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Eine Mutter Gottes

Die ganze große sogenannte Weltgeschichte ist aus
lauter kleinen Spitzbübereien zusammengestoppelt.

Zacharias Zinnober.
De historiae constructione tractatus«, § 777.)

1.

Man darf bekanntlich Menschen und Dinge nicht allzu genau ansehen, wenn man seine Illusionen behalten und nicht widerwärtig enttäuscht werden will. Selbst die rosigste Mädchenwange, selbst der frischeste Frauenteint verträgt keine Betrachtung durch die Lupe. Goldig und purpurn leuchtet die Alpenfirne ins Tal hinab: steige zu ihr empor, und du findest wüstes Geröll, bestaubtes Eis und schmutzigen Schnee. »Nur die Fernen stehn verklärt«, hat ein verschollener Poet sehr richtig bemerkt.

Die Zeit webt um geschichtliche Gestalten her einen Nebelschleier, der wie ein Nimbus schimmert, wenn das falsche Licht liebedienerischer Pseudo-Historik darauf fällt. Aber Weltrichterin Historia tut nur ihre Schuldigkeit, wenn sie diesen Nimbus zerstört und jenen Nebelschleier wegwischt. Wie klein, wie erbärmlich klein erscheinen dann gar viele der »Großen«, die im Buche der Geschichte verzeichnet sind! Wie mancher Held verhäßlicht sich zum Halunken, wie mancher Heiland wird zum Scharlatan, wie manche Heroine sinkt ab zur Hetäre! Der Historiker ist ein geschworener Illusionenzerstörer, er handhabt die Lupe, jagt den Friseur Mythus, die Schminkerin Legende und die Kleiderkünstlerin Sage von dannen, zerrt die weltgeschichtlichen Schauspieler und Schauspielerinnen aus der trügerischen Beleuchtung hergebrachter Fabeln ans helle Tageslicht hervor und zeigt sie in ihrer erbarmungswerten Blöße.

Chateaubriand hat im Jahre 1807 im »Mercure de France« einen Artikel über den römischen Cäsarismus veröffentlicht, weitaus das Kühnste und Schönste, was er überhaupt geschrieben. Durch den Nero hindurch traf seine brandmarkende Feder den Bonaparte, und mit beredsamen Worten führte er den Geschichtsschreibern zu Gemüte, was den Frevlern an der Menschheit gegenüber ihre Pflicht sei. Sie sollten tun, wie die »ersten Christen in Ägypten taten, welche mit Lebensgefahr in die Heidentempel eindrangen und in dem Dunkel des innersten Heiligtums eine Gottheit ergriffen, vor welcher der Betrug die Furcht Weihrauch verbrennen ließ und die sich, ans Sonnenlicht hervorgezerrt, als irgendein abscheuliches Ungeheuer herausstellte«. Von einer solchen Zumutung wollen freilich die Herren von der sogenannten historischen »Objektivität« nichts hören. Diese Herren, denen das ethische Moment der Geschichte unbequem ist, verwerfen es kurzweg. Weit entfernt, die Götzen als Ungeheuer aufzuzeigen, machen sie umgekehrt die Ungeheuer zu Götzen. Ihre Schönfärberei ist gerade wie der altägyptische Bestienkult. Monsieur Thiers z. B., der unwissende und gewissenlose Vergötterer Bonapartes, verdiente vollauf, Oberpriester im Krokodiltempel am See Möris gewesen zu sein.

Wenn man gesagt und geglaubt hat, die Geschichte sei poetischer als der Roman, so ist das nur eine jener Scheidemünzen, die einer dem andern auf Treu und Glauben überliefert, ohne ihren Gehalt zu prüfen. Prüft man den Gehalt dieser Scheidemünze, so muß sie sich sofort als falsch erweisen. Der Roman, als ästhetische Gattung, hat die Aufgabe, das schöne Scheinen darzustellen, die Geschichte dagegen hat die Pflicht, das wahre Sein zur Anschauung zu bringen. Sie ist die Protokollführerin des wirklichen Prozesses der sozialen Entwicklung, eines Prozesses, der nichts weniger als schön ist. Er ist sogar entschieden häßlich, so häßlich, daß Menschen, die ihm ein ernstes und anhaltendes Studium gewidmet haben, nie mehr recht fröhlich sein können. Das Prozeßprotokoll kann, wenn es ein echtes und getreues ist, unmöglich schön und demnach auch nicht poetisch sein. Daraus erklärt es sich, daß die ungeheure Mehrheit auch der sogenannten gebildeten Frauen den schlechtest geschriebenen Roman dem bestgeschriebenen Geschichtswerk vorzieht. Die Weiber müssen Illusionen haben oder zu leben aufhören. Jede völlig enttäuschte Frau wird zur Selbstmörderin, häufig, ohne sich dessen bewußt zu sein. Die Frauen vertragen die Wahrheit nicht. Sie geht – schrecklich zu sagen! – splitternackt. Die Weiber schämen sich ihrer, für sie. Nein, fürwahr, das Buch der Geschichte ist nicht für die Frauen geschrieben. Die arme Klio paßt nicht in ihre Gesellschaft, es wäre denn, sie hätte sich vorher durch einen beliebigen Hofhistoriographen frisieren, anmalen, verkleiden und überhaupt »präsentabel« machen lassen. Diese hofhistoriographisch ausgebeinte, entsaftete und lakaiisierte Geschichte verhält sich dann zur wirklichen etwa so, wie sich ein Leopold von Ranke zu einem Cornelius Tacitus verhält oder ein Auerbachscher Dorfnovellenbauer zu einem wirklichen Bauer.

Man spricht von dem majestätisch einherflutenden Strom der Weltgeschichte, und nicht ohne Grund. Aus einer gewissen Entfernung angesehen, ist dieses Stromgeflut großartig und majestätisch genug. Leider ist der Historiker verpflichtet, den Strom nicht nur aus nächster Nähe zu betrachten, sondern auch den verschiedenen Zuflüssen desselben nachzugehen, deren Ursprünge zu erforschen und endlich das Wasser jedes einzelnen zu analysieren. Ein mühseliges Geschäft und nicht sehr reinlich. Welch ein Schmutz, wie viele Giftstoffe, was für Stick- und Stinkgase kommen dabei zum Vorschein!

Gibt es eine erschütterndere weltgeschichtliche Tragödie als die Französische Revolution? Schwerlich. Aber den großen Eindruck gewinnt und behält nur, wer sich bescheidet, das erhabene Revolutionstrauerspiel vom Parterre oder von den Logen aus anzusehen. Wehe dagegen dem, den Neugier oder Beruf hinter die Kulissen, in die Ankleidezimmer und Maschinenräume führen. Denn seine dort gewonnenen Anschauungen müssen ihm die erhabene Tragödie in eine aus Kot und Mut zusammengepappte Posse verwandeln. Statt des Donnerschritts der Nemesis vernimmt er den Katzentritt der schleichenden Intrige, statt der heroischen Verse Melpomenes die zotigen Späße des Harlekin, aber eines Harlekin, dessen in Blut getauchte Hände nicht die Pritsche, sondern eine Mordkeule führen. Nur hinter den Kulissen und in den Ankleidezimmern des Weltgeschichtstheaters kann man erfahren, wie sehr die menschlichen Torheiten und Begierden, die persönlichen Bedürfnisse, Besorgnisse, Leidenschaften, Gemeinheiten und Bosheiten Mitwirken »am sausenden Webstuhl der Zeit«, auf welchem freilich nicht »das Kleid der Gottheit«, sondern vielmehr der Mantel des Teufels gewoben wird.

Kommt mit hinter die Kulissen! Wir wollen uns von dorther eine Episode des Revolutionsdramas ansehen, nicht wie sie, vom Zuschauerraum aus gesehen, sich abspielte und ausnahm, sondern wie sie in Szene gesetzt wurde.

2.

Obwohl man die Sache längst besser wissen könnte und sollte, ist es doch heute noch gang und gäbe, zu glauben, sowie in Kompendien und in Schulen zu lehren, der Sturz Robespierres durch die sogenannten Thermidorier im Sommer 1794 sei eine Wirkung der naturnotwendigen Reaktion der Menschlichkeit gegen die Aktion des Terrorismus gewesen. Ganz abgesehen davon, daß die thermidorische »Menschlichkeit« eine Fabel, weil ja die vom Royalismus und von der Bonzenschaft ausgebeutete thermidorische Reaktion an die Stelle des »roten« Schreckens nur den viel mörderischeren »weißen« setzte Siehe die Beweise dafür in meinem Essay »Für Thron und Altar« (unten S. 180 ff.). – hätte den Glauben an den erwähnten Irrtum schon die Tatsache erschüttern sollen, daß der »Anakreon der Guillotine«, Barère, das Komplott gegen Robespierre einfädelte, daß der Haupttreiber Tallien gewesen ist, der Septembriseur von 1792, der Wüterich in Bordeaux von 1793, und daß in der Vorderreihe der Angreifer und Stürzer des »Unbestechlichen« ärgste Blutmenschen wie Collot, Billaud, Voulland, Badier und Carrier standen.

Die Wahrheit ist: nicht eine »Verschwörung des Erbarmens«, wie man gelogen, sondern eine Verschwörung der abgefeimtesten Schufte und verhärtetsten Schurken hat den 9. Thermidor gemacht. Sie konnten ihn machen, weil die selbstbestimmungslose und feige Mehrheit des Konvents ihnen zufiel, wie solche parlamentarischen Mehrheiten allzeit dorthin zu fallen pflegen, wo augenblicklich eine imponierende Kraftentwicklung zu finden ist.

Robespierre war ein Fanatiker, ein echter und rechter Fanatiker und folglich ebenso ehrlich und unbestechlich wie maßlos eitel. Er ist bis in seine innerste Seelenfalte hinein überzeugt gewesen, daß Gott – er glaubte bekanntlich ebenso fest an einen persönlichen Gott wie sein Orakel Rousseau – ihn eigens geschaffen hätte, damit er seinen geliebten »Contrat social« aus dem Philosophischen ins Wirkliche übersetze. Um das zu können, strebte er nach der Diktatur. Um zu dieser zu gelangen, säuberte er weg, was er von Hindernissen auf seinem Wege fand, so die Déesse-de-la-raison-Spektakeler, so auch Danton und die Dantonisten. Er bediente sich der Guillotine als eines Kehrbesens und, wie allen Fanatikern, so heiligte auch ihm der Zweck die Mittel. Es lag ein ausgeprägt pfäffischer Zug in seinem Wesen. Im Mittelalter geboren, wäre er ein Sankt Dominikus, ein Torquemada geworden. Daher schmeckt man auch aus seinen Reden so deutlich die priesterliche Salbung heraus.

Wenn aber das Pfäffische in ihm dem Manne gar viele Feinde machte, wenn girondistische Voltairiens und terroristische Atheisten an dem » prêtre« (Priester) Robespierre gleichzeitig ihren beißenden Spott ausließen, so war es gerade das salbungsvoll Sententiöse seiner Redeweise, das, verbunden mit der Sauberkeit seiner persönlichen Erscheinung, der reinlichen Ärmlichkeit seines Haushalts und der sittlichen Strenge seines Wandels, ihm die begeisterte Verehrung der Frauen zuwandte. Es klingt seltsam, unterliegt aber keinem Zweifel, daß der Mann, den man für den Hauptträger des vom Herbste 1792 bis zum Sommer 1794 herrschenden Schreckenssystems anzusehen gewohnt ist, nicht im frivolen, sondern im religiös-ernsthaften Sinne der Abgott der Frauen gewesen ist. Hierauf beruhte wesentlich das Geheimnis seiner Volkstümlichkeit, die noch im Prairial (Juni) von 1794 eine unermeßliche war, eine so unermeßliche, daß einer seiner Verderber, Billaud-Varenne, nur der Wahrheit Zeugnis gab, wenn er sich kurz nach dem 9. Thermidor das Wort entwischen ließ: »Aufrichtig gesprochen, hätten wir Robespierre früher angegriffen, so würde das in den Augen der öffentlichen Meinung gleichbedeutend gewesen sein mit einem Angriff auf das Vaterland.« Natürlich hinderte diese Volkstümlichkeit nicht, daß die wankelmütige und feige Menge ihren Heiland Maximilian schmählich im Stiche ließ, sobald sie zu merken glaubte, daß seine Feinde stärker wären als er. Das »dankbare«, »großmütige« Volk hat es ja noch mit allen seinen Heilanden so gehalten.

Die Grundursache von Robespierres Fall war demnach seine Nichtbeachtung der Tatsache, daß Volksgunst nur Flugsand, worauf keine dauerhafte Macht zu begründen ist. Dann wurde der abgeschlagene Kopf Dantons für den »Unbestechlichen« ein Stein des Anstoßes, über den er schon lebensgefährlich stolperte. Die Wegsäuberung Dantons, ein Tagewerk von Saint-Just, dem eigentlichen Doktrinär und Systematiker des Guillotinismus, war ein um so größerer Fehler, als sie ganz überflüssig, da Danton, erschöpft, müde und angeekelt, es gar nicht der Mühe für wert hielt, dem Robespierre die Diktatur ernstlich zu bestreiten. Er hat aber, man darf es ohne Übertreibung sagen, an einem Zipfel seines Leichentuchs den Contrat-Social-Fanatiker sich nachgezogen ins Grab. Denn daß die Robespierreisten diesen Koloß zu fällen vermocht hatten, erfüllte selbst hartgesottene Sansculotten mit Grauen und machte alle, deren schlechtes Gewissen den drohend auf sie gehefteten Blick des »gespreizten Tugendapostels« nicht zu ertragen vermochte, zur Unterwühlung einer Macht eifrig und emsig, die das Fallbeil auch über ihrem Nacken schweben ließ.

So bildete sich von langer Hand her ein stillschweigendes Einverständnis gegen Robespierre. Die Fäden der gegen ihn gesponnenen Machenschaften lassen sich weit zurückverfolgen. Das Hohnwort von den »Betschwestern« ( dévotes) Robespierres ist schon im Herbst 1792 aufgebracht worden. Als er sich am 5. November im Konvent gegen den unbesonnenen und leidenschaftlichen Angriff verteidigte, den Louvet im Namen der übelberatenen Gironde am 29. Oktober gegen ihn gerichtet hatte, strotzten die Galerien der Manège von enthusiastischen Verehrerinnen des » homme de la vertu«, welche seinen Worten mit dem Entzücken der Andacht (» avec le transport de la dévotion«, sagt der Augenzeuge Vilate) lauschten und sie mit Beifall überschütteten. »Nach beendigter Sitzung«, erzählt der genannte Zeuge, »traf ich beim Café Debelle mit Rabaud-Saint-Etienne zusammen, welcher ausrief: ›Was für ein Kerl ist dieser Robespierre mit allen seinen Weibern! Das ist ja ein Pfaffe, der Gott werden will!‹ Wir traten dann ins Café Payen und fanden hier Manuel, der zu uns sagte: ›Habt ihr den Robespierre gesehen mit allen seinen Betschwestern?‹ ›Jawohl‹, entgegnete Rabaud; ›morgen muß ein Artikel in die ›Chronik‹, worin er als Pfaffe gemalt werden soll.‹« Diese Malerei hatte Erfolg. Im Frühjahr 1794 war die Liga gegen Robespierre schon ziemlich fest geschlossen, und jeder Tag führte ihr das eine oder das andere neue Mitglied zu. Denn man wußte, daß Robespierre sehr ernstlich damit umging, den Wohlfahrtsausschuß und das Sicherheitskomitee von ihren unreinen Elementen zu säubern. Leute wie Vadier und Voulland, auch Barère, spürten daher im Nacken das unliebsame Vorjucken des Weggesäubertwerdens. Andere ebenfalls. Machten doch die Vertrauten des werdenden Diktators gar kein Geheimnis daraus, daß Bösewichte und Lasterhafte wie Carrier, Fouché, Fréron, Tallien und Barras, welche als Konventskommissare in den Provinzen ihre Gewalt aufs infamste mißbraucht hatten, zur Rechenschaft gezogen, d. h. guillotiniert werden müßten. Die Collot und Billaud waren aber mit den Carrier und Fouché zu wahlverwandt, als daß sie nicht für die blutbefleckten Prokonsuln eingestanden wären. Mit ihnen gingen Hand in Hand viele Insassen der » sainte Montagne«, welche in aller Ehrlichkeit glaubten, die »Diktatur« Robespierres als der Republik gefährlich bekämpfen und, wo nötig, im Blute des Diktators ersticken zu müssen. Manche dieser ehrlichen Gegner, wie z. B. Levasseur, haben übrigens ihre Mitarbeit am Sturze Robespierres bitterlich bereut. Wie hätten sie auch anders gekonnt? Mußten sie doch bald erkennen, daß am 9. Thermidor die Republik – falls nämlich das ungeheuerliche Ding diesen Namen verdiente – tödlich getroffen worden sei. Der glückliche Verbrecher vom 18. Brumaire brauchte später keinen Mord zu begehen, sondern nur eine Tote zu bestatten und ihre Hinterlassenschaft zu stehlen …

Ebenso tückisch wie geschickt wußten die Feinde Robespierres in der angegebenen Richtung auch den Umstand auszubeuten, daß vornehmlich auf sein Betreiben der Konvent die Wiedereinsetzung Gottes und die Wiederherstellung des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele beschlossen hatte. Robespierre mußte unschwer erkennen, daß die in Paris rasenden Orgien des Atheismus der Bevölkerung Frankreichs zu einem ungeheuren Ärgernis gereichten, das geeignet wäre, diese Bevölkerung den Royalisten und Priestern in die Arme zu treiben. Wie konnte er auch übersehen, daß der idealistische Trieb im Menschen unausrottbar und daß dieser Trieb, was die Massen angeht, nur auf religiösem Wege seine Befriedigung suchen und finden kann? Ein bildungsloser Atheist ist nur ein Stück Vieh. Der bekannte Goethesche Satz:

»Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion!«

klingt sehr aristokratisch, enthält aber eine große Wahrheit. Religion – worunter natürlich nicht dieses oder jenes jüdische, christliche oder islamische Dogma, weder das päpstische noch das lutherische Bonzentum verstanden zu werden braucht – Religion war, ist und wird sein der Idealismus des Volkes. Das begriff Robespierre, und diese kulturhistorische Tatsache nahm er zum Thema seiner berühmten Rede vom 18. Floréal (8. Mai) 1794, auf welche hin der Konvent dekretierte: » Le peuple français reconnaît l'existence de l'Être suprême et l'immortalité de l'âme« (Das französische Volk erkennt das Dasein des Höchsten Wesens und die Unsterblichkeit der Seele an).

Das am 20. Prairial (8. Juni) gefeierte »Fest des Höchsten Wesens«, wobei Robespierre als Präsident des Konvents die Festprozession anführte, wurde nach den übereinstimmenden Berichten der Augen- und Ohrenzeugen von der gesamten Bevölkerung von Paris mit einer bis zur Andacht sich steigernden Begeisterung begrüßt und begangen. Sogar die zu allen Zeiten und allenthalben frostige offizielle Festdichterei erwärmte sich an diesem Feuer, wie Chéniers Festhymnus beweist, besonders in seiner Schlußstrophe. Robespierres Gesicht leuchtete an diesem Tage von einem Freudenschimmer, wie man ihn nie zuvor wahrgenommen hatte.

Er sollte diese Freude teuer bezahlen. Denn gerade das Fest am 20. Prairial gab seinen Feinden Veranlassung, die Giftspritze der Verleumdung eifrig spielen zu lassen. Sie taten so, als wüßten sie gar nichts von den politischen und sozialen Motiven, die Robespierre in seiner Rede vom 8. Mai dargelegt und entwickelt hatte; sie bezichtigten ihn ohne weiteres der Pfafferei. »Was«, sagten oder vielmehr zischelten sie, »er glaubt an Gott? Also steckt ein Priester in ihm, der den Aberglauben zu einer Stufe machen will, die ihn zur Diktatur führen soll. Wer anders als ein Pfaffe konnte sich dazu hergeben, an dem Feste des Höchsten Wesens die Präsidentschaft des Konvents zu übernehmen? Und dann das Gefolge von betschwesterlichen Weibern, das er überall hinter sich herzieht! Es ist klar, er ist ein Pfaffe, ein Mystagog, ein Mucker!«

Zum Unglück für Robespierre bot sich den zu seinem Verderben Verschworenen sehr bald eine begierig ergriffene Gelegenheit, diesen Bezichtigungen einen Schein von Wahrheit zu verleihen. Am 8. Juni war das Fest des » Être suprême« gefeiert worden, und schon am 15. Juni las Vadier, einer der Verschwörer, im Konvent seinen Rapport über das »mystische« Komplott, das sich um Katharina Theot, um die »Mutter Gottes« her gegen die Republik gebildet hätte.

3.

Selten wohl hat Parteiperfidie etwas so Dummes aufgestochen wie diese Muttergottesgeschichte, aber selten auch hat sie Dummes so pfiffig zu handhaben gewußt.

Das arme Ding von »Mutter Gottes«, Katharina Theot, war um das Jahr 1716 im Kirchspiel Barenton im jetzigen Departement Manche geboren. Ohne allen Unterricht aufgewachsen, verdiente sie als Dienstmagd ihr Brot. Man weiß nicht, ob der Jesuitismus oder der Kalvinismus sie zur Närrin gemacht hat, oder ob sie aus eigenem Antrieb verrückt wurde. Genug, eine christlich-mythologisch-dogmatische Ratte war ihr unter die Schädeldecke gekrochen und rumorte dort so lange, bis die gute Katharina von der fixen Idee erfaßt und besessen ward, eine einmalige unbefleckte Empfängnis täte es nicht; das Wunder müßte also wiederholt werden und sie selbst wäre »die Jungfrau, welche den kleinen Jesus empfangen sollte, den ein Engel vom Himmel herabbringen würde, um der ganzen Erde den Frieden zu geben ( la vierge qui devait recevoir le petit Jésus, apporté du ciel par un ange pour mettre la paix sur toute la terre)«. Natürlich konnte die »Jungfrau« das Geheimnis ihrer erhabenen Bestimmung unmöglich für sich behalten, und die unausweichliche Folge davon war, daß sie im Jahre 1779 mit der Polizei des Ancien Régime in unangenehme Berührung kam. Was das heißen wollte, kann man ermessen, wenn man bedenkt, daß noch im Jahre 1765 der arme junge De la Barre gerädert worden, weil er an einer Prozession vorbeigegangen war, ohne das Haupt zu entblößen. Dieses Opfer eines grauenhaften Justizmordes hatte einen Rächer gefunden in Voltaire, der ja bekanntlich mehr für die leidende Menschheit getan hat als Millionen von Heiden-, Juden- und Christenpfaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Katharina Theot, wenn die mit Posaunenschallgewalt über Europa hintönende Stimme des Patriarchen von Ferney nicht zuvor für Calas, Sirven und De la Barre sich erhoben hätte, im Jahre 1779 aus dem Muttergottestraum ihrer dreiundsechzigjährigen Jungfernschaft auf dem Scheiterhaufen erwacht wäre. Schon zehn Jahre vor dem Ausbruch der Revolution durften aber die Priester es nicht mehr wagen, dem gesunden Menschenverstand ihr (heutzutage wieder so schamlos hergebrülltes) »Sei verflucht!« entgegenzustellen, und da der gesunde Menschenverstand leicht erkannte, die alte Jungfer sei eine alte Närrin, so wurde die neue Mutter Gottes nach fünfwöchiger Einsperrung aus der Bastille in ein Irrenhaus gebracht, wo sie bis 1782 blieb. Man ließ sie im genannten Jahre auf ihr Begehren laufen, weil sich ihre Narrheit als harmlos und unschädlich darstellte.

Erst zwölf Jahre später tauchte die alte Person aus ihrer Verschollenheit wieder auf, um durch ihr bloßes Dasein nicht unbeträchtlich auf die entscheidende Wendung der Revolution einzuwirken. Die neue Madonna von eigenen Gnaden hatte natürlich Verehrer und Verehrerinnen gefunden. Je dümmer, desto schöner; je alberner, desto verehrungswürdiger; je sinnloser, desto erbaulicher. In diese zwölf Worte faßt sich bekanntlich das Ergebnis sämtlicher Dogmengeschichten sämtlicher Religionen zusammen. Es gibt keine Narrheit und keine Ungeheuerlichkeit, die der Mensch nicht ausgesonnen hätte, um sich anbetend davor niederzuwerfen. So weit freilich wie ihre Vorgängerin, die ja von Millionen und wieder Millionen angebetet wird, hat es unsere französische Unbefleckte von 1779 und 1794 keineswegs gebracht. Die ganze Gemeinde der » Chère Mère de Dieu« (lieben Mutter Gottes) zählte nicht mehr als 35 bis 40 Mitglieder, Männer, Weiber und Kinder zusammengerechnet. Die vortretenden Personen waren der Doktor Quevremont, den die Schriften Mesmers halb und die Swedenborgs ganz verrückt gemacht hatten, und Dom Gerle, Ex-Kartäuser, weiland Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung und effektvoller Statist in der Ballhausschwurszene, aus einem kindlichen Enthusiasten jetzt ein kindischer Schwätzer geworden, eifriges Mitglied des Jakobinerklubs, als dessen Präsident Robespierre ihm ein Bürgerzeugnis ( l'attestation du civisme) ausgestellt hatte. Im übrigen stand er dem Robespierreschen Freundeskreise so fern, daß er den Saint-Just nicht kannte, nicht einmal vom Ansehen. Auch eine ehemalige Marquise de Chatenois gehörte zu der Sekte, sowie zwei andere Damen, jung und hübsch, die eine braun, die andere blond, diese die »Sängerin«, jene die »Taube« genannt und beide erste Rollen in den kindischen Mysterienspielen innehabend, die in der Dachkammerwohnung der »Mutter Gottes« im »pays latin« in Paris geliefert wurden. Die Sängerin hatte die Obliegenheit, anzustimmen, wenn die Gläubigen ihre Madonna mit einer Hymne begrüßten, deren Kehrreim lautete:

» Ni culte, ni prêtres, ni roi,
Car la nouvelle Ève, c'est toi!
Kein Kultus, keine Priester, kein König; denn die neue Eva, das bist du!«

4.

Die scharfwitternde Polizeinase des Konvents, der Sicherheitsausschuß, hatte die abgeschmackten Mysterien dieses Madonnendienstes aufgeschnüffelt und Leute wie Barère und Vadier wußten daraus eine Gelegenheit zu schaffen, dem »Pfaffen« Robespierre eins anzuhängen. Die Verschwörung gegen den »Diktator« war ja bereits in vollem Zuge.

Sieht man die Sache ganz unbefangen und sozusagen ästhetisch an, so kann man nicht umhin, die Kunstfertigkeit und den diabolischen Humor zu bewundern, womit der »Anakreon der Guillotine« den so ernsten und salbungsvollen Fanatiker in diese lächerliche Mummerei zu verwickeln und eine achtundsiebzigjährige Närrin zu einem Hebel seines Sturzes zu machen verstand.

Sénart, einer der geriebensten Handlanger des Sicherheitsausschusses, erhielt den Auftrag, sich in die Mysterien der Mutter Gottes einweihen zu lassen und bei dieser Gelegenheit zugleich die ganze Gesellschaft gefänglich einzuziehen. Der Polizeispion ließ sich von einem Spießgesellen, der die Sekte, deren Mitglied er war, verraten hatte, in das Heiligtum führen, nachdem er ausreichende Polizeimannschaft in der Umgebung aufgestellt hatte.

»Mein Begleiter«, so erzählt Sénart das Abenteuer in seinen Memoiren, »führte mich ein unter dem Vorwande, daß ich mich in die Synagoge aufnehmen lassen wollte, und wir nahmen daher beide eine passend andächtige Miene an. In eine Art von Vorzimmer getreten, trafen wir einen Mann, der einen weißen Rock anhatte. Er sagte zu uns: ›Brüder und Freunde, setzt euch!‹ Mein Führer ging nun in ein Seitenzimmer, woraus er bald zurückkam in Begleitung einer Frau, die mich mit den Worten begrüßte: ›Kommen Sie, Sterblicher, kommen Sie zur Unsterblichkeit!‹ Ich konnte nicht umhin, innerlich über diese Äffereien zu lachen, stellte mich aber äußerlich ganz ernsthaft und ehrerbietig dar. Jetzt wurde ich in das Gemach der Mutter Gottes eingeführt. Ein Frauenzimmer erschien, und obgleich es acht Uhr morgens und das Zimmer ganz hell war, zündete sie dennoch einen dreiarmigen Leuchter an, der sich über einem Lehnsessel befand, und legte auf einen Stuhl ein Buch. Dann sah sie nach der Uhr und sagte: ›Die Stunde ist da, die Mutter Gottes wird erscheinen.‹ Nun ging eine Klingel und sofort kam aus einem Alkoven, dessen Eingang ein weißer Vorhang verschloß, eine alte Frau hervor, deren Kopf und deren Hände von einem beständigen Zittern bewegt waren, und die von zwei anderen Frauen ehrfurchtsvoll unter den Armen gehalten wurde. Man setzte diese Alte auf den thronartig erhöhten Lehnsessel, die beiden Frauen küßten ihr kniend die Hände und die Pantoffeln, erhoben sich dann wieder und sprachen: ›Ehre sei der Mutter Gottes!‹ Hierauf wurde ihr das Frühstück gereicht, bestehend aus einer Tasse Kaffee mit Milch und Törtchen. Inzwischen war der Kartäuser Gerle eingetreten. Er kniete vor der Mutter Gottes nieder und küßte sie auf die Wange, worauf sie zu ihm sagte: ›Prophet Gottes, setzen Sie sich.‹ Eine Frau namens Geoffroy hatte die Rolle inne, die man die der Offenbarerin (» éclaireuse«) nannte. Sie nahm das Buch und stellte den Stuhl, auf dem es gelegen, in die Mitte der Aufzunehmenden neben Dom Gerle. Rechts von diesem saß auf einem etwas niedrigeren Stuhl eine hübsche blonde Frau, die man die ›Sängerin‹ hieß, und links eine prächtigschöne und frische Brünette, die man als ›Taube‹ bezeichnete. Nachdem alle Anwesenden Unterwerfung unter die Gebote der Propheten Gottes gelobt hatten, las die Offenbarerin eine Stelle aus der Apokalypse vor. Dann erhob Gerle die Hände, und man führte uns vor den Thron der Mutter Gottes. Als ich vor ihr kniete, faßte mich eine der Frauen beim Kopfe, und Katharina Theot sagte zu mir: ›Mein Sohn, ich nehme dich auf in die Zahl meiner Erwählten. Du wirst unsterblich sein.‹ Dies gesagt, küßte sie mich auf die Stirn, die Wangen, die Augen, das Kinn und sprach die sakramentalen Worte: ›Die Gnade ist ausgegossen!‹«

Damit hatte die Zeremonie der Aufnahme, aber zugleich auch die ganze Muttergottesposse ihr Ende erreicht. Denn Sénart öffnete ein Fenster, gab seinen lauernden Polizisten das verabredete Signal, und die arme Madonna wurde samt ihrer Gemeinde unter großem, absichtlich veranstaltetem Hallo abgefaßt und nach der Conciergerie gebracht, jener »Vorhalle des Todes«, in die zur Schreckenszeit aus den verschiedenen Gefängnissen alle übergeführt zu werden pflegten, die zunächst vor dem Revolutionstribunal erscheinen sollten.

Der Kult dieser Mutter Gottes erinnert uns, nebenbei bemerkt, in seinen läppischen Einzelheiten ganz auffallend an die Mysterien, die zu Anfang des 18. Jahrhunderts (1702-1711) auf deutschem Boden in Schwarzenau und Sasmannshausen eine unter dem Namen der »Buttlarschen Rotte« verrufene Pietistenbande gefeiert hat. Der Mittelpunkt dieser Mysterien war ebenfalls eine Frau, Eva Magdalena von Buttlar, von den Mitgliedern ihrer Sekte als »Mutter Eva« verehrt. Bei den Mummereien dieser Konventikler figurierte auch eine »Taube«, statt einer »Sängerin« und »Offenbarerin« aber ein »Lamm«. Die Narrheit der Theotisten war jedoch eine ganz harmlose: ihre Momerie artete nicht in Muckerei aus, ihre Faselei ging nicht in Wollüstelei über, wie das bei solcher Extrafrömmigkeit sonst regelmäßig der Fall zu sein pflegt. Das Treiben der Buttlarschen Rotte dagegen barst in einen Greuel von scheuseliger Unzucht und teuflisch boshafter Grausamkeit aus, so daß dieses von dem trefflichen Thomasius nach den Akten dargestellte religionsgeschichtliche Nachtstück Vernünftige und christliche, aber nicht scheinheilige Thomasische Gedanken (1725), Bd. III, S. 208-624. einen furchtbaren Kommentar abgibt zu dem schrecklichen, von dem inniggläubigen und echtfrommen Novalis gesprochenen Wort: »Es ist wunderbar genug, daß nicht längst die Assoziation von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam gemacht hat auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz.«

5.

Die Verhaftung der Theotisten hatte ein eigentümliches Nachspiel. Der Polizeispion Sénart war nämlich mit geheimen Instruktionen versehen worden. Ihnen nachkommend, ordnete er an, daß nach Abführung der Verhafteten das ganze Heiligtum der Mutter Gottes mit außerordentlicher Beflissenheit, ja Ängstlichkeit durchsucht wurde, als gelte es, die wichtigsten Geheimnisse zu ergattern.

Nachdem der ganze armselige Plunder, der sich in der Mansarde vorfand, durchwühlt war, fand man richtig, und zwar an der allerverdächtigsten Stelle, nämlich im Bette der Muttergottes, eine kostbare Reliquie. »Suchet und ihr werdet finden«, namentlich dann, wenn ihr das Gesuchte vorher selbst an dem Fundort versteckt habt.

Diese also glücklich aufgefundene Reliquie war ein Brief, den die Mutter Gottes angeblich an Robespierre geschrieben hatte. Sehr angeblich, fürwahr, da die arme alte Närrin gar nicht schreiben konnte. Die Machenschafter des Sicherheitsausschusses hatten demnach ein Wunder gewirkt, das die der römischen Kirche übertraf. Denn die letztere hat zwar von ihrer Madonna die rarsten Reliquien auf wunderbare Weise überkommen, z. B. Haare, Zähne, Milch, Kleiderstücke; aber ein von ihrer Hand geschriebener Brief an einen ihrer berühmten Zeitgenossen ist unseres Wissens bislang noch nicht vorgebracht worden.

In dem Mirakelbrief nannte die Mutter Gottes Robespierre den »Sohn des höchsten Wesens« und das »ewige Wort« ( le fils de l'être suprême, le verbe éternel) und begrüßte ihn als den »durch die Propheten verheißenen Messias« ( Le Messie désigné par les prophètes).

Der Bericht von Sénart und der Brief, zusammengehalten mit dem Umstande, daß der »Prophet« Gerle von Robespierre ein Bürgerzeugnis erhalten hatte, waren für Barères Feder ausreichendes Material, um einen für den Konvent bestimmten Rapport daraus zu machen. Diesen Rapport trug Vadier am 17. Prairial (15. Juni) im Namen des Sicherheitsausschusses in der Konventsitzung vor. Robespierre wurde darin nicht mit Namen genannt, aber handgreiflich deutlich bezeichnet. Das ganze Machwerk war eine meisterlich tückische Vermischung winziger Tatsachen und kolossaler Lügen. Die alte Närrin von Mutter Gottes und ihre harmlosen Mitnarren und Mitnärrinnen erschienen als Mitglieder einer gegen den Bestand und die Sicherheit der Republik gerichteten Verschwörung, als Leute, die mit Pitt und mit der Emigration in Verbindung ständen. Das ganze Aktenstück war höchst geschickt darauf berechnet, den Konvent zu amüsieren, Robespierre lächerlich zu machen, ihm durch die Verfolgung der Sekte, in deren Alfanzereien man ihn als mitverwickelt zeigte, eins zu versetzen und überhaupt alle die in der Versammlung gegen den »Diktator« lauernde Mißgunst angenehm zu kitzeln.

Der »Anakreon der Guillotine« hatte sich diesmal selber übertroffen. Seine aus ergötzlichen Prämissen eine blutige Schlußfolgerung ziehende Rapportdichtung erreichte vollkommen ihren Zweck. Der vortrefflich unterhaltene Konvent lachte – » on se tordait sur les bancs« –, beschloß den Druck und die Versendung des Berichts in die Departements, damit auch anderwärts die Leute ihr Ergötzen daran hätten, und trat dem Schlußantrage des Berichterstatters bei. Dieser Antrag ging dahin: Katharina Theot, Dom Gerle, den Doktor Quevremont, die Marquise de Chatenois und die Witwe Geoffroy sind dem Revolutionstribunal zu überweisen.

Vadier wollte den also im Konvent mit Erfolg gegen Robespierre angesetzten Hebel auch im Jakobinerklub versuchen, wo er am Abend desselben Tages die Barèresche Stilübung ebenfalls vorbrachte. Allein hier in seinem Prätorium stand der »Unbestechliche« noch fest. Die Jakobiner lachten nicht, sondern bedeckten die Stimme des Vorlesers mit Gemurre.

6.

Das Lächerliche war damals in Frankreich noch eine Macht, die unter Umständen sehr gefährlich werden konnte. Erst in unserer Zeit, wo die allerlächerlichste Figur, der mit Spottlachen überschüttete Abenteurer von Straßburg und Boulogne, den in der Dezemberblutlache von 1851 gefärbten Kaiserpurpur sich umtun konnte, ist diese Macht verschwunden, – ein tatsächlicher Beweis, daß der französische »Esprit« zur Fabel geworden.

Robespierre fühlte gar wohl, daß er den empfangenen Schlag nicht auf sich sitzen lassen, nicht mit dem lächerlichen Nimbus einer von Katharina Theot gemachten Messiasschaft herumgehen durfte. Die ganze Tragweite des Angriffs vom 15. Juni scheint er zwar nicht ermessen zu haben, aber jedenfalls war seine Eitelkeit heftig verletzt, und in seinem Ärger tat er so ziemlich das Dümmste, was er tun konnte, d. h. er beschloß, die »lächerliche Posse«, wie er das Ding nannte, kurzweg zu unterdrücken, so daß man, hoffte er, gar nicht weiter davon reden sollte. Er bedachte nicht, daß er durch sein diktatorisches Einschreiten seinen Feinden nur ein neues und kräftiges Motiv lieferte, » la farce ridicule« noch mehr zu seinen Ungunsten auszunützen.

Robespierre begab sich in den Wohlfahrtsausschuß und verlangte, daß die ganze Muttergottesangelegenheit niedergeschlagen oder wenigstens vertagt werde. Seine Kollegen vom Wohlfahrtsausschuß stellten sich an, als wüßten sie gar nicht, daß die Sache mit Robespierre in irgendwelcher Beziehung stände, und gaben ihm zu bedenken, es läge ein Konventbeschluß vor und der Gang der Justiz dürfte nicht aufgehalten werden. Ohne sich daran zu kehren, ließ Robespierre den Ankläger beim Revolutionstribunal Fouquier-Tinville kommen, und in Gegenwart seiner Mitwohlfahrtsausschüßler und in ihrem Namen befahl er dem Gerufenen, gerade das Gegenteil von dem zu tun, was sie wollten, und die Prozedur zu vertagen. Die Herren vom Ausschuß wagten nicht zu mucksen. Robespierre ging noch weiter: er befahl dem Fouquier, die Akten herbeizuholen, und nahm die gehorsam herbeigeholten mit sich fort. Fouquier, der keineswegs ein Anhänger Robespierres war, lief ganz wild in den Sicherheitsausschuß hinüber und sagte dort: » Er, er, er will es nicht haben!« Worauf der anwesende Vadier (oder Amar?): »Aha, Robespierre!«

Liebhaber historischer Kuriositäten mögen es in ihrem Liebhabereifer fast bedauern, daß Sansons schreckliches Guillotineregister nicht um die pikante Rubrik einer geköpften Muttergottes bereichert worden ist. Denn Robespierres Dazwischenkunft rettete der neuen Madonna und ihren Gläubigen das Leben. Es war keine Rede mehr davon, sie vor das Revolutionstribunal zu stellen. Katharina Theot ist etliche Wochen nach ihrer Verhaftung an Altersschwäche in der Conciergerie gestorben. Dom Gerle blieb noch etliche Zeit sitzen, dann ließ man ihn frei, und so tat man wohl auch mit den eingekerkerten Mitgliedern der Sekte, obwohl die Freigebung der letzteren nicht aktenmäßig nachzuweisen ist.

Die Intrige hatte aber ihre Wirkung getan. Sie lieferte einen nicht unbeträchtlichen Teil des Sprengpulvers, womit die am 9. Thermidor explodierende widerrobespierresche Mine geladen war. An diesem Tage selbst kam der schamlose Vadier im Konvent auf die alberne Muttergottesgeschichte zurück und rechnete es dem stürzenden »Diktator« zum Verbrechen an, diese Geschichte eine lächerliche Posse genannt zu haben. Den Triumph der thermidorischen Verschwörer kennt man. Als der Konvent unter dem wütenden Geschrei » Vive la république!« die Anklage und Verhaftung Robespierres beschlossen hatte, rief der verlorene Mann aus: » La république? Elle est perdue, car les fripons triomphent!« (Die Republik? Sie ist verloren, denn die Spitzbuben triumphieren!)

Armer Fanatiker, wärest du besser in der Geschichte bewandert gewesen, so würdest du gewußt haben, daß das immer das Ende vom Liede. Denn der Refrain aller Politik von den Tagen Esaus und Jakobs bis heute lautet: »Die Gauner gewinnen's!«

Ein wohlmeinender und theologisch gesattelter Optimismus schüttelt freilich hierzu sehr mißbilligend das neunmalweise Haupt, greift in die schlotternden Saiten seiner alten Perfektibilitätsleier und stimmt den bekannten »geschichts-philosophischen« Kantus an, worin des breiteren doziert ist, daß der Triumph der Gauner ein kurzer und ihr Gewinst kein dauernder sei. Das ist wahr; aber nur als Regel, denn der Ausnahmen gibt es eine Fülle. Der gute Optimismus, dessen Weltanschauungsbrille ein rosenrotes und ein himmelblaues Glas hat – beneidenswerter Brillenbesitzer! – übersieht jedoch, daß die Herrlichkeit der historischen Gauner in der Regel nur deshalb nicht lange währt, weil sie von andern Gaunern verdrängt werden. »Einer dieser Lumpenhunde wird vom andern abgetan« – so lautete bekanntlich Goethes Philosophie der Geschichte.

Es ließe sich viel dafür und viel auch dagegen sagen. Gewiß ist, daß auf den Brettern, die die Welt, d. h. das Menschen- und Völkerleben nicht nur »bedeuten«, sondern sind, das Böse bald als Held Schurke bald als Intrigant Schufterle eine Hauptrolle, um nicht zu sagen die Hauptrolle zu allen Zeiten gespielt hat und spielen wird. Auch dürfte eine hinter die Kulissen der Weltgeschichtsbühne lugende, und zwar nicht durch die erwähnte Brille lugende Historik kaum bestreiten wollen, daß Friedrich der Große einigen Grund hatte, seine Philosophie der Geschichte in dem Satze zusammenzufassen: » Le sort des choses humaines est que de petits intérêts décident des plus grandes affaires« (Das Schicksal der menschlichen Dinge ist, daß kleine Interessen die größten Angelegenheiten entscheiden).


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