armhöhle die Achsel. Die Anwendung der Zahnwunden, die wieder anders ist, wird (der Verfasser) noch lehren. »Die Gegend unter dem Nabel« ist die schon genannte Schamgegend. »Bei den Bewohnern von Lāṭa«: bei diesen gelten elf Stellen. – »In der Leidenschaft«: man küßt Stellen, die Gegenstand der Leidenschaft sind und nach der Landessitte hierher gehören. »Und nach Landessitte«: wie die Bewohner des Landes Lāṭa die Vereinigungsstelle der Schenkel usw. küssen, weil das dort Sitte ist, so gelten diese Stellen, »aber nicht von allen Leuten sind sie zu benutzen«, nicht jedermann kann sie benutzen, da sie für feine Leute als unsauber unmöglich sind: für diese gibt es eben nur jene acht Stellen.

Hierbei ist es weltbekannt, daß (ein Kuß) mit dem knospenartig gespitzten Munde aufgedrückt wird. Nun werden die verschiedenen Küsse je nach der Art aufgezählt, wie man je nach den mannigfachen Stellen das Greifen (der Lippe) vornimmt. Da nun als Stätte des Kusses in erster Linie der Mund in Betracht kommt, so wird zunächst dieser Kuß betrachtet. Dabei gibt es drei Arten, je nachdem man die Oberlippe, die Unterlippe und die ganze Mundknospe berücksichtigt. Wegen der Mannigfaltigkeit der Tätigkeit hierbei sagt (der Verfasser zunächst) mit bezug auf die Unterlippe:

Es gibt drei Mädchenküsse: den gemessenen, den zuckenden und den stoßenden.

Ein Mädchen ist (jede Frau), die noch keine Zutraulichkeit zeigt, obgleich (der Liebhaber sich) schon (mit ihr) vereinigt (hat) Ich lese mit dem Berliner Ms., Peterson IV, 25 (Nr. 665) und Hultzsch II saṃgatā.. – Die Geliebte ist hierbei die Ausführende.

Wenn sie mit Gewalt aufgefordert auf den Mund den Mund legt, ohne aber damit Bewegungen zu machen, so ist das der gemessene Kuß.

»Wenn sie mit Gewalt«, heftig, zum Küssen »aufgefordert auf den Mund« des Liebhabers »den Mund«, den eignen, »legt«, aufdrückt, aber aus Scham »damit keine Bewegung macht«, in Gestalt des Ergreifens der Lippe, »so ist das der gemessene Kuß« … d. h. er ist begrenzt, da er nur in der einfachen Handlung des Küssens besteht.

Wenn sie, nur wenig dreist, die in den Mund gedrängte Lippe zu fassen verlangt und ihre (Unter-)Lippe zucken läßt, von der oberen aber das nicht duldet, dann ist das der zuckende Kuß.

»Die in den Mund«, der Liebhaberin, »gedrängte Lippe«, Unterlippe des Liebhabers; indem ihre Verschämtheit ein wenig nachgelassen hat, mit ebenmäßigem Griff »zu fassen verlangt«. Wie soll sie das tun? Auf diese Frage antwortet (der Verfasser): »Sie läßt zucken«; sie bewegt »ihre Lippe«, die Unterlippe, »duldet das aber von der oberen nicht«, d. h. nämlich, daß sie sich bewegt. Wenn sie diese auch bewegt, faßt sie eben mit dem ebenmäßigen Griffe zu. – »Der zuckende«, wegen des Zuckens der Lippe.

Wenn sie, die Augen geschlossen und mit der Hand dessen Augen bedeckend, ein wenig zufaßt und mit der Zungenspitze stößt, so ist das der stoßende Kuß.

»Wenn sie ein wenig zufaßt«: da die Verschämtheit noch nicht vollständig verschwunden ist. Ähnlich der Ober- und Unterlippe des Liebhabers rings zufassend. Den Kuß namens »gleiches Greifen« unter deutlichem Zufassen beschreibt (der Verfasser) weiter unten. – »Die Augen geschlossen«, aus Scham. – »Mit der Zungenspitze stoßend«, d. h. berührend, indem sie sich überall hinbewegt. – »Mit der Hand dessen Augen bedeckend«, in der Absicht: ›Er soll mich in diesem Zustande nicht sehen‹! – »Der stoßende«, wegen des Stoßens der Lippe. – Man muß sich hier den Titel vergegenwärtigen: »Überall wird schon durch das Eigenschaftswort die Art der Ausführung angedeutet«. Diese Küsse werden in der Reihenfolge von vorn nach hinten angewendet.

Jetzt nennt (der Verfasser) die besonderen Arten des Küssens auf die Unterlippe bei den übrigen Liebhabern und Liebhaberinnen je nach ihrer Ausführung:

Die anderen sind vierfach: gleich, schräg, irrend und gepreßt.

»Gleich.« Mit der Lippenknospe faßt man auf fünferlei Art an der Unterlippe zu. Wenn alles sich Darbietende erfaßt wird, so ist das das gleiche Greifen; wenn alles von den seitwärts gewendeten Lippen im Kreise erfaßt wird, so ist das das schräge Fassen; wenn man am Kinne und am Kopfe angefaßt und der Mund unter Hinundherirren erfaßt wird, so ist das das irrende, d. h. Erfassen der beiderseitigen Unterlippen. Das sind drei Fälle. Nun der gepreßte, (so genannt), weil dabei die Lippe unter Pressen erfaßt wird; bei den vorigen drei findet kein Drücken statt: das ist der Unterschied. Wenn da von beiden gedrückt wird, so ist es das reine Drücken; wenn es mit Zuhilfenahme der Zungenspitze geschieht, dann ist es das leckende Drücken: dies führt zwei Namen: Saugen und Lippentrinken.

Die fünfte Art des Fassens nennt (jetzt der Verfasser):

Mit einer Fingerkrümmung die Lippe zusammendrückend soll man sie ohne Zähne mit der Lippenrundung abpressen: das ist noch eine fünfte Ausführung: der abpressende Kuß.

»Mit einer Fingerkrümmung«, mit einer Krümmung des Daumens und Zeigefingers, »zusammendrückend«, erfassend, soll man darauf »ohne Zähne«, ohne Anwendung der Zähne, »mit der Lippenrundung abpressen«. Wenn hierbei auch ein Pressen stattfindet, so ist doch ein Unterschied dabei: das Festdrücken und Anziehen nach außen. Unter der Fünfzahl führt dieses Ergreifen (der Lippe) den Namen des ziehenden Kusses.

So sind je nach der Ausführung acht verschiedene Küsse genannt worden: drei Mädchenküsse und fünf Greifküsse.

Nachdem (der Verfasser) die verschiedenen Küsse nach ihrer Ausführung vollzählig durchgenommen hat, bespricht er nun das Spiel bei dem Küssen der Unterlippe, da die Gelegenheit sich gerade bietet:

Hierbei soll man auch ein Spiel anfangen.

»Hierbei«, bei diesem Küssen auf die Unterlippe; nicht an anderen Stellen. Ein Spiel bei dem Küssen dürfte die Verliebtheit steigern, da es eine Verschönerung bildet.

Nun gibt (der Verfasser) die Beschreibung des Spieles, bei dem es ja auf Sieg und Niederlage ankommt:

Es besteht darin, daß der Sieg dem gehört, der zuerst die Unterlippe erfaßt.

›Wer von uns beiden, während wir uns gegenseitig küssen, »zuerst«, als erster, durch Ausführung des Erfassens der Unterlippe das Ziel erreicht, der hat unter diesen Umständen gewonnen.‹ – Wie ist es damit? Darauf antwortet (der Verfasser): »Es besteht darin«. Damit deutet er den zwischen beiden festgesetzten Einsatz an. Das Spiel aber kann mit oder ohne Betrug gespielt werden. Wenn sie beide hierbei mit dem gewöhnlichen Kusse einander die Unterlippe küssen, so ist das ein Spiel ohne Betrug, worüber (der Verfasser) noch reden wird. Wenn dieses Spiel ohne Betrug gespielt wird, so muß ein Liebhaber vor dem andern die Lippe erfassen. Die Frau gilt als besiegt, wenn bei dem Küssen ihre Unterlippe erfaßt wird. Bei dem Spiele ohne Betrug besiegt kommt die Liebhaberin als die Schwächere besonders zur Geltung. Ihren Sieg bei betrügerischem Spiele, der ihr angemessen ist, wird (der Verfasser) noch beschreiben; von dem Liebhaber aber darf sie im betrügerischen Spiele nicht besiegt werden, da das ihr nicht angemessen ist.

Sicherlich muß hierbei, wenn der eine siegt, der andere ihm das streitig machen, denn das Spiel ist die Stätte des Streites. So beschreibt denn (der Verfasser) die Veranstaltung eines Streites, der dazu dient, die Leidenschaft anzufachen:

Hierbei besiegt soll sie unter halbem Weinen die Hand schütteln, drohen, beißen, sich hin und her bewegen, mit Gewalt festgehalten streiten und rufen: »Noch einmal das Spiel!« Wird sie auch dann besiegt, dann soll sie sich noch einmal so sehr haben.

»Unter halbem Weinen«: das ist die Besonderheit hierbei. Um anzudeuten, daß sie an der Lippe Schmerz empfindet, soll sie »unter halbem Weinen«, unter erheucheltem, »die Hand schütteln«, hin und her schwenken; »drohen«, anfahren; aus Scham über die Niederlage soll sie den Liebhaber schmähen. »Beißen«: nachdem sie das Festhaften, das Erfassen ihrer Lippe bemerkt hat, soll sie ihn mit den Zähnen verwunden. »Sich hin und her bewegen«: um mit dem Körper die Lippe zu befreien, wenn sie mit dem Munde festsitzt. – »Streiten«: ›Nicht bin ich besiegt; ich habe besiegt!‹ So soll sie streiten. »Noch einmal das Spiel!« ›Wir wollen noch einmal spielen!'‹ – »Sie soll rufen«: ›Nach dem vorigen Spiele jetzt dieses andere!‹ – »Auch dann«, auch bei dem zweiten Spiele, »dann soll sie sich noch einmal so sehr haben«; d. h. sie soll das Schütteln der Hand usw. noch in gesteigertem Maße treiben.

Nun nennt (der Verfasser) das betrügerische Spiel:

Wenn sie die Unterlippe des Vertrauensseligen oder Unaufmerksamen erfaßt hat und die zwischen den Zähnen befindliche festhält, daß sie nicht herauskann, dann soll sie lachen, schreien, drohen, hüpfen, rufen, tanzen und mit einem Gesichte, in welchem die Brauen zucken und die Augen rollen, ihn verspottend dies und jenes sagen. – Das ist der Streit bei dem Küssespiel.

»Des Vertrauensseligen«: bei diesem lustigen Mundküssespiele soll die Liebhaberin dann und wann den Liebhaber durch Harmlosigkeit arglos machen. Dann, »wenn sie die Unterlippe des Vertrauensseligen oder Unaufmerksamen«, indem sein Geist zufällig anderswo weilt, »erfaßt hat«, mit den gerundeten Lippen, »und die zwischen den Zähnen befindliche festhält, so daß sie nicht herauskann«, damit sie nicht, wiewohl darin befindlich, infolge einer Nachlässigkeit herausgleitet, weil das falsch wäre: dann soll sie, die Lippe festhaltend oder (schließlich) loslassend, des weiteren sich benehmen, wie es sich gerade trifft. Auch anderswo bei betrügerischem Spiele sieht man, daß der Sieg unter Benutzung von Mißgriffen und Unachtsamkeiten errungen wird. – Nachdem sie also in dieser Weise durch Betrug gesiegt hat, »soll sie lachen«, laut oder leise; aus übergroßer Freude; »schreien«: lärmend rufen: ›Ich habe gesiegt!‹, damit es seine Freunde oder ihre Freundinnen hören. – »Drohen:« ›Du bist gefangen; jetzt werde ich deine Unterlippe verwunden!‹ – »Hüpfen«, kokett die Glieder bewegen. – »Rufen«: ›Freundin, komm herein gelaufen und siehe meine Heldentat‹. – »Tanzen«, aus Genugtuung hierüber. Eine besondere Zutat wird gebildet durch die Augenbraue: »mit einem Gesichte«, in welchem die Brauen in die Höhe gezogen werden, indem der Reihe nach immer eine emporgezogen wird. »Ihn verspottend«: da der Streit beendet ist. »Dies und jenes«, was entsprechend vorgebracht wird und als Leidenschaft entflammend gelten kann. – »Das ist der Streit bei dem Küssespiele«: der Streit bei dem ehrlichen und betrügerischen Küssespiele ist abgetan. – Auch der Liebhaber soll, mag er Sieger oder Besiegter sein, ebenso handeln: woher sollte sonst Streit kommen? Also: Indem er die Unterlippe festdrückt, soll er unter sīt-Machen den Kopf schütteln; wenn sie ihn stößt, auf sie eindringen, wenn sie beißt, wiederbeißen; wenn sie sich hin und her bewegt, auch sich hin und her bewegen; wenn sie streitet, wiederstreiten; er soll sagen: ›Das ist jetzt ein anderes Spiel; das vorige laß uns spielen!‹ – Siegt er auch hierbei, dann soll er sich noch einmal so sehr haben, wegen des Gewinnens zweier Spiele übermütig sein. Auch besiegt soll er, aus Verlegenheit, lachen. Wenn sie schreit: ›Ich, habe gesiegt, ich habe gesiegt‹, dann soll er schreien: ›Falsch, falsch!‹ Wenn sie droht, soll er wieder drohen; wenn sie hüpft, soll er mithüpfen, indem er ihre Glieder festhält; wenn sie ruft, soll er wieder rufen; wenn sie tanzt, soll er unter Händeklatschen mittanzen; wenn sie ihn verspottet und dies und jenes sagt, soll er dagegen reden, um ihren Worten Einhalt zu tun. So heißt es denn: »Mag er in der Ausführung des Küssespiels Besiegter oder Sieger sein: er soll mit ihrem Tun und Treiben gerade den Streit anfachen«.

Damit sind die Streitereien bei dem Spiele mit den Nägel- und Zahnmalen und Schlägen angedeutet.

»Damit«, mit dem ehrlichen und betrügerischen Küssespiele. Dabei gelten dieselben Regeln. Nämlich: es besteht darin, daß der als Sieger gilt, der es zuerst fertig bringt, Nägelmale usw. zu schlagen. Hierbei dürfte der Gang des Spieles unter Betrug stattfinden an den Stellen, die man mit den Nägeln, Zähnen und Händen treffen darf. Ein Streit aber bei dem Spiele mit dem sīt-Machen ist zunächst nicht möglich. Er ist bei dem Streite mit den Schlägen zu betrachten, da er dazu gehört. Der Sieger hierin soll unter sīt-Machen schlagen und den Schlag des Geschlagenen erwarten.

Diese aber werden von feurigen Liebenden ausgeführt, da sie ihnen entsprechen.

»Diese«, die Streitigkeiten. »Da sie ihnen entsprechen«: derartiges Tun und Treiben entspricht feurigen Liebenden, nicht matten, da diese nicht imstande sind, solche Balgerei zu ertragen. Hierauf gibt (der Verfasser) die Regeln für die Oberlippe:

Wenn sie ihn küßt, soll er ihre Oberlippe ergreifen: das ist der obere Kuß.

»Wenn sie«, die Liebhaberin, mit ebenmäßigem Griffe die Unterlippe des Liebhabers küßt, soll dieser, der Liebhaber, gelegentlich ihre Oberlippe mit ebenmäßigem Griffe fassen. »Das ist der obere Kuß«, weil dabei die Oberlippe gefaßt wird. Das ist etwas Gelegentliches; nur aber ist es nicht anzuwenden bei Vorhandensein der Unterlippe, weil es dann bäuerisch ist und aussieht, als tränke Ich lese mit dem Berliner Ms. und Peterson IV, 25 (Nr. 665) nāsikāpuṭapānavat. man die Nasenflügel; und da bei so gelegentlichem Tun schräges Fassen usw. nicht am Platze ist, so ist denn der obere Kuß nur von einfacher Art. Er führt die Bezeichnung »ebenmäßiges Fassen«; auch die Liebhaberin kann ihn ausführen, wenn der Mann die Zeichen der Pubertät noch nicht hat.

Nun gibt (der Verfasser) die Regel für beide (Lippen) zusammen:

Man küsse, indem man mit der Lippenklammer alle beide Lippen erfaßt: das ist der runde Kuß bei der Frau oder bei dem Manne, wenn er die Zeichen der Pubertät noch nicht trägt.

»Mit der Lippenklammer«: ein Zufassen mit beiden ist eine Klammer. Indem man damit »beide Lippen erfaßt«, sie in den Mund bringt, soll man sie abküssen. Der Sinn ist, unter sīt-Machen verkleinere man die Höhlung zwischen seinen Lippen. Überall, wenn es zur Ausführung des Küssens kommt, soll man Laute ausstoßen! – »Der runde Kuß«, weil beide Lippen erfaßt werden. Das ist von vierfacher Art: gleichmäßig, schräg, irrend und abgepreßt. Das Ziehen ist nicht anzuwenden, da das unschön ist. – »Bei der Frau«: vom Manne ist es auszuführen, da deren Lippen unbehaart sind, aber auch von der Frau bei dem Manne, »wenn er die Zeichen der Pubertät noch nicht trägt«, ihm der Bart noch nicht gewachsen ist; sonst würde das Erfüllen des Mundes mit Haaren kein Vergnügen bereiten.

Nachdem (der Verfasser) die dreifache Art der Lippenküsse beschrieben hat, nennt er nun die verschiedenen Weisen, das Innere des Mundes zu küssen, was schon bei dem runden Kusse mit enthalten ist:

Wenn hierbei der eine mit seiner Zunge ihre Zähne, Gaumen und Zunge berührt, so ist das der Zungenkampf.

»Hierbei«, bei dem runden Kusse. »Der eine«, der Liebhaber oder die Liebhaberin, wer gerade dabei ist, den runden Kuß auszuführen. Indem der Mund des Ausführenden dabei geöffnet ist, soll er mit seiner Zunge oben und unten die Zähne berühren, d. h. reiben. Den Gaumen soll er mit der Zunge berühren, indem er sie nach oben streckt, und die Zunge, indem er sie geradeaus streckt. »So ist das der Zungenkampf«, den er da ausführt, ist zu ergänzen; unter gegenseitiger Tätigkeit. – Das ist von vierfacher Art: Küssen des Mundinnern, Zähnekuß, Zungenkuß und Gaumenkuß.

Damit ist das gewaltsame Ergreifen und Reichen des Mundes und der Zähne angedeutet.

Mit dem Zungenkampfe ist das Ergreifen des Mundes und der Zähne angedeutet, der Kampf bei dem gegenseitigen gewaltsamen Ergreifen des Mundes mit dem Munde, der Zähne mit den Zähnen; der Mundkampf und der Zähnekampf begleitet von dem Ergreifen. – »Und Reichen«: der eine reicht zum Küssen ungestüm den Mund oder die Zähne zum Ergreifen, der andere ergreift sie: so findet zwischen beiden begleitet von Reichen und Ergreifen der Mundkampf und der Zähnekampf statt.

An den übrigen Körperteilen sei der Kuß, je nach der Stelle, auf die er gedrückt wird, mäßig, gepreßt, gebogen (?) oder sanft. – Das sind die verschiedenen Küsse.

»An den übrigen Körperteilen«, den Stellen, wie die Stirn usw., die andere sind als Lippen und Mundinneres, gibt es je nach der Ausführung viererlei Küsse: den mäßigen, gepreßten, gebogenen (?) und sanften Kuß, »je nach der Stelle, auf die er gedrückt wird«, d. h. er sei so, wie es der Stelle entspricht, wo er ausgeführt wird. So sei er an der Vereinigungsstelle der Schenkel, der Achsel und der Brust mäßig, nicht gepreßt und nicht allzu sanft; ferner auf den Wangen, der Gegend unterhalb der Achsel und des Nabels gepreßt; an der Stirn und dem Kinn und dem Umkreise der Achsel sei der Kuß gebogen (?); auf der Stirn und den beiden Augen bestehe er nur in der Ausführung einer sanften Berührung. – So sind die verschiedenen Küsse je nach ihrer Ausführung erörtert.

Diese bekommen nun nach der besonderen Gelegenheit, bei der sie angewendet werden, noch andere Namen. Dazu sagt (der Verfasser):

Wenn sie, des Schlafenden Gesicht betrachtend, ihn zur eignen Befriedigung küßt, so ist das »das Anzünden der Leidenschaft«.

»Des Schlafenden«: daß sie das Gesicht betrachtet, deutet an, daß sie von Zuneigung erfüllt ist. – »Zur eignen Befriedigung«, d. h. sie küßt ihn, damit sie selbst Befriedigung findet. Unter solchen Umständen ist das »das Anzünden der Leidenschaft«, weil es ihre Leidenschaft entflammt, indem es den geküßten Liebhaber erweckt. Auch wenn er wacht, ist das möglich. Da ist es dann ein gelegentlicher Bestandteil der geschlechtlichen Vereinigung.

Wenn er unaufmerksam ist oder streitet oder durch etwas anderes abgelenkt ist oder schlafen will, so nennt man den Kuß, der den Schlaf vertreiben soll, den antreibenden.

»Der den Schlaf vertreiben soll«: das ist eine elliptische Bezeichnung: »wenn er unaufmerksam ist«, mit Gesang, Malen usw. beschäftigt ist, um seine Unachtsamkeit zu vertreiben; »wenn er streitet«; mit ihr, um den Zank zu beendigen; »wenn er durch etwas anderes abgelenkt ist«, um seinen Blick von dem andern Gegenstande abzulenken; »wenn er schlafen will«; um, wenn er schläfrig ist, den Schlaf zu vertreiben. Eine andere Lesart hat: »der den Schlaf des Schläfrigen usw. vertreiben soll«. – »Der antreibende«: der den Liebhaber von der Unachtsamkeit usw. abwendet … Hierbei zeigt sich die Liebhaberin als ausführender Teil in besonderer Schönheit.

Wenn der spät in der Nacht Kommende die auf dem Lager Schlafende zur eignen Befriedigung küßt, so ist das der erweckende Kuß.

»Spät in der Nacht«: wenn der Ausführende zu einer Zeit, wo man nicht mehr umherstreicht, ankommt … »Die auf dem Lager Schlafende«, zu Umwerbende. Infolge seiner Leidenschaft ist er unruhig (?). – »Der erweckende«: der zum Ziele das Erwachen hat. – Dieser fällt nicht mit dem »Anzünden der Leidenschaft« zusammen, da hier keine persönliche Befriedigung durch das Beschauen des Gesichtes stattfindet. Dort der Kuß »Anzünden der Leidenschaft« findet statt, wenn die Geliebte vertraut ist.

Sie selbst stellt sich wohl auch schlafend, wenn sie die Zeit der Ankunft des Liebhabers erfahren hat, indem sie Verlangen trägt, seine Neigung zu ergründen.

»Sie selbst aber« fordert den erweckenden Kuß heraus, »indem sie Verlangen trägt, seine Neigung zu ergründen«: ›Ich will einmal sehen, ob er Neigung zu mir hat oder nicht‹. So nach Huldigung von dem Liebhaber verlangend, schlafe sie aus Scham. »Stellt sich schlafend«, d. h. ruht in erheucheltem Schlafe: ›Wenn er in mich verliebt ist, dann wird er mir den erweckenden Kuß geben oder mir sonst huldigen‹. Er soll sie, falls sie zürnt, durch Huldigungen besänftigen, indem er sie durch Fußfall usw. verehrt. – So hat (der Verfasser) das Benehmen der beiden, wenn sie sich genähert haben, gebührend nach den drei Arten beschrieben.

Wenn man das Bild einer geliebten Person im Spiegel, an der Wand oder im Wasser küßt, so ist das eine Tat, die das Wesen offenbaren soll.

»An der Wand«, die von einer Lampe usw. erleuchtet ist. – »Einer geliebten Person«: nach der elliptischen Bezeichnung mit diesem Worte kann auch der Liebhaber gemeint sein, da hier kein Unterschied stattfindet. – »Wenn man das Bild küßt«: das Küssen des im Spiegel usw. sich abspiegelnden geliebten Wesens in der Nähe, ist ein nicht gewöhnliches scherzhaftes Beginnen, welches »das Wesen offenbaren soll«, d. h., um das Wesen zu offenbaren, welches die Zuneigung offenbart. Denn, wenn man einen Mann in solchem Zustande sieht, meint man, daß er in einen verliebt ist, weil er solch Wesen zeigt. »An der Wand« aber ist es kein Scherz. Vielmehr, wenn man seinen Mund auf den Mund des Bildes legt, soll das dazu dienen, »um sein Wesen zu offenbaren«.

Wenn man ein Kind, ein Bild oder eine Statue küßt, so ist das der übertragene Kuß und die übertragene Umarmung.

»Wenn man ein Kind«, einen auf seinem Schoße sitzenden Knaben, »ein Bild«, Gemälde, oder »eine Statue«, aus Ton, Stein, Holz usw. in Gegenwart der Geliebten »küßt, so ist das der übertragene Kuß«, und, in übertragener Bedeutung, auch eine übertragene »Umarmung«. Diese wird hier gelegentlich erwähnt, da es gerade paßt, wenn auch der Kuß das Thema ist. Diese beiden, das Küssen des Bildes und der übertragene Kuß, sind von den Verhältnissen abhängig und bei solchen Liebenden zu beobachten, die keine Gelegenheit haben, sich zu berühren, sich nicht sprechen können und noch nicht zusammengekommen sind.

Ebenso in der Nacht, im Theater, oder im Gedränge der Angehörigen das Fingerküssen der Geliebten seitens des in der Nähe Befindlichen oder, falls er sitzt, das Zehenküssen.

»Ebenso«: (d. h., auch folgendes) dient zur Offenbarung des Wesens. »In der Nacht«, nachts, entweder »im Theater«, bei dem Ansehen von Schauspielen usw., oder »im Gedränge der Angehörigen«, wenn Blutsverwandte und Angehörige zusammenstehen, »der Geliebten« seitens des in der Nähe sitzenden Geliebten oder, da das eine elliptische Bezeichnung ist, des Geliebten seitens der in der Nähe sitzenden Geliebten. »Fingerküssen«, da dann die Hand leicht zu erfassen ist. Indem diese unter einem anderen Vorwande herangezogen wird, werden die Finger derselben geküßt. – »Falls er sitzt«, in der Nähe der Liebhaberin ruht, dann findet das Küssen der Finger statt, da beides dann leicht zu erreichen ist. Hier bei dem Küssen der Finger sind beide Teile Ausübende; bei dem Zehenküssen aber nur die Liebhaberin, nicht der Mann, weil das bei ihm tadelnswert ist.

Wenn aber eine Frottiererin, die den Liebhaber ihren Zustand merken läßt, vom Schlafe übermannt ihren Mund auf seine Schenkel legt, gleichsam als hätte sie keinen Wunsch, und die Schenkel sowie die große Zehe küßt, so sind das herausfordernde Küsse.

»Wenn aber eine Frottiererin«, irgend eine Frau, die den Liebhaber frottiert und auf dem Wege des Frottierens ihn umwirbt, und »die den Liebhaber ihren Zustand merken läßt«, ihren Zustand erfassen läßt, der ihre Zuneigung andeutet. »Gleichsam als hätte sie keinen Wunsch«, als wünschte sie ihn nicht zu küssen, indem sie das Wesen des Liebhabers noch nicht erfaßt hat. Daher legt sie in erheucheltem Schlafe den Mund auf den Schenkel des Liebhabers, um ihn zu küssen. – Wenn sie aber bei dem Frottieren die Füße anzieht und die große Zehe küßt, so ist sogar die Tat in Gedanken keine Sünde, da Mund und große Zehe dann in gegenseitige nahe Berührung kommen. – Diese Fingerküsse usw. sind für solche Liebende, die die Berührung der Leiber in der berührenden Umarmung u. a. noch nicht durchgemacht und sich noch nicht gesprochen haben, auch noch nicht zusammengetroffen sind. – Diese herausfordernden Küsse, die zum Zwecke die Hingebung haben, Bilderküsse usw. und auch noch andere Praktiken sind in solchen Fällen wie die gewöhnlichen Küsse anzuwenden, da in der Ausführung kein Unterschied besteht.

Nun gibt (der Verfasser) eine für die Zeit der Vereinigung und der Umwerbung allgemein gültige Regel:

Hier gibt es einen Vers:

Eine Tat vergelte man mit einer Tat, einen Schlag mit einem Schlage, und aus eben diesem Grunde einen Kuß mit einem Kusse.

»Eine Tat«: eine von dem aktiven Teile zur Zeit der geschlechtlichen Vereinigung oder der Umwerbung getane Tat vergelte der passive mit einer ebensolchen. Um ein Beispiel vorzubringen, nennt der Verfasser »Schlag« und »Kuß«. Der eine, der bei der geschlechtlichen Vereinigung den andern für (leblos wie) eine Säule ansehen muß, wird seiner überdrüssig, und dann dürfte die Liebesfreude eine dürftige werden. Oder, wenn sie die Umwerbung duldet, aber sich nicht küssen läßt, dann wird sie als Vieh betrachtet, und dann dürfte das Ziel, die geschlechtliche Vereinigung, nicht zustande kommen. – »Aus eben diesem Grunde« soll man je nach der Art der Ausführung, wie man genossen wird, vergelten. So dürfte der Koitus, infolge des Erfassens seines Wesens, deutliche Liebeslust bereiten, indem derselbe dann dem Herzen entspricht.

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