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O, Menschen, Menschen, arge Toren!
Weh euch, was habt ihr hier getan?
Lenau.
Beobachter und Urteiler, die der Meinung sind, die Mündigkeit der Völker sei ein Märchen, werden es nicht schwierig finden, die historischen Beweise hierfür aus der Geschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts massenhaft zu erbringen. Diese Geschichte ist ja nur der phrasenhaft redigierte Text zu der uralten und ewigjungen Weise: Die Menschen sind da, einander zu quälen und zu vernichten. Sie haben es von Uranfang an so getrieben und werden es so treiben, bis eine glückliche Katastrophe im Weltall der unseligen Existenz des Erdballs ein Ende macht. Die Menschheit vermag Vernunft, Frieden, Freiheit und Glück nicht zu ertragen: sie ist nicht dazu organisiert. Unser deutscher Buddha, der, in Ermangelung eines Sitzes unter dem Asokabaum in indischer Waldeinsamkeit, an der Wirtstafel im Schwan zu Frankfurt am Main gesessen, Sakjamuni-Schopenhauer hat weislich gesagt: »Wie unser Leib auseinanderplatzen müßte, wenn der Druck der Atmosphäre von ihm genommen wäre, so würde, wenn der Druck der Not, Mühseligkeit, Widerwärtigkeit und Vereitelung der Bestrebungen vom Leben der Menschen weggenommen wäre, ihr Übermut sich steigern, – wenn auch nicht bis zum Platzen, doch bis zu den Erscheinungen der zügellosesten Narrheit, ja Raserei Parerga und Paralipomena, 2. A. II, 314..« So ist es; nur muß noch hinzugefügt werden, daß der den Menschen angelegte Kappzaum von Not und Mühsal sie keineswegs abhält, zeitweilig in zügellose Narrheit, ja in Raserei auszubrechen. »Und das alles um Hekuba«, d. h. um dieser kindischen Schrulle, oder um jener kläglichen Marotte willen, – Glasperlen für Fidschiinsulaner. Sie martern und morden sich darum, die hochzivilisierten Wilden von Europa, und nicht ihre angebliche »Humanität«, sondern nur ihre Gastrosophie verhindert sie, einander nicht allein im figürlichen – wie sie ja tun –, sondern auch im wörtlichen Sinne aufzufressen.
Daß man das alte und ewige Weltschmerzlied, wie es durch die Jahrtausende herabtönt, überhören könnte! Glücklich die Spekulanten und Erfolganbeter; denn die können es. In Wahrheit, diese praktischen Leute sind die rechten und einzigen Philosophen des Jahrhunderts. Sie sagen: Warum die Dummheit bekämpfen wollen? Beute, beutele sie aus, wenn du nicht auch ein Dummrian bist! Barnumisiere dich, schwindle keck und frech mit in dem allgemeinen Schwindel; es gibt ja nur eine reale Tugend, und die heißt Million. Wie du sie erworben, gleichviel; wenn du sie nur hast, behältst und mehrst, so darfst du dich fröhlich als einer der Erdengötter fühlen, die, im Besitze von Palästen, Villen, Pferden, Hunden, Mätressen, Köchen und Lakaien, der »Ideologie« ein Schnippchen schlagen können. Genieße, was das Dasein bietet; es bietet ja des Genüßlichen doch gar viel, und denke niemals über den Kurszettel hinaus! Nur Toren mit leeren Magen und abgeschabten Röcken brüten über dem »Welträtsel«. Gescheite Leute nehmen die Welt, wie sie ist, nützen sie aus, halten sich an die Weltlust und überlassen den Weltschmerz den armen Teufeln von Denkern und Dichtern, die sich ihr Leben lang mit der fixen Idee der Weltverbesserung herumquälen und mit all ihrer Weisheit und Wissenschaft noch nicht soweit gekommen sind, zu wissen, daß die Welt nicht verbessert, sondern genossen und betrogen sein will.
Wenn es einem nur gegeben wäre, diesem vortrefflichen Katechismus nachzuleben! Wenn man es nur dazu bringen könnte, das alte dumme Ding in der Brust zu beschwichtigen, daß es nicht mehr so unvernünftig sympathisch aufpochte, wenn von Recht und Wahrheit, von Freiheit, Vaterland, Humanität und dergleichen »unpraktischem Zeug« mehr die Rede ist. Könnte man sich nur enthalten, den Reichtum nach seinem Ursprung zu fragen, den Pfaffen ins Gesicht zu lachen und, da die knechtischen Völker nicht hören wollen, die »Steine aufzurufen gegen die Tyrannen« (Byron).
Aber man muß lernen, das alles zu tun oder zu lassen, und oh, die Zeit ist eine gute Lehrerin. Sie trichtert auch dem widerstrebendsten Schädel den Erfahrungssatz ein, daß die armen Ideale an der Mauer der Wirklichkeit allzeit die Köpfe eingerannt haben und einrennen werden; sie löscht das Feuer der Begeisterung mit den kalten Wasserstrahlen der Ironie, und wenn ein törichtes Menschenherz über Gebühr lange jung bleiben will, so zerbricht sie es zwischen ihren pädagogisch-knöchernen Altjungfernfingern …
Wenn es wahr ist, – und es soll ja wahr sein – daß, wie in der physischen, so auch in der moralischen Welt die Aufeinanderfolge der Erscheinungen nach ewigen Gesetzen sich vollzieht, wohlan, so muß es auch mit Ergebung hingenommen werden, daß die Weltgeschichte mit der eisernen Unerbittlichkeit von Naturgesetzen arbeitet. Alles Moralisieren und Deklamieren ist da gerade so eitel, wie wenn einer wähnte, durch Gebete und Predigten die Gesetze der Polarität und Elektrizität abändern zu können. Mit derselben erhabenen Monotonie, womit in der Natur Flut und Ebbe, der Kreislauf der Gestirne, der Wechsel der Jahreszeiten sich folgen, lösen in der Geschichte Stoß und Gegenstoß, Aktion und Reaktion, Aufklärungsversuche und Verdummungsphlegma, Freiheitsaufschwünge und Knechtschaftsbeflissenheit einander ab. Von Zeit zu Zeit, wenn die Gesellschaft vollständig verschlammt, die sittliche Atmosphäre durch und durch verpestet, das öffentliche Gewissen taub, die öffentliche Zunge stumm und die Menschheit niederträchtig geworden ist, sammeln und entladen sich jene geschichtlichen Gewitter, die man Revolutionen zu nennen pflegt. Die von ihnen angerichteten Verheerungen sind furchtbar. Denn in solchen Gewitterzeiten geht in Erfüllung das Seherwort: –
»Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht« –
d. h. Bestie der Bestie, oder, wenn's hochkommt, Pfahlbauer dem Pfahlbauer. Das kann man beklagen, aber nicht ändern; es wäre denn, daß die Herren Utopisten die Güte haben wollten, ihr Geheimmittel, die Menschen zu verengeln, endlich einmal in Anwendung zu bringen. Solange jedoch die Menschen Menschen bleiben, wird sich der weltgeschichtliche Vorschritt immer nur so bewerkstelligen, wie er bislang sich bewerkstelligte, d. h. stoßweise, gewaltsam, mittels schmerzlicher Krisen und wehvoller Katastrophen. Denn nun und nimmer werden die gemeinen Instinkte und selbstsüchtigen Leidenschaften, niemals wird der Unverstand, das Vorurteil, der Afterglaube gutwillig das Feld räumen. Überall und allzeit wird die Reform zu schwach sein, diese Feinde des Menschengeschlechts aus ihren Verschanzungen hinauszujagen. Um solche Geschwüre am sozialen Körper auszubrennen, müssen Eisen und Feuer zur Anwendung kommen; denn leider – mit einem zu sprechen, welcher, so es möglich, gern die Steine aufgerufen hätte gegen die Tyrannen –
»Denn, leider, Revolution allein
Kann von der Höllenfäulnis uns befrei'n.«
Leider! Die Geschichte der Französischen Revolution illustriert dieses »Leider« so anschaulich, daß seine Furchtbarkeit selbst blödesten Augen klar sein könnte und sollte.
Aber es ist mit der Illustration viel falsches Spiel getrieben worden. Eine untertänige Geschichtsschreibung nämlich hat sich einer Seite des tragischen Gemäldes bemächtigt, um daraus ein Bilderbuch, ein Schreckbilderbuch für politische Kinder zusammenzukleistern. – für politische Kinder, denen man ja, vorab in Deutschland, bis zur Stunde einpredigen, einschwindeln konnte und kann, Revolutionen würden willkürlich gemacht, von Sprudel- und Strudelköpfen, von Habenichtsen und Taugenichtsen, willkürlich gemacht und aus purem Mutwillen. Um dieses Dogma für die gläubige Kinderdummheit und die unerschöpfliche Völkergeduld an- und einnehmlicher zu machen, haben Historiker der bezeichneten Sorte keine Mühe gescheut, in dem erwähnten Schreckbilderbuch die Greuel der Französischen Revolution in die grellste Beleuchtung zu rücken, und es wäre ihnen das keineswegs zu verdenken, falls sie nur in betreff der Greuel der Gegenrevolution ebenso verfahren wären. Allerdings findet jene Fieberraserei der revolutionären Energie, die in furchtbarer Steigerung von den Septembertagen 1792 bis zum Hochsommer 1794 währte, ihre ausreichende Erklärung in den maßlosen Ausschweifungen des Despotismus, die der großen Umwälzung vorausgegangen waren; allein dessenungeachtet sollen die Taten jener Raserei bei keiner Gelegenheit der nachdrücklichsten Brandmarkung entgehen. Wer jedoch mit gleichem und gerechtem Maße mißt, der wird nicht allein den roten Schrecken verdammen, sondern auch und ebenso streng den weißen, d. h. die gräßlichen Orgien der Reaktion, welche sofort mit dem 9. Thermidor (27. Juli) 1794 eingetreten ist, nachdem sich zum Sturze Robespierres und seiner Freunde die gewissenlosesten Halunken mit den ärgsten Blutmenschen zusammengetan hatten, Bösewichte, die, wie der Chef der Bande, Tallien, bis an die Knie in dem garstigsten Schmutze der Revolution gewatet waren.
Es ist aber merkwürdig, wie leicht und glatt dieselben »korrekten« Historiker und Publizisten, die das ganze Zeteralphabet und Flüchewörterbuch erschöpfen, um den rotrepublikanischen Schrecken zu verdonnern, über die Abscheulichkeiten und Gräßlichkeiten wegschlüpfen, die der weißroyalistische Schrecken von 1794-1795 in Szene gesetzt hat. Natürlich übrigens! Für Thron und Altar ist ja alles erlaubt. Mag jedoch dieser Grundsatz mit schamloser Offenheit gepredigt und geübt werden, immerhin gibt es noch einen über die trübe Sphäre der Knechtseligkeit, über die wüste Region zügelloser Parteileidenschaft hocherhabenen Standpunkt der Sittlichkeit, von welchem herab die echte und rechte Seherin Historia den Wahrspruch tut: Die roten Schreckensmänner handelten sittlicher als die weißen; denn jene standen in Bann und Zwang einer großen Idee, während diese nur von der gemeinsten Selbstsucht getrieben wurden.
Außerdem ist noch zu beachten, daß der rote Schrecken seine Bestrafung an sich selber vollzog, während der weiße straflos blieb. Wenn auch infolge jener grausamen Ironie, die das Verhängnis so oft zu zeigen liebt, die in der Zeit von 1793-1794 umgehenden Eumeniden da und dort einen abgefeimtesten Schuft (z. B. einen Talleyrand) oder einen verhärtetsten Schurken (z. B. einen Fouché) verschonten, so haben sie doch an den Handhabern des roten Terrorismus in Masse ihr unerbittliches Gericht vollzogen. Die Priester, Leviten und Küster des weißen Schreckenskultus dagegen ließen sie laufen, als hätten sich die erhabenen Rachegöttinnen mit der Bestrafung dieser Elenden nicht die Hände besudeln mögen.
Der weiße Schrecken – » la terreur blanche«, also genannt, weil im Dienste der bourbonischen Farbe arbeitend – hat sich unmittelbar nach dem 9. Thermidor in Paris noch genötigt gesehen, die republikanisch bemalte Seidenpapiermaske vorzustecken. Er wurde innerhalb der Hauptstadt und ihrer Umgebungen insbesondere von der sogenannten »goldenen Jugend« ( jeunesse dorée) gehandhabt, welche Raub und Mord zu einem Zubehör eleganter Lebensführung machte und die meuchlerische Verfolgung republikanischer Gesinnung förmlich in die Mode brachte, und zwar mit einer Frivolität, die jeden erschaudern lassen muß, der es in Fragen des Rechts und der Menschlichkeit noch nicht bis zu der absoluten Gleichgültigkeit und Fühllosigkeit der Spekulanten und Erfolganbeter gebracht hat. Der Osten und Norden Frankreichs, wo die Bevölkerungen fest zur Republik standen, blieb von der Pest des weißen Schreckens ganz unberührt oder wurde wenigstens nur da und dort flüchtig davon gestreift. Auch im Westen, sogar die Vendée nicht ausgenommen, zeigte sie sich nur sporadisch. Dagegen wütete sie so recht im Süden und Südosten, wo ja seit der Austilgung albigensischer Kultur Pfafferei, Volksverdummung und rohe Leidenschaftlichkeit stets Lieblingsstätten besessen hatten. Lyon und Marseille waren darum Mittelpunkte der weißen Greuelwirtschaft, die wir uns jetzt näher ansehen wollen.
Hören wir zuvörderst einen Augenzeugen ab, Charles Nodier, der aus eigener Anschauung geschildert hat, wie der weiße Schrecken in seiner Gestaltung als elegante Pariser Mode zur Erscheinung kam Nodier: Souvenirs de la révolution et de l'empire, 6 édit. I, 111 seq.. Die Summe dieses Zeugnisses ist etwa diese: Der rote Schrecken hatte großen Zynismus in der Tracht, spartanische Mäßigkeit bei Gastmählern und eine tiefe Verachtung gegen alle Feste und Schauspiele gezeigt und gefordert, die nicht durch ihren wilden Pomp an die tragischen Mysterien seiner Saturnalien gemahnten. Der weiße Schrecken dagegen war elegant und sogar geschniegelt; er weckte den Geschmack an Festlichkeiten und Bällen wieder auf, er brachte alle die Launen des Luxus, alle die Zügellosigkeiten der Wollust zurück, wie sie die vornehme Jugend vorzeiten in dem Boudoir der Dubarry kennengelernt hatte. Die Sitten der Schreckenszeit waren von widerlicher Plumpheit gewesen; die der thermidorischen Reaktion dagegen waren von raffinierter Schamlosigkeit, und die abscheuliche Verfeinerung des Lasters überzog die wilde Grausamkeit mit einem Firnis, der ihre Häßlichkeit nur erhöhen konnte. Es gab weiße Terroristen, die nicht weniger grausam waren, als Marat gewesen, die aber so strahlend von Jugendschöne, so gewandt und feingebildet sich darstellten, daß sie alle Frauenherzen hinter sich herzogen, wenn sie, eine Wolke von Ambraduft um sich verbreitend, einen Salon betraten.
In Paris machten sich, wie schon angedeutet worden, die schlimmsten Zeiten des weißen Schreckens weniger fühlbar. Die »goldene Jugend« ließ hier ihren reaktionären Übermut hauptsächlich in Straßenprügeleien mit den Überbleibseln des Jakobinismus, in theatralischen Pasquinaden und in allerhand sonstigen Schaustellungen und Kundgebungen aus. Zu den letzteren gehörten auch die sogenannten »Bälle der Opfer« ( bals des victimes oder bals à la victime), auf denen man Trauer tanzte und zu denen nur solche Frauen und Mädchen Zutritt erhielten, welche ein Mitglied ihrer Familie durch die Guillotine verloren hatten. Das vorgeschriebene Ballkostüm der Tänzerinnen mußte dem Anzug ähnlich sein, in welchem ihre Mütter oder Schwestern oder Tanten unter dem Fallbeil gestorben waren: sie mußten daher ein weißes Kleid, ein rotes oder schwarzes Brusttuch und die Haare ganz kurz über dem Nacken abgeschnitten tragen.
Anderwärts dagegen, an den Hauptstätten seiner Tätigkeit, an Orten wie Lyon, Nimes, Marseille, Aix und Tarascon, mischte der weiße Schrecken auch in seiner eleganten Erscheinungsform dem Bizarren das Entsetzliche bei. Vielleicht hat man nie und nirgends die gesetzliche Autorität so lange außer Kraft und die Willkür der Rachelust so keck die Stelle des Gesetzes an sich reißen gesehen. Meuchelmorde wurden vollzogen, als wären es gerichtliche Urteile, am hellen Tage, auf offener Straße, und wehe den Vorübergehenden, wenn sie etwas dagegen hätten sagen wollen! Die Theorie des Mordes war in die höheren Gesellschaftsklassen gedrungen, und in den Salons wurden Geheimnisse des Meuchelns gelehrt, vor denen die Insassen der Bagnos sich entsetzt hätten. Am Whisttische wurden förmliche Mordpartien gespielt, und wenn dann einer der Spieler aufstand, gab er sich nicht einmal die Mühe, es mit gedämpfter Stimme zu sagen, daß er jetzt ginge, jemand zu töten. Die Frauen, sonst die sanften Vermittlerinnen zwischen den Leidenschaften der Männer, beteiligten sich eifrig an diesen Morddebatten und Blutspielpartien. Die Megären des roten Schreckens, die »Guillotinefurien«, hatten Miniaturguillotinen als Ohrbommeln getragen; die »anbetungswürdigen Furien« des weißen Schreckens trugen Miniaturdolche als Haarpfeile und Busennadeln. Man konnte einen jungen Stutzer im kurzschößigen Rock, in einer Weste von gemsfarbigem Pelzsammet, mit seinen langen, gepuderten, zu beiden Seiten in Gestalt von »Hundsohren« auf die Schultern herabfallenden Haaren, mit seinen aufgebundenen Zöpfchen und seiner wulstigen grünen Halsbinde in ein Damenboudoir treten und mit einem blutbefleckten Finger nach der Bonbonniere der schönen Insassin langen sehen. Dieser blutbefleckte Finger, der einzige Teil seiner zarten Hand, den mit englischer Seife in Berührung zu bringen er sich sorgfältig gehütet hatte, sollte der Dame stummberedt sagen: Der zwischen uns vereinbarte Mord ist vollbracht, und ich komme, den Mordminnesold einzukassieren.
Es ist überhaupt zu betonen, daß und wie sehr im weißen Schrecken mit der vornehmen Mordlust die vornehme Liederlichkeit sich verband. Zu Montbrisson schleppte eine Bande von weißen Schreckensmännern eine Schar von Frauen, deren Gatten als Republikaner bekannt und geächtet waren, unter den Freiheitsbaum, zog im hellen Sonnenschein die Erbarmungswürdigen splitternackt aus und peitschte sie mit Ochsensehnen, um sich an den Zuckungen der grausam Mißhandelten zu ergötzen. Der rote Schrecken hatte doch mitunter vor weiblicher Schönheit und Opferfreudigkeit, vor der heldischen Liebe einer Gattin, einer Tochter, einer Schwester die Mordfaust gesenkt. Die Septembermörder von 1792, die Mörder in Lumpen, die Mörder um Tagelohn, sie hatten inmitten des sie umnebelnden Blutdampfes ein menschliches Regen und Rühren empfunden, als die Tochter des Herrn von Sombreuil sich schützend vor ihren Vater stellte, und hatten der Flehenden das Leben des Greises geschenkt. Den gleichen Triumph kindlichen Heroismus hatten dieselben »Schwielenfäuste« auch der Tochter Cazottes bewilligt. Selbst die rasende Horde Marats war in ein Gemurr der Entrüstung ausgebrochen, als der Henker die Ruchlosigkeit begangen hatte, die jungfräuliche Wange von Charlotte Cordays abgeschlagenem Haupte durch einen Backenstreich zu beschimpfen. Der weiße Schrecken aber in seinem Wüten für Thron und Altar kannte kein Erbarmen, weder mit Mann noch Weib noch Kind, weder mit den Lebenden noch mit den Toten. Die Mörder in Sammetwesten und seidenen Strümpfen waren über alle menschlichen Regungen hinweg. Sonst hätten sie nicht eines Tages ein fünfzehnjähriges Mädchen, das sich schluchzend auf den Leichnam seines von ihnen erwürgten Vaters warf, weggerissen, nackt ausgezogen und durchgepeitscht. Sonst hätten sie auch nicht zu Ile, in der Nachbarschaft von Avignon, einer Frau den Arm abgehauen, den sie ausstreckte, um ihren unter den Dolchen der Mörder zusammensinkenden Gatten zu schützen und zu stützen.
Der rote Schrecken hatte sich im Revolutionstribunal eine gesetzliche Organisation gegeben. Der weiße Schrecken verachtete und verschmähte solche Formalitäten und organisierte sich kurzweg in Form von Mörderbanden. Diese führten die Namen »Kinder der Sonne« oder »Gesellen der Sonne« ( enfants ou compagnons du soleil) und »Genossenschaften Jesu« ( compagnies de Jésus). Ob in der letzteren Bezeichnung eine Beziehung zum Jesuitenorden liegen sollte, ist nicht klar, kann aber doch nicht so ganz unwahrscheinlich erscheinen, wenn man erwägt, daß der weiße Schrecken ganz deutlich auf die Restauration des Ancien Régime abzielte. In zeitgenössischen Berichten wird jedoch sehr bestimmt hervorgehoben, daß die Benennung »Genossenschaften Jesu« nur irrtümlicherweise zu einer gangbaren geworden sei. Denn der eigentliche und ursprüngliche Name der zu Banden gescharten Rückschrittler habe »Gesellen Jehus« gelautet, in Erinnerung an jenen König in Israel, den der Prophet Elisa gesalbt hatte unter der Bedingung, daß er das Haus Ahab und die Baalspriester ausrotten müßte.
Die Gesellen der Sonne nun und die Gesellen Jehus, durch Gemeinsamkeit der Anschauungen, Interessen und Wünsche verbunden, bündisch gegliedert, mittels Zeichen und Losungen eng aneinander geschlossen, schwammen lustig in der trüben Flut der Anarchie, die sich nach dem 9. Thermidor über Frankreich ergossen hatte. Die Regierungsmaschine, wie sie sich der Konvent gezimmert, war freilich noch vorhanden; allein der energische Impuls, der sie während des roten Schreckens gelenkt und im Gange erhalten hatte, war dahin, und so lotterte und lahmte sie denn kläglich. Um so mehr, da die auch zur thermidorischen Zeit, wie früher, in die Provinzen gesandten Konventskommissare an manchen Orten unter dem Vorgeben, die Überreste des Jakobinismus zu bekämpfen, mit der royalistisch-bourbonischen Reaktion geheim oder offen gemeinschaftliche Sache machten. Daher kam es, daß von Lyon an abwärts im ganzen Südosten von Frankreich der bündisch organisierte weiße Schrecken für eine Weile die einzige tatsächliche Macht und Gewalt gewesen ist. In diesen Gegenden galt Jakobinismus und Republikanismus für schlechthin einerlei, und da der von den Thermidoriern beherrschte Konvent allenthalben massenhafte Verhaftungen über den »Schweif Robespierres« verhängt hatte, so strotzten die Gefängnisse von Opfern, die dem Mordstahl der royalistischen Rückschrittsfanatiker schutzlos preisgegeben waren.
Man hat Mühe, selbst angesichts unanfechtbarster Zeugnisse, an den Zynismus zu glauben, womit die Herrschaft des Mordes für Thron und Altar sich auftat. Lyon, damals ein Lieblingssitz der Finsternis, ging voran. Die Jehuiten und Sonnengesellen trugen hier als Partei- und Erkennungszeichen eine weiße Hutschnur, in Erwartung einer baldigen Wiederaufpflanzung der weißen Fahne. Die Stadt wimmelte von Emigranten, die, auf die Lässigkeit oder das heimliche Einverständnis der Thermidorier rechnend, zurückgekehrt waren und in die Mordbanden sich einreihten. Es ist ganz falsch, zu behaupten oder zu glauben, die Schlächtereien seien nur das Resultat eines ersten und unwiderstehlichen Rachereizes auf seiten der Royalisten gewesen. Im Gegenteil, sie waren eine systematisch gegen die Republikaner organisierte Bartholomäusnacht.
Daraus erklärt es sich auch, daß unter den Opfern so viele Männer sich befanden, die dem roten Schrecken mit standhafter Energie entgegengewirkt und die Bestrafung roter Schreckensmänner angeregt und durchgesetzt hatten. Ein recht auffallendes Beispiel hiervon war der an dem Bürger Redon vollbrachte Mord, an demselben Redon, der einer der Richter gewesen, die über das Scheusal Carrier den Todesspruch gefällt hatten. Er begegnete einer Rotte Jehuiten. »Du bist kein Terrorist«, schrien sie ihn an, »du bist ein ehrlicher Mann; aber du bist ein Republikaner!« Und damit erwürgten sie ihn.
In den letzten Tagen des Aprils und in den ersten des Mai von 1795 waltete der weiße Schrecken schrankenlos in Lyon. Sonnengesellen und Jehuiten durchstürmten die Straßen und machten jeden und jede nieder, die ihnen mißfielen; nämlich die »Mathevons« und »Mathevonnes«, welchen Spitznamen man den Republikanern und Republikanerinnen gegeben hatte. Man sah erwürgte Frauen auf den Schwellen ihrer eigenen Häuser liegen. Mitunter ließen sich die Mörder herbei, die Leichname ihrer Schlachtopfer aufzuheben und in die Rhone oder Saone zu werfen. Das Geräusch, das die ins Wasser fallenden Leichen verursachten, wurde mit der lachenden Bemerkung begleitet: »Wieder ein Mathevon weniger!« Royalistische Damen waren eifrig dabei, die »goldene Jugend« zum Mordgeschäft anzueifern; die frommen, d. h. alten und häßlichen, zitierten zu diesem Zwecke alttestamentliche Blutverse, die jungen hübschen und galanten verhießen Schäferstunden. Infolge solcher Reizungen waren die royalistischen Stutzer gegen jede Regung von Erbarmen gestählt. Als die Sonnengesellen eines Tages durch die Straßen paradierten, ließ eine siebzigjährige Frau die harmlose Bemerkung fallen: »Die Muscadins (junge Stutzer) haben eine flotte Tournüre« – und sogleich packten sechs »Muscadins« die arme Greisin, schleppten sie zur Saonebrücke, schlugen ihr den Schädel ein und warfen sie in den Fluß.
Der Hauptmordtag in Lyon und Umgebung war der 5. Mai. Die Jehuiten ordneten sich in drei Banden, welche drei mit angeblichen Terroristen und Terroristinnen angefüllte Gefängnisse, des Recluses, Saint-Joseph und das zu Roanne, zu Zielen nahmen. Die Gefängnisse wurden erstürmt und sechsundachtzig Gefangene abgeschlachtet, worunter sechs Frauen. Eine siebente warf sich, als die Streiter für Thron und Altar das Gefängnis anzündeten, um etwaigen Widerstand der Schlachtopfer kurz abzutun, mit ihrem Kind an der Brust von der Zinne eines Turmes in die Flammen.
Aber taten denn die Behörden gar nichts zur Sühnung dieses Greuels? Doch! Die Mörder wurden der Form halber zu Roanne vor Gericht gestellt, aber mit Glanz freigesprochen. Sie hielten dann einen Triumpheinzug in Lyon, wobei schöne Damen ihren Weg mit Blumen bestreuten, und am Abend wurden sie hierauf im Theater förmlich bekränzt. »Rufen wir doch«, hieß es während dieser Orgie, »den kleinen Capet zum König aus. So wird Lyon die Hauptstadt des Königreichs werden.«
Und die thermidorischen Konventskommissare, sie sahen das alles untätig mit an? Freilich, und nicht nur das, sondern sie ermunterten und ermutigten sogar mittelbar oder unmittelbar den mordlustigen Rückschritt. Einer derselben, Chambon, schrieb am 10. Mai aus Marseille an den Konvent: »Wie seufze ich über die Langsamkeit der gerichtlichen Förmlichkeit! Die Verschleppung der (gegen die verhafteten Republikaner angestrengten) Prozesse verwirrt die bestgesinnten Leute. Tut doch einen Generalschlag ( frappez donc un coup général)!« Nun, der »Wächter des Gesetzes« sollte nicht länger auf solche von ihm geforderte Generalschläge zu warten haben. Sie geschahen unter seinen eigenen Augen und unter denen seiner beiden Kollegen Cadroy und Isnard.
An demselben 10. Mai, an welchem Chambon über die »Langsamkeit der gerichtlichen Förmlichkeiten« seufzte, machte sich eine Bande von Jehuiten und Sonnenburschen aus Marseille nach dem fünf Stunden entfernten Aix auf, mit dem laut ausgesprochenen Entschlusse, die dortigen mit »Jakobinern« angefüllten Gefängnisse zu säubern (» purger«). Die Mörder marschierten zu Fuße, weshalb es den Herren Chambon, Cadry und Isnard leicht gewesen wäre, sie mittels Inmarschsetzung von Reiterei, welche sie in Marseille zur Hand hatten, zu überholen. Allein die Herren Thermodier, mit deren Herrschaft ja, wie die »korrekte« Geschichtslüge lautet, die Menschlichkeit in Frankreich wieder zur Geltung kam, dachten gar nicht daran, Leuten, die die beseufzenswerte »Langsamkeit der gerichtlichen Förmlichkeiten« etwas beschleunigen wollten, ein Hindernis in den Weg zu legen. So »purgierten« denn die Gesellschaftsretter von damals am 11. Mai 1795 zu Aix tüchtig darauflos. Das mörderische Trauerspiel zerfiel in zwei Akte. Im ersten wurden neunundzwanzig Gefangene abgeschlachtet, im zweiten vierundzwanzig, worunter zwei Frauen. Die eine derselben, Madame Fassy, stillte gerade ihr vier Monate altes Kind, als die ritterlichen Kämpen für Thron und Altar in das Gefängnis drangen. Man entreißt ihr den Säugling, streckt sie mit einem Pistolenschuß nieder, zerstampft das Kind vor den Augen der sterbenden Mutter und reißt dann die noch Atmende förmlich in Stücke. Einem der Gefangenen gab die Todesangst den gescheiten Einfall ein, den Mördern zuzuschreien: »Ich bin kein Republikaner, sondern ein Falschmünzer!« Er wurde geschont. Der Häuptling der Jehuiten bei dieser Unternehmung, ein gewisser Rolland, erfreute sich des vertrauten Umgangs mit dem Konventskommissar Chambon, speiste an dessen Tafel und fuhr in dessen Wagen.
Ähnliche Schlächtereien wie in Lyon und Aix fanden statt in Avignon, in Nimes, in Ile, in Sisteron, in Toulon, in Montélimart, in Saint-Etienne, in Montbrisson, in Bourg, in Lons-le-Saulnier und anderwärts.
Ausgezeichnet aber durch grausame Ausklügelung war das Verfahren der Mordbuben am 24. Mai zu Tarascon. Nachdem sie in dem Gefängnisturm, der auf einem hohen Uferfelsen der Rhone stand, der gefangenen Republikaner sich bemächtigt hatten, wollten sie sich mit der bloßen Abschlachtung derselben nicht begnügen, sondern noch dazu ein Schauspiel geben und genießen. Zur Bequemlichkeit der Zuschauer waren längs der Straße, welche von Tarascon nach Beaucaire führt, Stühle und Bänke hingestellt und bald besetzt, insbesondere von Priestern und sonstigen Frommen. Dies geschehen, wurden vierundzwanzig Gefangene, einer nach dem andern, von den Zinnen des Turmes auf die Felsen am Stromufer herabgestürzt, und wenn die Glieder der Unglücklichen an den Klippen und Zacken zerrissen und zerschellten, brachen die Zuschauer in kannibalische Beifallsbezeigungen aus.
Die Behörden der Stadt nannten den ganzen Greuel in ihrem amtlichen Bericht einen verdrießlichen Vorgang (» un fâcheux événement«), bei welchem jedoch nur vierundzwanzig Gefangene zugrunde gegangen seien (» s'est borné à la perte de vingtquatre prisonniers«). Dies war geradezu ein Wink für den weißen Schrecken, das Versäumte nachzuholen. Er tat es, indem er am 20. Juni abermals in Tarascon »arbeitete« und noch weitere dreiundzwanzig Gefangene mordete, worunter zwei Frauen.
Fünfzehn Tage zuvor, am 5. Juni, hatte der Mord für Thron und Altar zu Marseille im großen Stil gearbeitet.
Hier war der Pintenwirt Robin der General der Jehuiten und Sonnenkinder, welche zu dem Kommandanten des Forts Saint-Jean und dessen Sekretär in vertrauten Beziehungen standen. Der Kommandant hieß Pagès, der Sekretär Manoly. Beide waren als leidenschaftliche Gegenrevolutionäre bekannt. Dessenungeachtet und obgleich man allgemein wußte, daß die Jehuiten das Leben der politischen Gefangenen bedrohten, womit das Fort angefüllt war, ließ der Konventskommissar Cadroy die genannten beiden Herren in ihren Stellungen, als wollte er der Mordrotte die Wege möglichst ebnen. Sie zögerte daher nicht, diese Wege zu betreten. Um acht Uhr abends am bezeichneten Junitage waren die Sonnenburschen in Fort Saint-Jean und an der »Arbeit«, nachdem der Kommandant dafür gesorgt hatte, die Gefangenen ja recht vollständig wehrlos zu machen, indem er ihre Kleider durchsuchen und ihnen sogar die Federmesser und Nagelscheren wegnehmen ließ.
Es saßen damals, noch von der roten Schreckenszeit her, auch zwei Prinzen im Fort Saint-Jean gefangen: der Herzog von Montpensier und der Graf von Beaujolais, Söhne des Duc d'Orléans-Egalité. Sie waren vom Fenster ihres Gefängnisses aus Ohrenzeugen und zum Teil auch Augenzeugen der gräßlichen Schlächterei. Montpensier hat in seinen Memoiren schaudernd davon erzählt. Er bezeugt ausdrücklich, daß die Jehuiten lauter gut und modisch gekleidete junge Männer gewesen seien, und er konnte sie sich aus nächster Nähe ansehen, da ihrer ein Dutzend in die Kerkerzelle der Brüder eindrang, um dort den Kommandanten und dessen Sekretär zu verwahren, die sich zum Schein hatten gefangennehmen lassen. Die gefangenen und zum Tode bestimmten Republikaner waren in verschiedenen Abteilungen in die Kasematten des Forts eingepfercht. »Wir hörten«, erzählt der Sohn Egalités, »die Pforte eines der Kerker im zweiten Hofe einschlagen, und sofort vernahmen wir Rufe des Entsetzens und herzzerreißendes Geröchel, übertönt von wildem Freudengejauchz, so daß uns das Blut in den Adern erstarrte.«
In der ersten Kasematte, die sie erbrochen hatten, schlachteten die ritterlichen Kämpen für König und Kirche fünfundzwanzig Gefangene ab. Es muß eine wahre Höllenbreughelszene gewesen sein, dieses beim Geflacker von etlichen Fackeln unter der düsteren Wölbung der Kasematte vollbrachte Gewürge. Das beklagenswerteste Opfer war ein blutjunger Mann, der, in der Armee an der Grenze für sein Vaterland fechtend, mit Urlaub nach Marseille geeilt war, um seinen gefangenen Vater zu besuchen, und sich nun zu dieser Unglücksstunde gerade bei diesem befand. Die Mörder erschlugen den Greis erst, nachdem sie ihm den Sohn in den Armen erdolcht hatten.
Zwei volle Stunden wirtschaftete die Mordbande ganz nach Belieben in den Räumen von Saint-Jean. Und wo war und was tat inzwischen Monsieur Cadroy, der Repräsentant des thermidorischen »Regiments der Menschlichkeit«? Er ging in den Straßen von Marseille spazieren. Noch mehr, er hatte dem Platzkommandanten der Stadt, welcher Generalmarsch schlagen und eine Kompagnie Grenadiere zum Schutze der Gefangenen in das Fort hinaufschicken wollte, beides untersagt.
Um sieben Uhr abends brüllten in Saint-Jean Kanonen. Die Jehuiten waren daran, mit Kartätschen durch die Toröffnung eines der Gefängnisse zu feuern. Auch warfen und schoben sie, wie der Herzog von Montpensier meldet, Pakete angezündeten Schwefels und Bündel entflammten Strohes durch die Luftlöcher der Kasematten, um die unglücklichen Insassen zu ersticken.
Endlich, um achteinhalb Uhr, erschien Cadroy, dem der Platzkommandant der Stadt keine Ruhe mehr gelassen hatte, mit seinen beiden soeben aus Toulon angelangten Kollegen Chambon und Isnard im Fort, d. h. zunächst vor der Zugbrücke, die die Jehuiten aufgezogen hatten. Als sie, von einer ausreichenden Anzahl von Grenadieren und Husaren gefolgt, befahlen, daß die Zugbrücke niedergelassen werden sollte, und der Ruf: »Da sind die Volksrepräsentanten!« erscholl, schrie einer der Sonnenburschen: »Ich kümmere mich den Teufel um sie! Kommt, Kameraden, ans Geschäft! Wir werden bald damit zu Rande sein.«
Indessen wurde doch die Zugbrücke niedergelassen, und die Konventsdeputierten betraten die blutdampfende Mordstätte. Dem Bericht von Montpensier zufolge hätten sie es getan mit dem an die Mordbuben gerichteten Zuruf: »Im Namen des Gesetzes, laßt ab von dieser gräßlichen Schlächterei! Hört auf, euch einem gehässigen Rachegefühl hinzugeben!« Allein es ist mit Betonung anzumerken, daß der Prinz diesen Umstand nicht als Augen- oder vielmehr Ohrenzeuge, sondern nur vom Hörensagen meldet. Dagegen ist durch aktenmäßig festgestellte Zeugenaussagen eine erdrückende Wucht von Schuld auf Cadroys Haupt gehäuft. Als der thermidorische Konventskommissar den innern Hof des Forts betrat, wo sich die Kantine befand und das Würgegeschäft noch immer fortging, rief er den Mördern zu: »Was macht ihr für einen Lärm? Könnt ihr, was ihr tut, nicht geräuschlos tun? Hört auf, zu schießen! Das verursacht Aufsehen und bringt die Stadt in Alarm.« Dann trat er in die Kantine mit den Worten: »Sonnenkinder, ich bin an eurer Spitze; ich werde, wenn es sein muß, mit euch sterben. Aber hattet ihr nicht hinlänglich Zeit zu eurer Arbeit? Hört jetzt auf! Es ist genug!« Die Jehuiten umringten ihn, wilde Proteste hervorschreiend. Da sagte er: »Nun wohl, ich gehe. Tut euer Werk!« Gerade so hatte der Chef der Thermidorier, Schuft Tallien, als Sekretär der »Kommune« vordem zu den Septembermördern von 1792 gesprochen.
Selbstverständlich sind die Verüber der Greuel in Fort Saint-Jean unbelästigt und unbestraft geblieben. Der mit den Konventskommissaren in das Fort gekommene Kommandant Le Cesne hat bezeugt, daß seine Grenadiere, empört über das Gräßliche, was sie mitansehen mußten, verschiedene der Schlächter ergriffen, daß aber Cadroy sie sofort eigenhändig befreite. Am Schlusse der Blutorgie wurden dann freilich vierzehn Jehuiten gefangengenommen, aber schon zwei Tage darauf wieder freigelassen. Das am 6. Juni aufgenommene Protokoll zählte achtundachtzig Ermordete mit Namen auf. Die Gesamtzahl derselben betrug aber nahezu zweihundert. Sehr viele Leichname waren, weil halb oder ganz verkohlt, gar nicht wiederzuerkennen. Auch hier wie anderwärts hatte der Mord keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht. Etliche Tage nach der Schlächterei sagte ein Jehuit zu einem der noch am Leben gebliebenen Gefangenen: »Ich habe ein Ohr deiner Frau in meiner Dose. Willst du es sehen?«
Wenn der Blick von den massenhaften Metzeleien entsetzt sich abkehrt, begegnen ihm anderwärts zu der Zeit, wo der weiße Schrecken an der Tagesordnung war, mörderische Einzelfälle, die unsern Schauder ins Unerträgliche steigern. Um so mehr, da mit der schnödesten Unmenschlichkeit eine wahrhaft englisch-anglikanische Heuchelei sich verband. Die Reden, die Zeitungen, die Edikte der Thermidorier flossen über von Gerechtigkeit und Milde; alle modischen Damen trugen nach dem Vorgange von Talliens Mätresse, Therese Cabarrus, Gerechtigkeitsmieder (» corsets à la justice«) und Menschlichkeits-Hauben (» bonnets à l'humanité«): in Wirklichkeit machte der thermidorische Rückschritt sich einen Spaß daraus, seine Opfer nicht selten mit einem fanatischen Raffinement der Grausamkeit zu Tode zu quälen.
So kamen damals in den Gefängnissen Szenen vor, wie sie Ugolino in der Hölle des Dante erzählt. In Sisteron marterten die Jehuiten den Bürger Bryssand eine ganze Nacht hindurch, bevor sie ihn am Ufer der Durance in Stücke hieben. Zu Moingt ward einem achtzigjährigen Greise der Schädel durch Kieselsteine langsam zu Brei zerrieben. In Saint-Etienne schlugen die Sonnenkinder eines ihrer Opfer ans Kreuz. Den Bürger Brasseau begruben sie lebendig … Die Gesamtsumme der vom thermidorischen Rückschritt Vernichteten genau oder auch nur annähernd genau anzugeben, ist keine Möglichkeit vorhanden. In der Provence allein belief sie sich in die Tausende.
Also hat der weiße Schrecken für Thron und Altar gearbeitet. »Der Zweck heiligt die Mittel«, wißt ihr? und für Kirche und König ist alles nicht nur erlaubt, sondern auch geboten. Zwar hat ein von seiten der bekannten frommen und loyalen »Respektabilität« seines Heimatlandes verfemter Dichterlord in dem genialsten seiner Strafgedichte den Zornschrei ausgestoßen:
»
Each brute hath its nature, a king's is to reign;
To reign! in that word see, ye ages, comprised
The cause of the curses all annals contain« …
allein was kümmert sich eine jetzt endlich mit Glanz zum Durchbruch gekommene »Realpolitik«, für welche es nur noch eine »Logik der Tatsachen« gibt, um derartige oder um Poesie überhaupt? Keinen Pfifferling. Kann sie doch mit voller Wahrheit sagen: Die Menschen verstehen nicht gerecht zu sein, und die Völker wollen nicht frei sein; darum wird, wie die Welt durch das Gesetz der Schwere, die Gesellschaft nur durch das Gesetz der Gewalt zusammengehalten. Phantasten, Pharisäer und Philister sind über das berühmte »Macht geht vor Recht!« in lärmendes Entsetzen ausgebrochen, und doch war dieses Wort das ehrlichste, das seit Jahrhunderten einem Machthaber über die Lippen gegangen. Ja, Macht geht vor Recht. So war es immer, so ist es überall, so wird es allzeit sein. Mag die gute alte Amme Phantasie mit der rosenroten Brille auf der Nase immerhin das ganze Register einer Zukunftspoesie herorgeln, welche von der Umwandlung der Rechtschimäre zur kosmopolitischen Tatsache zu singen und zu sagen weiß, die Geschichte kann auf die Frage: Wird das Recht jemals der Macht vorgehen? nur mit ruhiger Unerbittlichkeit antworten: Nein! Diese Schlußabsätze habe ich als für Scherr bezeichnend stehen lassen, obwohl sie heute überholt sind. Übrigens pflichte ich ihm in der Sache bei. Der Herausgeber.
Wir »armen Ideologen«, wir »närrischen Prinzipienreiter« verblenden uns demnach keineswegs über »die gemeine Wirklichkeit der Dinge«. Diese Wirklichkeit rückt uns ja mit der ganzen Wucht ihrer Gemeinheit Tag für Tag und Stunde für Stunde nahe genug auf den Leib, daß wir sie sehen, fühlen, schmecken und greifen können und müssen. Und dennoch sind wir der Meinung, daß ein anstößigstes Wort unserer Sprache, das Wort, welches mit einem H anfängt und mit einem tt aufhört, jetzt überflüssig geworden sei, weil es durch das gleichbedeutende »Realpolitiker« vollständig ersetzt werde. Ja, dennoch! Aber wir muten euch deshalb keineswegs zu, ebenfalls »Prinzipienreiter« zu werden. Wissen wir doch, daß ihr, falls ihr überhaupt reitet, es nur tut, um desto schneller von einem Lager ins andere, von einer Fahne zur andern gelangen zu können. Ah, ihr seid geschwinde Leute, ihr! Ihr steht morgens mit der Konstitution auf und geht abends mit der Despotie zu Bette, von wegen lauter Realpolitik. Ihr schwärmtet vorgestern für die »breiteste demokratische Basis«, ihr entzücktet euch gestern über die Nationalschützenjoppe des Koburgers, ihr national-vereinelt heute für »das gute Recht« des Augustenburgers und ihr küßt morgen die Kürassierstiefel Bismarcks; denn »die Politik« – sagt ihr – »ist die Wissenschaft des Möglichen«, zu Deutsch: des Sichmöglichmachens. Fahrt fort, diese Wissenschaft zu pflegen; es ist euer Beruf. Der unsrige ist, die Fahne der armen Idealpolitik vor der Schmach zu bewahren, von Lakaienfüßen in den Kot des »Möglichen« gestampft zu werden, und wenn ihr, gemein auf die Gemeinheit spekulierend, der urteilslosen Menge eure Rechtfertigungen und Lobpreisungen des Cäsarismus vorlitaneit, immer wieder mit der unbequemen Mahnung dazwischenzufahren, daß das Sterben eines Cato und Vercingetorix trotz alledem und alledem edler gewesen ist als das Leben Cäsars.
Doch warum und wofür sich ereifern? spottkichert die Ironie, die in unsern Tagen, gerade wie sie es in Tagen des Horaz getan, jedwedem Pathos auf die Fersen tritt und über die Schultern guckt. Wofür sich ereifern? Etwa für die » rudis indigestaque moles« (rohe, ungeordnete Masse) von Volk, für den unzuverlässigen, wandelbaren, gedankenlosen großen Haufen, der sich von jedem frechen Schwindler betören und von jedem kecken Cäsar tyrannisieren läßt? Wahrhaftig, das wäre der Mühe wert! Oder darum sich ereifern, weil – wie das ja immer so war, ist und sein wird – die Toren von den Schelmen genasführt werden? Wohl bekomm es ihnen! Ihr anderen, Mitglieder der fast unsichtbar klein gewordenen Gemeinde von Idealgläubigen, habt ja immer noch die tröstliche Gabe, an meiner Hand hoch über diesen Stalldunstkreis euch emporzuheben, in die heiteren Regionen, von wo herab gesehen das Gekrabbel und Gezappel des Ameisenhaufens Menschheit in bunthumoristischen Farben spielt.
Und so sei es, holde Trösterin. Ein Narr, der gegen den Strom zu schwimmen versucht! Warum war der Vercingetorix so lächerlich halsstarrig, mit dem Eroberer seines Landes nicht beizeiten ein Kompromiß zu schließen? Er hätte dann, statt in der Tiefe des kapitolinischen Felsens erdrosselt zu werden, als römischer Pensionär auf einer Villa zu Tibur oder Bajä noch lange ein vergnügliches Leben führen können. Was aber den »steifleinenen Pedanten« Cato betrifft, bah, warum hat er sich in Utika totgestochen, statt sich vom großmütigen Cäsar zum geheimen oder geheimsten Hofrat machen zu lassen? Vivant die Cäsaren! Es lebe die Realpolitik! Hoch das Millionarium! Freut euch des Lebens, weil noch der Humbug blüht! Sind wir nicht ungeheuer vorgeschritten? Wissen wir nicht alles oder doch beinahe alles? Sind wir, dank unseren Naturwissenschaften und unserer Technik, nicht auf einer solcher sublimen Höhe der Kultur und Humanität angelangt, daß wir von Tag zu Tag mörderischere Mordwaffen zu erfinden vermögen? Ist unsere Volkswirtschaftslehre nicht so wundervoll wissenschaftlich entwickelt, daß sie demnächst mit Leichtigkeit das soziale Problem lösen, d. h. ganz Europa in eine Kaserne verwandeln und Millionen und wieder Millionen von Soldaten drillen und von Zeit zu Zeit – alles in majorem civilisationis gloriam – einander zerfleischen lassen wird? Wie diese Aussicht unsere Jugend begeistern muß! Aber was da »begeistern«? Zeitwidriges, unpraktisches, geradezu strafbares Wort! Alsogleich streicht es aus dem Wörterbuch der Realpolitik! Darin stehen ganz andere, unendlich viel klügere und praktischere Dinge. Wie hat der gute Giusti in seinem Meistercanto vom Realpolitiker (» gingillino«) gesungen?
»Die Wetterwendigkeit und Gaunerei,
Die Habsucht, Feigheit und Betrügerei
Und noch so allerlei
Lehrschwestern, als da sind die Schlechtigkeit
Und Niederträchtigkeit,
Die, allzumal dem Dienst des Staats geweiht,
Die lieben Söhnlein in die Lehre nehmen,
Daß sie zu Zaum und Zügel sich bequemen« …
Ja, die genannten lieben Lehrschwestern, sie wissen, was zeitgemäß erziehen heißt. Sie verstehen den Begeisterungskitzel, der bekanntlich die jugendliche Unerfahrenheit zu allerhand Torheit verführt, beizeiten auszutreiben. Sie machen die jungen Leute, noch bevor ihnen der Bart sproßt, praktisch und realpolitisch, so praktisch und realpolitisch wie jenen verständigen Jüngling, von dem in der Schweiz die heitere Heldensage geht, er habe schon 1847, als seine Kommilitonen sich zu der Idealpolitik verstiegen, eine Freischar bilden und gegen die Jesuiten oder Jesuiterlinge zu Felde ziehen zu wollen, diesen Antrag vom Standpunkt der Realpolitik aus bekämpft und beseitigt durch den ganz richtigen Einwurf, im Kriege würde in der Regel geschossen; da wäre es also immerhin eine Möglichkeit, daß der eine oder andere von ihnen totgeschossen werden könnte und damit zugleich das von den Eltern auf seine Ausbildung verwandte Kapital samt Zinsen in die Brüche ginge. Solche Mutii Scävolä müssen wir haben; die stehen auf der Höhe der Zeit. Darum pfui über die altmodischen Rumpelkammerstücke Poesie, Enthusiasmus, Gesinnungstreue, Charakterfestigkeit, Konsequenz und dergleichen Nichtsnutzigkeiten mehr!