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»1840-1870. Dreißig Jahre deutscher Geschichte.« Von Karl Biedermann. 2 Bde. Breslau, Verlag von S. Schottländer, 1881-82.
Uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn.
Hyperions Schicksalslied.
Napoleon hatte doch wohl nicht so ganz unrecht, wenn er die Geschichte eine » fable convenue« nannte. Denn auch heute noch erscheint sie nur allzu häufig als eine stillschweigende Übereinkunft, Dinge für wahr zu halten, deren Falschheit entweder schon erwiesen ist oder unschwer zu erweisen wäre. Die Leute werden nie aufhören, das Geschehene – auch das vollständig Fest- und Klargestellte – durch die Brillen ihrer Liebhabereien, Vorgefaßtheiten, Einbildungen und Parteimeinungen anzusehen. Ebenso das Geschehende, und das Wirrsal gegenwärtiger Parteilichkeiten trübt dann notwendig auch die Anschauung der Zukunft. Die »absolut objektive« Historik, wovon dermalen so viel geschwatzt wird, ist darum auch nur eine » fable convenue«, wie, wenn nicht die Schüler, so doch die Meister der Schule recht wohl wissen. Die stilistische Erkünstelung dieser Fabel führt aber leicht zu jener sittlichen, d. h. unsittlichen Lässigkeit und Stumpfheit, vermöge welcher die »absolut objektive« Geschichtschreibung nicht wenig, sondern viel zu der Verwirrung und Verkehrung der Vorstellungen und Begriffe beigetragen hat, welche ein Grundübel unserer Zeit ist. Die Einführung der leichtfertigen, ja geradezu sündhaften Maxime der Frau von Staël: » Tout comprendre c'est tout pardonner« (Alles verstehen heißt alles verzeihen) – in die Historik war von den bedauerlichsten Folgen. Man stellte dem Historiker sozusagen die Aufgabe, er müßte sich bemühen, die Halunken und Bösewichte der Vergangenheit zu begreifen, um den Halunken und Bösewichten der Gegenwart alles verzeihen zu können. Schließlich kam noch die Naturwissenschaft daher und dekretierte durch den Mund eines Professors der Physiologie, der Sitz der sogenannten Moral sei im »Hinterhauptlappen«. Wo der zu kurz, käme auch die Moral zu kurz. Folglich müßte, wer einen zu kurzen Hinterhauptlappen hätte, ein Verbrecher werden. Folglich hieße den Hinterhauptlappen begreifen, alles Scheuselige verzeihen, und so weiter in der Litanei des Blödsinns, von welcher umschwirrt unsereinem nichts mehr übrig bleibt, als resigniert zu sagen:
»Mich dünkt, ich hör' ein ganzes Chor
Von hunderttausend Narren sprechen.«
Es beruht auf naheliegenden Gründen, wenn Adepten der ars perveniendi sich hüten, die jüngere oder jüngste Vergangenheit einer historischen Beleuchtung zu unterziehen. Die ungeheure Konkurrenz auch auf den wissenschaftlichen Gebieten macht es, namentlich in Deutschland, jungen Leuten immer schwieriger, zu einer gesicherten Existenz zu gelangen. Wenn wir also die Verhältnisse nicht von der Ätherhöhe des Idealismus, sondern vom gemeinen Boden der Wirklichkeit aus ansehen, so müssen wir es nicht allein begreiflich, sondern auch verzeihlich finden, wenn junge der Historiographie Beflissene vor Materien sich scheuen, deren Behandlung, falls diese keine bedientenhafte sein will, sie auf ihrer Laufbahn gewiß nicht fördern würde. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil! Nur sollte man billig erwarten dürfen, daß die strebsamen Herren es unterlassen würden, uns weismachen zu wollen, die neueste Zeit eigne sich überhaupt nicht zur historischen Behandlung, weil sie »noch lange nicht genug auf- und abgeklärt wäre«.
Wenn nun, wie jeder weiß, schon die großen Historiker des Altertums diesen Scheingrund nicht gelten ließen, um wieviel weniger sollte er noch heutzutage vorgeschoben werden! Heutzutage, wo uns ja ganz andere Mittel der Kenntnisnahme, Prüfung und Feststellung zu Gebote stehen, als worüber die Alten zu verfügen hatten – heutzutage, wo gegenüber einer schlummerlosen, mit hunderttausend Augen und Ohren spähenden und lauschenden Presse das diplomatische Geheimnisseln geradezu lächerlich geworden ist – heutzutage, wo die Öffentlichkeit ein Faktor, der gar nicht mehr ignoriert werden darf – heutzutage, wo nur noch mit Massen operiert werden kann, folglich an die Massen appelliert werden muß und demnach durch Kabinettsränke und Diplomatenschwänke keine ausgiebige Politik, keine Geschichte mehr zu machen ist. Natürlich will ich damit nicht behaupten, daß es in der Politik keine Ränke und keine Schwänke, keine Nasführungen, keine Masken und keine Mysterien mehr gebe. Denn gewiß gibt es solche. Aber sie halten nicht mehr vor. Alles Munkeln im Dunkeln ist kurzlebig, und kaum noch die Einfädelungen zu geschichtlichen Handlungen, geschweige diese selbst, vermögen sich für kurze Zeit mit dem Schleier des Geheimnisses zu verhüllen. Wie ist, beispielsweise zu reden, die Wichtigtuerei der Metternichtigkeit mit ihren diplomatischen Mysterien durch die Veröffentlichung der Memoiren Metternichs ad absurdum geführt worden!
Die Berechtigung des Historikers, seinen Vorwurf aus der jüngsten Vergangenheit oder aus der Gegenwart selbst zu wählen, ist einer vernünftigen Anfechtung demnach gar nicht ausgesetzt. Hochverdienstlich aber kann diese Stoffwahl werden, wenn sich damit gesundes Urteil, unbestechlicher Freimut, unbeirrbarer Gerechtigkeitssinn und eine Darstellungsfähigkeit verbindet, welche anschaulich und anregend schildert, Mark und Leben in die Gestalten, dramatische Bewegung in die Geschehnisse bringt, und sich wenig oder gar nicht darum kümmert, wenn Schulfüchse ihre Geistverlassenheit für Wissenschaftlichkeit ausgeben und behaupten – nämlich mittels ihrer Bücher –, Unlesbarkeit und Gründlichkeit seien identisch und jedes richtige Geschichtswerk müsse von Rechts und Zunft wegen eine gähnende Klio als Titelvignette führen.
Glücklicherweise hat der Verfasser des Buches »Dreißig Jahre deutscher Geschichte« nicht nach diesem Schulrezept gearbeitet. Er besitzt auch in höherem oder niedrigerem Grade die Eigenschaften, welche vorhin namhaft gemacht wurden als erforderlich, um Geschichte so zu schreiben, daß sie anzieht, anregt, fruchtet und fördert. Er gibt ein gewissenhaftes Buch, gibt es so, daß man sich unschwer mit ihm verständigen kann, auch wo man seine Ansicht nicht zu teilen vermag. Das Material ist mit umsichtigem Fleiße herbeigeschafft, klar gesichtet, reif durchdacht, die Verarbeitung planmäßig und sauber, der Stil getragen und gemessen, ohne der Frische und Wärme zu ermangeln. Den Grundton der Darstellung liefert der patriotische Optimismus, der sich aber mit wohltuender Schlichtheit äußert und alles Phrasenhafte meidet. Um den Parteistandpunkt des Verfassers zu bezeichnen, muß man das den Ohren der jüngeren Generation wohl auch ganz unbekannte Wort »Gothanerei« aus seiner Vergangenheit heraufrufen. Biedermann mag jetzt darüber nicht viel anders denken, als wir anderen schon vorzeiten darüber gedacht haben. Jedenfalls tritt die Reminiszenz des Gothanismus in seinem Buche nicht zudringlich auf. Wie jedem echten Patrioten verschwindet auch ihm die Partei hinter dem Vaterland. Über Einzelheiten wird man mit ihm rechten können, sogar müssen, als Ganzes aber wird sein Werk mit lebhafter Teilnahme aufzunehmen und anzuerkennen sein. Es kann viel Gutes stiften, indem es den Deutschen dreißig der schicksalschwersten Jahre ihrer Geschichte aufhellt. Sie sollten doch endlich einsehen, daß man die Vergangenheit kennen müsse, um die Gegenwart verstehen und die Zukunft ahnen zu können. Biedermanns Buch ist ein hellgeschliffener Spiegel, der die Geschehnisse von drei Jahrzehnten treu aufgefangen hat.
Laßt uns hineinsehen!
Zuvörderst wird uns in rascher Rückschau die Zeit von 1815 bis 1840 vorgeführt. Es ist dies der unumgängliche Hintergrund, aus welchem jede Darstellung der neueren und neuesten Geschichte unseres Landes hervorzutreten hat. Ein düsterer Hintergrund fürwahr, mit bleierner Atmosphäre, erfüllt von den Miasmen der Karlsbader Beschlüsse, des Franz- und Metternichtigen Kulturhasses, der »kalmierenden« Berliner Neunmalweisheit, der Mainzer Zentraluntersuchungskommission, der Wiener Ministerkonferenzen. Man braucht nur die Namen Gentz, Kamptz, Schmaltz und Tzschoppe zu nennen, um die ganze Verworfenheit und Jammerseligkeit jener Zeit zu verstehen, wo Deutschland nur noch als »geographischer Begriff« erlaubt war und Preußen und Österreich nicht viel anderes gewesen sind als die Obergendarmen des weißen Zaren auf dem Kontinent. Oder vielmehr der russische Untergendarm war Österreich, und der österreichische Untergendarm war Preußen. Die Verekelung der Deutschen an ihrem Lande konnte unter diesen Umständen gar nicht ausbleiben, und daraus erklärt sich die Wiederkehr des gedunsenen und verschwommenen Kosmopolitismus, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei uns grassiert hatte und in den dreißiger Jahren des 19. abermals grassierte. Schwärmen mußte der Deutsche für etwas: das gehörte, wenigstens dazumal noch, zur deutschen Gemütlichkeit und zur deutschen Lyrik. Für seinen Bundestag oder für das »gemiatliche« Wienerdeutsch des Kaisers Franz oder für die »kalmierende« Potsdämischkeit konnte er anstandshalber doch nicht schwärmen, und darum schwärmte er für die »heroischen« Griechen, für die »liberalen« Franzosen und für die »edlen« Polen. Ich erinnere mich aus meinen Universitätsjahren, daß ich von meinen Freunden wie ein fremdes Tier angestaunt wurde, als ich mal verlauten ließ, den Luxus der Weltbürgerlichkeit sollten wir Deutschen uns eigentlich doch erst dann gestatten, wenn wir als Nation etwas vor uns gebracht hätten.
Die Borniertheit und die Brutalität des Absolutismus haben es auf dem Gewissen, wenn der mehr oder weniger große Haufen der deutschen Liberalen, vorab in Südwestdeutschland, nach der Julirevolution hoffende und wünschende Blicke rheinhinüber warf. Diese liberalen Kannegießer nach der Schablone »Rotteck« glaubten alles Ernstes an die lächerliche Lügenphrase von französischer Kosmopolitik, glaubten so sehr daran, daß ein patriotisches Wort von Johann Georg August Wirth, »er wollte im Fall eines Konflikts des liberalen Frankreichs mit dem absolutistischen Österreich und Preußen trotz seines Liberalismus immerhin lieber auf seiten Preußens und Österreichs stehen, als den Franzosen auch nur ein einziges deutsches Dorf hingeben –« in den liberalen Kreisen Kopfschütteln und Befremden erregte.
Der Pariser Julikrach von 1830 schlug doch so nachdrucksam in das Berliner Kabinett, daß dort die Einsicht aufdämmerte, mit dem System der Kirchhofsruhe-Politik ginge es nicht länger. Der Druck metternichtiger Vormundschaft hatte sich denn doch allzu spürbar gemacht, als daß er länger hätte ignoriert werden können. Man begann zu fühlen, wie weit man sich durch russische und österreichische Einflüsse von dem »nationalen Beruf« Preußens, wie solchen die Führer von 1813 verstanden hatten, habe abdrängen lassen. Man mußte auch aller Berliner Neunmalweisheit zum Trotz merken, daß die »Großmacht« Preußen ohne Deutschland doch eigentlich in der Luft stände. Dazu kam noch das Drängen und Treiben von seiten der materiellen Interessen, deren Entwicklung, gerade wie die der politischen deutschen Nation, durch die elende Mißgeburt von Bundesverfassung unverantwortlich gehemmt worden war und deren Förderung der bedeutendste Volkswirtschaftslehrer, welcher bislang in Deutschland aufgestanden war, Friedrich List, dem Jammerding von Bundestag, dieser Satire auf eine Nationalvertretung, schon im Jahre 1821 vergeblich empfohlen hatte. Alle die angedeuteten Motive wirkten zusammen zur Schaffung des deutschen Zollvereins durch Preußen (1833), der, obwohl noch für lange nur ein Stückwerk, als eine wahrhaft nationale Tat bezeichnet werden mußte, weil er 23 Millionen Deutsche, welche bis dahin durch Zollschranken voneinander getrennt waren, wenigstens handelspolitisch einte. Das Ausland erkannte und anerkannte die Wichtigkeit dieser Tatsache fast früher als das Inland. Die »großherzigen« Briten schielten sofort mit schlecht verhehltem Neid und unverhohlener Abgunst auf den deutschen Zollverein, während ein so berechtigter Urteiler, wie der französische Nationalökonom Michel Chevalier war, in dem deutschen Zollverein die merkwürdigste Erscheinung der Zeitpolitik und die Anfänge der Bildung eines neuen Schwerpunktes des europäischen »Gleichgewichts« erblickte. Kurz nach der Stiftung des Zollvereins begann auch der Eisenbahnbau in unserm Lande, der in seinem Vorschreiten bald zu erweisen vermochte, was Deutsche auf dem Gebiete der Kräftevereinigung und planmäßig geleiteten Selbsttätigkeit zu leisten imstande wären. Es ist aber sicherlich eine der bekannten Ironien der Weltgeschichte gewesen, daß dem »Volke der Denker und Dichter« der Gedanke seiner Einheit sich zunächst auf rein materiellem Wege zu verwirklichen begann. Denn, in Wahrheit, die erste praktische Antwort auf Arndts berühmte Frage: »Was ist des Deutschen Vaterland?« lautete: Der deutsche Zollverein. Das war freilich nichts weniger als das von dem fragenden Poeten geforderte » ganze Deutschland«, aber es war doch einmal ein Stück Deutschland.
Mochte der Jobber-König Louis Philippe schlaumeiern, wie er wollte und konnte, um die drei Julitage in den Geldsack der »liberalen« Bourgeoisie zu eskamotieren, diese drei Tage hatten die Bleidecke, die die heilige Allianz über den Kontinent hergespreitet, unwiederherstellbar durchbrochen. All das drängende, treibende Leben, das unter dieser Decke notvoll gekeimt hatte, quoll jetzt hervor, dürstend nach Luft und Licht. Zwar, was bei uns in deutschen Landen Politisches oder Quasi-Politisches geschah – Hambacher Fest, Frankfurter Hauptwacheputsch, Ludwigsburger Leutnantsverschwörung – gehörte eigentlich nur in die Annalen Schildas. Kläglich anzusehen in seinem Beginn und Verlauf war auch der brutale welfische Verfassungsbruch in Hannover, woran als ein genau im Stile des ganzen Stückes gehaltener Epilog die Wiedereinschärfung des zuerst durch Luther gefundenen Dogmas vom beschränkten Untertanenverstand durch den preußischen Minister Rochow sich anschloß. Aber kulturgeschichtlich genommen, machen die dreißiger Jahre eines der reichsten und inhaltvollsten Kapitel unserer Geschichte aus. Es wurde in Deutschland wieder einmal viel gedacht und gedichtet, darunter Vorzügliches, Bleibendes. Naturwissenschaft und Geschichtsforschung empfingen neue Befruchtungen. Die Hegelsche Philosophie, aus den polizeistaatlichen Windeln, in die der Meister sie eingeschnürt hatte, losgewickelt, wurde zu einem kräftigen Vorschrittsmotor. Die Junghegelingen traten aus dem Nebelheim abstrakter und abstruser Scholastik auf den festen Boden einer Opposition herüber, welche konkrete Objekte zu Angriffszielen nahm. Während die schneidig-kritischen Waffen von Christian Baur, Strauß, Bauer, Ludwig Feuerbach der kirchlichen Tradition unheilbare Wunden schlugen, gingen Ruge und seine Mitstreiter in den »Halleschen Jahrbüchern« mit fliegenden Fahnen und schlagenden Trommeln zum Sturm auf das Bestehende im Staat und in der Gesellschaft vor. Die »kritische Kritik«, wie sie namentlich in der »heiligen Familie« Bruno Bauers kultiviert wurde, machte freilich mitunter absonderliche Sprünge und wähnte wunder was für Resultate erreicht zu haben, wenn sie da anlangte, wo andere vor nahezu hundert Jahren auch schon angelangt waren. So z. B., wenn Max Stirner (Schmidt) als der Weisheit letzten Schluß triumphierend verkündigte, Selbstsucht sei die wahre und einzige Triebfeder alles menschlichen Wollens und Tuns, was doch der Generalfinanzpächter Helvetius auch schon gewußt und gepredigt hatte, nur etwas kurzweiliger.
In die Nationalliteratur war während der zwanziger Jahre infolge der Nachäffung von Goethes Altersschwächen eine gewisse kunstgreisenhafte Erstarrung gekommen. Auch von einer übelriechenden Atmosphäre, welche das rasch verprasselte Feuerwerk der Romantik hinterlassen hätte, könnte man sprechen. Unzweifelhaft waren es Börne und Heine, welche, unterstützt von den begabteren der sogenannten »Jungdeutschen«, also namentlich von Gutzkow, jene Erstarrung brachen und die Atmosphäre zerbliesen. Börne hat das Verdienst, die staatlichen Fragen und Probleme mittels seines Humors der Teilnahme seiner Landsleute nähergebracht, daneben jedoch den Fehl, schöngeistige Oberflächlichkeit in die politische Publizistik eingeführt zu haben. Heine erhob den Witz zu einer nationalliterarischen Macht, wie es eine solche Witzmacht in Deutschland bis dahin nicht gegeben hatte, und gab uns eine politische Satirik ersten Ranges. Aber im ganzen hat sein Dichten doch weit mehr zersetzend als schaffend gewirkt, und es war gut, daß die Heinesche Witzpoesie Gegengewichte fand in dem wohl- und festbegründeten Ansehen, dessen Rückert und Uhland, Chamisso und Schefer, Eichendorff und Kerner, sowie, wenigstens bei Wissenden, der einsame Platen und der noch einsamere Grillparzer genossen, ferner in der Geltung, welche die den dichterischen Gesichtskreis der Deutschen so prächtig erweiternden Schöpfungen Freiligraths und Sealsfield-Postls errangen, endlich in der freudigen Überraschung und begeisterten Teilnahme, womit die Lerchenlieder und Nachtigallenweisen begrüßt wurden, welche Grün und Lenau, zwei der edelsten Erscheinungen in der Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, aus dem chinesisch vermauerten Österreich nach Deutschland hinübersandten. Ein jüngeres Geschlecht von Poeten und Publizisten nahm dann alle die angeschlagenen Töne auf und führte sie mit allerhand Variationen weiter.
Aus alledem hatte sich eine Summe von Anschauungen und Stimmungen ergeben, welche ausreichte, das deutsche Leben nach verschiedenen Richtungen hin in rascheren Fluß zu bringen und darin zu erhalten. Das Bürgertum hatte sich fühlen gelernt, der Liberalismus an dem konstitutionellen Formalismus der Mittelstaaten einen Rückhalt gefunden, der freilich weit weniger stark war, als er aussah. Auch der nationale Gedanke war mehr und mehr flügge geworden und begann seine Schwingen zu prüfen und zu proben, obwohl vorerst nur in Liedern und Reden. Au seinem Wachstum hat dann die Pflege, welche er in den zahlreichen Vereinen wissenschaftlicher, künstlerischer und geselliger Art fand, zweifellos viel beigetragen. Insbesondere haben für seine Stärkung und Verbreitung unsere Sängervereine erfolgreich gewirkt. Die sangfrohen Deutschen sangen so lange vom deutschen Vaterland, bis sich die Vorstellung davon in den weitesten Kreisen einschmeichelte. Das Vereinstreiben zeigt übrigens auch eine nicht zu übersehende Schattenseite: es verführte gar manche Leute dazu, die Zweckesserei und Zwecktrinkerei für Selbstzweck zu halten, bestärkte nicht weniger viele in der angeborenen leidigen deutschen Neigung zur Wirthausbummelei und gewöhnte die Menge daran, leere Phrasen für volle patriotische Taten zu halten.
Das Jahr 1840 brachte zwei unser Land tiefbewegende Ereignisse: den Thronwechsel in Preußen und die aus der orientalischen Frage chauvinistisch herausgebauschte französische Kriegsdrohung. Der kleine Thiers, als Hauptschöpfer der napoleonischen Mythologie überzeugt, er hätte einen General von napoleonischem Genie im Bauche, tat sein großes Maul auf und schrie mit seiner dünnen Fistelstimme wütend nach dem Rhein, d. h. nach den deutschen Rheinlanden. Auf diese Unverschämtheit gaben die Deutschen ein schlechtes Gedicht zur Antwort, das Beckersche Rheinlied, worauf die Franzosen ein noch schlechteres setzten, welches Alfred de Musset bei der Absinthflasche verbrochen hatte. Der gute Lamartine machte diesem glücklicherweise nur in schlechten Versen geführten Deutsch-französischen Krieg ein Ende, indem er uns den Zuckerwasserpokal seiner »Friedensmarseillaise« kredenzte. Etwas Gutes hatte aber der Rumor doch gehabt: er hatte gezeigt, daß sogar das bundestägliche Deutschland sich nicht mehr bieten ließe, was das Deutschland des Regensburger Reichstags sich hatte bieten lassen.
Die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. hat, wie jeder weiß, in Preußen selbst und weiterhin in Nord- und Mitteldeutschland ebenso grundlose wie überstiegene Vorschrittshoffnungen erregt und allerlei Reformwünsche hervorgelockt. In Südwestdeutschland glaubte niemand an das neue Heil, etliche grasgrüne Lyriker ausgenommen, welche dem neuen Könige vordudelten, als bedürfte es nur eines Machtspruchs desselben, und die deutsche Einheit und Freiheit wären gemacht. Die Enttäuschung, sogar für grasgrüne Lyriker, ließ nicht auf sich warten; denn es hob ja jenes Regiment an, das dem Schwager Zaren so genehm war und das als ein »glorreiches« zu preisen unsere Römlinge vollauf Ursache hatten und haben. Schon die bekannten Berufungen von »Berühmtheiten« verursachten Kopfschütteln, dem rasch das Spottlachen folgte, als Schelling ganz im Stil eines richtigen Doktor Dulcamare in Berlin auftrat und so tat, als hätte er das große Arkanum, das Lösungspulver für alle Rätselfragen des Daseins, in der Westentasche mitgebracht und als würde er es im nächsten Augenblick hervorziehen. Biedermann hätte hier Gelegenheit gehabt, das Xenion zu zitieren, welches Strauß in den »Einundzwanzig
Bogen aus der Schweiz« (1843, S. 250) dazumal veröffentlichte
»Manches Seltsame sah ich am christlichen Hofe zu Potsdam,
Über eines jedoch bin ich noch immer erstaunt.
Denkt nur, aus alle Ländern verschrieb man niedergebrannte
Kerzen um höheren Preis, als man für ganze bezahlt.
Solche nur sollen beleuchten den Hof – – Ihr lächelt und glaubt's nicht?
Fragt doch Schelling und Treck, wie man die Stumpen dort schätzt.«.
Ich erinnere mich, zu jener Zeit ein Gespräch geführt zu haben mit einem katholischen Geistlichen, einem gescheiten und wissenden Manne, der mich jungen Menschen belehrte, von dem neuen Preußenkönig wäre Großes zu erwarten, denn zweifelsohne würde er sein Volk in den Schoß der alleinseligmachenden Mutterkirche zurückführen und also endlich der für Deutschland so unheilvollen Glaubensspaltung ein Ende machen. Das war gar nicht so dumm, wie es etwa heute aussehen mag. Friedrich Wilhelm IV. war ja ein überzeugter Romantiker und von dem Bewußtsein seines Gottesgnadentums und seiner königlichen Machtvollkommenheit bis in die Fingerspitzen erfüllt. Die logische Konsequenz der Romantik ist aber fraglos die Rückkehr in den Schoß der Alleinseligmachenden, und ein romantischer Fürst von solchem Machtbewußtsein konnte wohl glauben, daß ihm sein Volk die Nachfolge auf dem folgerichtigen Wege nicht verweigern würde. Friedrich Wilhelm IV. hatte jedoch zur Folgerichtigkeit nicht das Zeug. Nicht einmal zu konsequentem Denken, geschweige zu konsequentem Handeln. Wie alle Phantasiemenschen war er den Eindrücken des Augenblicks und der Stunde unterworfen und geneigt, Einfälle für Grundsätze zu halten. Allerdings blieb er immer Romantiker, aber Willkür und Fahrigkeit sind ja stehende Attribute der Romantik. Ein geistreicher, unterrichteter und redefertiger Mann, liebte er es, seine Persönlichkeit zur vollen Geltung zu bringen und seinen Witz leuchten zu lassen. Heute war Ludwig der Heilige sein Vorbild, morgen der Alte Fritz. Im Grunde wohlwollend, konnte er sich vom Jähzorn zu den verletzendsten Ausbrüchen fortreißen lassen. Alle diese Gegensätze und Widersprüche im Wesen und Gebaren des Königs mußten die Verwunderung, den Tadel und auch den Spott seiner Hausgenossen herausfordern. Das Unstete, Gegensätzliche und Widerspruchsvolle dieser Persönlichkeit und dieses Regiments fand einen kennzeichnenden Ausdruck schon in der Art und Weise, wie der König seine intime Gesellschaft zusammensetzte. Zwischen Päpstlinge wie Radowitz, Schleiermachersche Christen wie Bunsen, Pietisten wie Thiele und Gerlach war der Atheist Humboldt hineingesprenkelt, der den Tag über in Sanssouci den beflissenen Höfling und abends beim Diplomaten Varnhagen den verbissenen Demokraten spielte und da über dieselben Leute höhnte und schimpfte, vor denen er etliche Stunden zuvor untertänigst gedienert hatte – ein widerwärtigstes Bild aus der an solchen Bildern nur allzu reichen deutschen Gelehrtengeschichte.
Wir besitzen, beiläufig bemerkt, aus dem Munde von Bismarck eine Schilderung, welche die Hergänge in den »intimen Zirkeln« Friedrich Wilhelms IV. hochergötzlich illustriert Busch, Graf Bismarck und seine Leute (1878), II, 79-80.. Sie könnte im Molière stehen und macht wie dem Humor so auch der Unbefangenheit des Eisernen Kanzlers alle Ehre. Am Abend des 4. Dezember 1870 erzählte er im Hause der Frau Jessé in der Rue de Provence zu Versailles seinen Tischgenossen, wie Humboldt die Insassen der »intimen Zirkel« in Schlaf geschwatzt habe – (»Gerlach, so schnarchen Sie doch nicht!« warf der König in den unendlichen Humboldtschen Redestrom hinein). Einmal sei einer dagewesen, der dem berühmten Gelehrten an Lunge und Zunge »über« war – also ein wahres Phänomen von Unerschrockenheit. Dreimal suchte Humboldt mit seinem »Auf dem Gipfel des Popokatepetl« – dem Wortführer in die Rede zu fallen, aber vergeblich. »Das war unerhörter Frevel! Wütend setzte Humboldt sich nieder und versank in Betrachtungen über die Undankbarkeit der Menschheit, auch am Hofe.« Spuren dieser Wut, sehr deutliche, zeigen die Briefe Humboldts an Varnhagen, sowie die »Tagebücher« des letzteren, welches zehnbändedicke Monument verletzter Eitelkeit bei urteilsfähigen und außerhalb der Parteiborniertheit stehenden Menschen die Vorstellung von einem Mops erwecken mußte, der, zu vorsichtig-feig zum Beißen, sich mit dem Gedanken kitzelte, nach seinem Ableben boshaft-mutig aus dem Grabe herausbellen zu wollen.
Jahr für Jahr sank die Regierung Friedrich Wilhelms IV. aus der Region romantisch-genialer Velleitäten mehr und schwerfälliger in die der ordinär-polizeistaatlichen Rückwärtserei hinab. Mitunter raffte sich aber doch der König wieder auf. Die große Teilnahme, die die schleswig-holsteinische Sache überall in Deutschland gefunden, ließ auch ihn nicht unberührt. Er tat sich ja bekanntlich bei jeder gegebenen oder gemachten Gelegenheit auf sein »Deutschtum« viel zu gut. Schade nur, daß von dieser Sorte Deutschtum die ungeheure Mehrzahl der politisch zurechnungsfähigen Deutschen nichts wissen wollte. Eine Verständigung zwischen der Anschauungs- und Empfindungsweise des Königs, welche zwischen Absolutismus und Feudalismus hin und her irrte, und dem Liberalismus, der nun einmal die öffentliche Meinung beherrschte, war nicht denkbar, außer etwa für Kathedermänner, deren »kindlich Gemüt« bekanntlich findet, »was kein Verstand der Verständigen sieht«.
Indessen warf das in Frankreich und anderwärts in Europa sich ansammelnde Hochgewitter doch allzu drohende Wolkenschatten vor sich her, als daß man in Berlin derselben hätte nicht achten können. Gebieterisch machte das Gefühl sich geltend, daß der Deutsche Bund, so wie er war, einen kräftigen Stoß von außen nicht ab- und auszuhalten vermöchte. Man ging daher daran, gemeinsam mit dem Wiener Kabinett schüchtern und zaudernd zu versuchen, ob sich das wurmstichige Ding von Bundesverfassung, insbesondere auf der militärischen Seite, ein bißchen ausflicken und auflackieren ließe. Der Februarsturm von 1848, diesseits des Rheins rasch zum Märzsturm geworden, warf dieses Reform-Kartenhaus und andere über den Haufen, und das sogenannte »tolle« Jahr hob an.
Es ist hinlänglich bekannt oder könnte es wenigstens sein, wie kleine Menschen jene große Zeit vorfand, und ich werde mich wohl hüten, lange bei allen diesen Kleinheiten zu verweilen. Es ist genug, daß ich vordem in zwei ziemlich starken Bänden die Geschichte des »tollen« Jahres zwar nicht » sine studio« (ohne Eifer), aber doch » sine ira« (ohne Zorn) geschrieben habe 1848. Ein weltgeschichtliches Drama. Zweite vermehrte Auflage 1875.. Daher sag' ich hier nur: das Jahr 1848 war die Tragikomödie der Mittelmäßigkeit. Im einzelnen viel Aufwand von gutem Willen, von Enthusiasmus, von Geist sogar, jawohl, aber im ganzen alles mittelmäßig – Völker und Parlamente, Regierungen und Oppositionen, Vorschrittler und Rückwärtser, alles, alles. Eine mittelmäßigere Gesellschaft, als die Herren »Märzminister« waren, läßt sich kaum denken. In der Paulskirche redeten oder schwiegen 118 Professoren, also hundert und etzliche zuviel. Etwas Grotesk-Närrischeres als die Zusammenstückelung der Grundrechte durch die parlamentarischen Haruspices und Auguren ist weder beim Rabelais noch beim Swift zu finden. Der deutsche Liberalismus kam überhaupt damals als ins Quadrat erhobene Impotenz zum Vorschein. Diese doktrinärische Stirnverbretterung! Diese Ideenarmut, welche nichts anderes zu fassen und zu wollen wußte als den parlamentarischen Humbug, den die englische Oligarchie von alters her treibt. Vergebens warf man den Herren ein, in Deutschland wäre ja zu einer solchen Oligarchie gar kein Material vorhanden. Sie hatten sich einmal ihren Mumbo-Jumbo von Konstitutionalismus zurechtgemacht und tanzten seelenvergnügt um diesen alleinseligmachenden Bovist herum. Der Radikalismus seinerseits suchte die Bewegung auf den Boden der Revolution binüberzuputschen. Mit welchem kläglichen Mißerfolg, weiß jedermann. Auch das braucht nicht ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß die grausame Rache, welche die siegreiche Reaktion überall an den besiegten sogenannten Revolutionären übte, ein unaustilgbares Brandmal deutscher Geschichte bleibt. Anderseits muß einen etwas wie Scham anwandeln, wenn man daran zurückdenkt, daß es eine Zeit gegeben, wo für eine Weile ein so guter Mensch und so schlechter Musikant, wie Friedrich Hecker war, das Idol von etlichen hunderttausend Deutschen gewesen ist. Ich meinesteils gehörte nie, nicht fünf Minuten lang, zu den »Heckerlingen«, sondern hielt den mittelmäßig beanlagten und sehr dürftig unterrichteten Mann nur für das, was er war, d. h. für das verwirklichte Ideal von einem Korpsburschen-Konsenior, und deshalb bin ich berechtigt, ihm nachzusagen, daß er von einem antiken Volkshelden nichts hatte als den Bart und von einem modernen Freischarengeneral nichts als den Schlapphut mit der roten Feder.
Bei diesem Anlaß muß ich aber meinem Bedauern Ausdruck geben, daß Biedermann (I, 273) nicht verschmäht hat, die ebenso alberne als gehässige Parteilüge, der General Friedrich von Gagern wäre am 20. April 1848 im Treffen auf der Scheideck Ich habe in meinem »1848« (II, 74-86) eine auf genauester Prüfung der beiderseitigen Zeugnisse beruhende Schilderung der Geschehnisse auf der Scheideck gegeben. Jeder gerecht fühlende Urteiler wird die Wahrhaftigkeit dieser Schilderung anerkennen müssen. bei Kandern oder eigentlich vor dem Treffen durch die Freischärler (oder gar durch Hecker selbst) meuchlings erschossen worden, zwar nicht so bestimmt zu wiederholen, aber doch mittelbar und andeutungsweise. Er sagt schließlich: »Fest steht so viel, daß die Kugeln abgefeuert worden, ehe der regelrechte Kampf begonnen hatte, also jedenfalls wider Kriegsgebrauch.« Das ist nicht wahr! Nicht vor dem Treffen, nicht bevor der General, von seiner Unterredung mit Becker zurückgekommen, wieder sein Pferd bestiegen hatte, sondern nachdem er es bestiegen und nach begonnenem, auf seinen bestimmten Befehl und unter seiner unmittelbaren Führung begonnenem Treffen ist Gagern getroffen worden, der allerdings ein besseres Los verdient hätte, als in so einer Putscherei umzukommen. Die Parteilüge von der meuchlerischen Tötung des Generals ist schon am 20. Oktober 1849 an einem Orte, wo, und durch einen Mann, für den es sich um Leben und Tod handelte, so siegreich vernichtet worden, daß man glauben sollte, sie hätte nie wieder vorgebracht werden können. Der Mann war der ehrliche Hannes Mögling, der auf der Scheideck mit dabeigewesen, dann im folgenden Jahre bei Waghäusel zum Krüppel geschossen und am genannten Tage zu Mannheim vor das preußische Standgericht geschleppt wurde. In seiner Vernehmung nach den Hergängen im Treffen bei Kandern gefragt, machte seine Darstellung so ganz den Eindruck der Wahrhaftigkeit, daß der Vorsitzer des Kriegsgerichts, der preußische Major Baszkow, sich gedrungen fühlte, zu erklären, Mögling »solle versichert sein, das ganze Standgericht sei von der Wahrheit aller seiner Äußerungen so überzeugt, daß es die bereit gehaltenen Zeugen gar nicht vorrufen würde, wenn dies nicht der Form wegen nötig wäre«. Dieser preußische Soldat hatte fürwahr ein ganz anderes Gefühl für Wahrheit als alle jene »liberalen« Jämmerlinge, welche nach der Katastrophe von 1849 nicht müde werden konnten, die in den Tod, in die Kerker und ins Exil getriebenen Parteigänger der » causa victa« mit Schadenfreudebezeigungen, mit Verleumdungen und Beschimpfungen zu verfolgen, auf daß die menschliche Niedertracht wieder einmal recht niederträchtig zum Vorschein käme.
Die letzten Akte der Tragikomödie von 1848, welche überall mit kleinen Mitteln große Zwecke erreichen zu können gewähnt hatte, bildeten der Frankfurter September, der Wiener Oktober und der Berliner November. Das Finale spielte dann der Pariser Dezember. Die Herren Reichsprofessoren und sonstige »Staatsmänner« arbeiteten inzwischen im Sankt Paul unverdrossen weiter an der Verfertigung der preußisch-deutschen Kaiserkrone. Ja, wenn das Ding im April 1848 oder noch im Mai oder Juni schon fertig gewesen und nach Potsdam gebracht worden wäre! Damals wäre es wohl schwerlich zurückgewiesen worden, auch wenn der Uhlandsche »Tropfen demokratischen Salböls« daran geschimmert hätte. Im April 1849 stand es anders, sehr anders. Schon am 13. Dezember 1848 hatte Friedrich Wilhelm IV. an Bunsen, der ihm sieben Tage zuvor die Annahme der im Sankt Paul in der Mache begriffenen Kaiserkrone angeraten hatte, also geschrieben: »Die Krone, welche die Ottonen, die Hohenstaufen, die Habsburger getragen, kann natürlich ein Hohenzollern tragen, sie ehrt ihn überschwenglich mit tausendjährigem Glanze. Die aber, die Sie leider meinen, verunehrt überschwenglich mit ihrem Ludergeruch der Revolution von 1848, der albernsten, dümmsten, schlechtesten, wenn auch, gottlob! nicht bösesten des Jahrhunderts. Einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Letten gebacken, soll ein legitimer König von Gottes Gnaden und nun gar der König von Preußen sich geben lassen? Ich sage es Ihnen rund heraus: Soll die tausendjährige Krone deutscher Nation wieder einmal vergeben werden, so bin ich es und meinesgleichen, die sie vergeben werden. Und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zukommt Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, herausgegeben von L. v. Ranke S. 233 fg..« Die Kaisermacher der Paulskirche haben von dem Inhalt dieses Briefes zweifelsohne Kenntnis gehabt, denn Bunsen unterhandelte ja mit ihnen Anfang Februar 1849 in Frankfurt. Dennoch trugen sie den »imaginären, aus Dreck und Letten gebackenen Reif« am 3. April ins Berliner Schloß und holten sich dort die bekannte königliche Ohrfeige in Worten. Sogar die Lakaien im Schlosse – ich meine die Lakaien im lakaienhaftesten Sinne des Wortes – waren unverschämt gegen die Abgeordneten des Parlaments, wie Biedermann (I, 407), welcher doch sonst den Tenor der Ohrfeige sehr herabmindert, zu gestehen nicht umhin kann.
Was dann noch in Sachsen, in der Pfalz und in Baden geschah, bewies zweierlei: Erstens, daß die Deutschen zum Revolutionmachen keinen Schick hatten, und zweitens, daß in Preußen dazumal Heer und Volk durchaus monarchisch gesinnt und nicht nationaldeutsch, sondern partikularpreußisch gestimmt waren. Ein Drittes, daß nämlich sogenannte »Volksheere« gegen organisierte und disziplinierte Armeen nicht aufzukommen vermöchten, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Nur Altbürgern von Nubikukulien war und ist es ja gestattet, hierfür noch einen Beweis zu verlangen. Das Fazit der zwei verworrenen Bewegungsjahre aber war: Die im März 1848 so prächtig schillernd aufgeschwebte riesige Seifenblase von der Mündigkeit und Selbstherrlichkeit der Völker ist geplatzt. Die Tragikomödie der Mittelmäßigkeit schloß dann mit dem Triumph superlativischer Mittelmäßigkeit, denn das » Quos ego!« des Zaren Nikolaus, das über Europa hinscholl, fand demütige Nachachtung.
Nun kam die traurige Zeit, wo »der Starke mutig zurückwich« – von Erfurt bis Warschau, von Bronnzell bis Olmütz, die Zeit der Exhumierung der Bundestagsmumie und der pseudobonaparteschen »Gesellschaftsrettung«, die Zeit der Schwarzenberg, Manteuffel, Beust, die Zeit der Landrätekammern und Waldheimer Zuchthäuslereien, die Zeit der Dogmenfabrikation, Konkordate, Enzykliken und Syllabusse, item auch die Zeit des größenwahnsinnigen Materialismus, der Gründerei und Schinderei, des schamlosesten Schwindels, des frechsten Millionendiebstahls, der gierigen Raffsucht und der wilden Vergeudungslust. In dieser von den giftigsten Miasmen erfüllten Atmosphäre konnten und mußten sogar die von einem Pseudobonaparte angezettelten Kriegsmachenschaften von 1854 und 1859 für reinigende und erfrischende Gewitter gelten.
Die auf Deutschland lastende tiefe Nacht begann einer leisen Dämmerung erst dann wieder zu weichen, als mit dem Jahre 1861 in Preußen an die Stelle Friedrich Wilhelms IV. Wilhelm I. trat. Zwar hatte die »neue Ara« nicht eben viel zu bedeuten, solange die innere und die äußere Politik des Berliner Kabinetts von halb- oder viertelsliberalen Schwenkfeldern geleitet wurde, welche, eben als solche:
»Auf halben Wegen und zu halbem Ziel
Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben« –
gewohnt und willig waren. Der Geist dieses Liberalismus war nur sehr mäßig stark, das Fleisch aber ganz schwach. So ungefähr auch bei dem 1859 gestifteten »Nationalverein«, der den Phrasenfaden da wieder aufnahm, wo die Kaisermacher ihn im Frühjahr 1849 hatten fallen lassen.
Damals hatte die Revolution von unten sich für bankerott erklären müssen, obwohl sie zum Geschäftemachen doch eigentlich gar nicht gekommen war. 1862, nach Beseitigung des halb- oder viertelsliberalen Schwindels, d. h. nach der Gelangung Bismarcks ans preußische Staatsruder, hob die Revolution von oben an und zeigte der Welt, wie man es machen müsse, um etwas machen zu können. Mit den »halben Wegen«, den »halben Mitteln« und den »halben Zielen« war es jetzt vorbei, und es gab in Deutschland endlich einmal wieder, nach vielen Jahrhunderten endlich einmal wieder eine Politik aus dem Ganzen und Vollen.
Das von Goethe befürwortete Wandeln »auf den Wegen ruhiger Bildung« ist ja recht hübsch und idyllisch, paßt auch für Minister von Miniaturstaaten wie angemessen. Aber die Weltgeschichte ist kein Idyll. Ihre großen Haupt- und Staatsaktionen sind niemals und nirgends fein friedlich und säuberlich in Szene gegangen, sondern gewaltsam und unsauber, unter Blitzen, Donnern und Wolkenbrüchen, begleitet von Feuersbrünsten und Wassersnöten. Eine von den Gesichtspunkten eines Weimarer Geheimrats aus geleitete Politik hätte sicherlich nie ein neues Deutsches Reich zuwege gebracht. Nur große Mittel führen zu großen Zielen, » Quod medicamenta non sanant, ferrum sanat, quod ferrum non sanat, ignis sanat« oder, wie Bismarck am 30. September 1862 in jener denkwürdigen Sitzung der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses sagte: »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut.«
Daß er sich, indem er sich anschickte, seine »große Frage«, die deutsche Frage, zur Entscheidung zu treiben, durch sprechende Verfassungsparagraphen und rednernde Parlamentarier nicht aufhalten ließ, sondern mit beiden Füßen in den »Konflikt« mit besagten Paragraphen und Rednern hineinsprang, wird ihm heute wohl niemand mehr verübeln, ausgenommen etwa verbissene Partikularisten, denen der Kantönlizopf hinten hängt, und die dem Bismarck die Schaffung des neuen Deutschen Reiches nicht verzeihen können, weil sie auf den Palaver-Bühnen von Flachsenfingen, Krähwinkel und Kuhschnappel die großen Männer spielen und die parlamentarischen Helden agieren konnten, während auf der großen Reichsbühne ihre Kleinheit und Gewöhnlichkeit zum Vorschein kommen mußte und gekommen ist, »zum erspiegelnden Exempel«, mit Kaiser Joseph II. zu sprechen. Solche aus der selbstgefälligen Eitelkeit ihres krähwinkligen Großbewußtseins aufgeschreckten Schwätzer von Partikularisten sind dann auch im Jahre 1870 dumm und schamlos genug gewesen, mit der schwarzen, der roten und der gelben Internationale gegen ihr Vaterland und für Frankreich gemeinsame Sache zu machen, von »Neutralität« und dergleichen Narreteien mehr faselnd, bis ihres Nichts durchbohrendes Gefühl durch das Gemurr aller anständigen Leute in ihnen wachgerufen wurde. In ihrer Erbosung haben sie dann die Spalten deutschfeindlicher Zeitungen in Wien, in Frankfurt, in der Schweiz und in England mit ihren die Deutschen lästernden und die Franzosen beschmeichelnden Schmieralien gefüllt, und etliche sind auch richtig später für solche Gesinnungstüchtigkeit mit französischen usw. Ehrenerweisungen stigmatisiert worden, wie nur recht und billig. Die Gerechtigkeit verlangt, daß ich dem Gesagten die Bemerkung anfüge: Kein Franzose, gehörte er zu welcher Partei er wollte, hätte zu solchem affenschändlichen Parademachen mit der Vaterlandslosigkeit sich erniedrigt. Das konnten nur »kosmopolitische« deutsche Dämeler und Duseler, falls man nicht vorzieht, sie gemeine Spekulanten zu nennen, was ja in betreff von diesem oder jenem wohl angebracht sein dürfte.
Es ist nach den Enthüllungen, die uns die letzten Jahre gebracht, doch nicht so ganz richtig, wie Biedermann (II, 317ff.) annimmt, daß die liberale Opposition von dem, was Bismarck wollte, gar keine Ahnung gehabt hätte. Aber sie kannte ihn nicht. Sie kannte ihn nur als den »Junker« von 1847-1849 und wollte ihn nur als solchen kennen. Ihm konnte das im Grunde auch ganz recht sein: wußte er doch, daß er, was er wollte, ohne und wider die Liberalen viel besser würde durchsetzen können als mit ihnen. Er mochte denken: Ist erst einmal das große Werkzeug zur Ausführung großer Pläne da, d. h. die reorganisierte, verstärkte und wohlgerüstete Armee, und hat das Werkzeug erst einmal Großes vollbracht, so werden die Herren Liberalen schon mit sich reden lassen. Und siehe, sie haben dann auch, wie bekannt, mit sich reden lassen, so lange und so schmiegsam mit sich reden lassen, bis aus alle dem Mitsichredenlassen unversehens ein Andiewandgedrücktsein geworden war.
Der Minister verhehlte sich übrigens bei allem seinem Genie und Mut, bei aller seiner Willenskraft und Tatenlust die Größe seines Wagnisses keineswegs. Es war ihm vollbewußt, daß er ein Spiel spielte, dessen Einsatz unter Umständen sein Kopf sein könnte. Er hatte wohl auch Stunden tiefer Entmutigung, und wenn man bedenkt, was er seinen Nerven jahrelang zumuten mußte und zugemutet hat, so erscheint es fast wunderbar, daß sie so lange ausgehalten haben. Das große Bismarckglück, ohne welches doch alle Genialität, Tapferkeit und diplomatische Meisterschaft des Mannes nichts ausgerichtet hätten, war, daß auf dem preußischen Thron ein Mann saß, welcher seinen Minister verstand und hielt, ihn hielt allen offenen und geheimen Gegenstrebungen und Machenschaften, allen widerbismarckischen Ränken und Schwänken zum Trotz.
Die mit so großem Spektakel inszenierte und so kläglich ausgegangene »Windbeutelei« Bismarck am 12. August 1863 aus Gastein an seine Frau. des deutschen Fürstentages vom August 1863 konnte den preußischen Staatsmann nur ermutigen, seinerseits jetzt die Revolution von oben kühn und unverweilt in Szene gehen zu machen. Denn jenes prunkvolle, aber hohle Frankfurter Spektakelstück hatte ja allen Augen, die überhaupt zu sehen vermochten, deutlich gezeigt, daß ohne Preußen aus Deutschland nichts zu machen wäre. Selbst den besten Willen der sämtlichen übrigen deutschen Fürsten vorausgesetzt, nichts zu machen wäre, schlechterdings nichts, und folglich, daß nur Preußen etwas aus Deutschland machen könnte. Wer nicht imstande war, aus jener Prämisse diese Konsequenz zu ziehen, hatte alle Berechtigung verwirkt, in politischen Dingen überhaupt noch mitzureden. Wenn aller gute Wille und alle Macht des Kaisers Franz Joseph und der deutschen Mittel- und Kleinfürsten nicht ausgereicht hatten, auch nur eine »Tat in Worten« zu tun, geschweige eine Tat in Werken, was war dann noch von Kammerreden und Vereinsresolutionen zu erwarten? Windbeutelei, sonst nichts.
Das große Umwälzungs- und Neuschaffungsspiel, die deutsche Revolution von oben hob an und rollte sich, wie die Welt weiß, »mit Eisen und Blut« in drei großen Aufzügen ab: 1864, 1866, 1870-71. Die Peripetie spielte am 18. Januar 1871 in der »Galerie des Glaces« im Königsschlosse zu Versailles, das Finale am 1. März in der Sitzung der französischen Nationalversammlung zu Bordeaux, den Epilog sprach am 21. März im weißen Saale des Berliner Schlosses der Kaiser Wilhelm in Form seiner ersten an den deutschen Reichstag gerichteten Thronrede.
Angesichts eines so großartigen Spieles tut es nicht gut, von den allerhand kleinen und kleinlichen Nachspielen desselben zu sprechen. Solche Nachspiele mußten kommen, wie nach der Flut die Ebbe kommt. Der ungeheuren Nerven- und Muskelspannung von 1870 bis 1871 mußte naturnotwendig die Abspannung folgen, der Begeisterung die Ernüchterung. Dem Apostel Paulus zufolge »ist unser Wissen Stückwerk«. Unser Wollen aber gewiß noch mehr und unser Vollbringen am allermeisten. Sicherlich ist von 1864 bis 1871 ein gewaltiger Vorwärtsruck zur Einheit, Macht und Größe Deutschlands geschehen. Aber ebenso sicher ist, daß das »Deutsche Reich« noch immer ein unfertig Ding. Wird es vollendet werden? Wann? Wie? Womit? Die Zukunft wird Antwort geben. Wir aber wissen nur, daß die Gegenwart nichts ist und nichts sein kann als ein Übergangsstadium. Nach vorwärts oder nach rückwärts? Aufwärts oder abwärts? Zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar hat Wolfgang der Große zum voraus darauf geantwortet:
»Auf des Glückes großer Waage
Steht die Zunge selten ein;
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.«
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