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Dämonen oder Helden sind die andern,
Die durch der Weltgeschichte heißen Kampf
Bald tief in Nacht, bald hell im Lichte wandern.
Julius Mosen.
Für urteilsfähige Geschichtskenner bedarf es keiner Erinnerung, daß die Tatsachen, Anschauungen und Stimmungen, welche in dem auf den folgenden Blättern mitgeteilten Briefwechsel der beiden gewesenen, hier mit ihren Ordensnamen bezeichneten Illuminaten vorkommen, durchweg und bis ins einzelne hinein auf unanfechtbar quellenmäßigen Zeugnissen beruhen. Meine Absicht war, die kultur- und sittengeschichtlichen Merkmale und Gegensätze des deutschen und des französischen Lebens im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu deutlicher Anschauung zu bringen. Die Verwirklichung dieser Absicht ist eine fragmentarische geblieben.
Weimar, August 1794.
Erinnerst du dich, Freund und Bruder? Als wir vor einem Jahrdutzend zu Eleusis Ingolstadt. vor dem Illuminatus Illuminans standen, um den Areopagitengrad zu empfangen, da gab Spartakus Weishaupt. dir als Weihewort: »Des Wackern Welt ist, wo er wirkt!« und mir: »Des rechten Menschen wahres Vaterland ist die Menschheit!« Wohlan, mochten Judasse, Inquisitoren und Despoten den Orden in seinem äußeren Bestande vernichten, ich bin doch mit ganzer Seele Perfektibilist und Illuminat geblieben und halte demnach den Glauben an die Wahrheit und an das Heil der Grunddogmen: Vervollkommnungsfähigkeit des Menschengeschlechts und Weltbürgertum! unerschütterlich fest. Ja, noch immer schwillt mir das Herz in der Brust bei dem Gedanken, daß Bildung und Aufklärung über alle Hindernisse triumphieren werden und müssen; daß im Fluge der Jahrhunderte und Jahrtausende die Natur ihre Aufgabe lösen muß und lösen wird; daß eine Zeit kommt, ein Tag erscheint, wo die seelenzerreißenden Mißklänge des von Pfaffen gepredigten und von Tyrannen unterhaltenen Krieges aller gegen alle in die Harmonie des Weltfriedens sich auflösen, ein Tag, wo die Nationen, von der schrecklichen, künstlich ihnen eingeimpften Pest des Hasses, der Feindseligkeit und Unterdrückungssucht genesen, ihre wahren Interessen erkennen, auf den Trümmern der Zwingburgen, der Königsthrone und Götzenaltäre das Panier der Humanität und Bruderschaft aufpflanzen und unter ihm zu einer Völkerfamilie sich sammeln werden, wie liebende Brüder, die im langentbehrten Vaterhause endlich sich wiederfinden und nun einander haben und halten bis ans Ende der Tage.
Du siehst, ich bin kein Spieß- oder Pfahlbürger, kein Patriot von Lalenburg oder Schilda. Ich kann es verstehen und mitfühlen, daß der große Geist und die weite Seele eines Lessing über die Schranken des Patriotismus sich hinweggehoben, um auf Adlerfittichen in der Ätherregion des kosmopolitischen Bewußtseins sich zu wiegen. Aber trotzdem wollte sich doch unwillkürlich in mir ein heftig Zürnen regen, als du, seit vier Jahren als ein Verschollener von mir betrauert, deinen hochwillkommenen Brief aus der Hauptstadt der Neufranken mit der Frage beschlossest: »Was macht ihr denn da drüben im Heimatlande des Sauerkrauts, der Knechtseligkeit und der Schwarmgeisterei?«
Denn in jedes fühlenden und denkenden Menschen Brust muß die Saite Vaterland, ob sanft oder unsanft angeschlagen, einen Klang geben, und du, in dessen Seele dereinst die Vollglut von Klopstocks Vaterlandsoden loderte, du müßtest die vollständigste aller Metamorphosen durchgemacht haben, wenn ich glauben sollte, daß hinter dem Dorngestrüpp deiner Ironien und Sarkasmen nicht noch immer die rote Rose der Vaterlandsliebe sich bärge. Du tust auch unrecht, wenn du in deinem Schreiben, das mir den so lang und schmerzlich entbehrten Freund und Herzbruder wiedergab, den Umstand, daß das »ungeheure Beispiel« der Französischen Revolution diesseits des Rheins nicht zündend gewirkt, der »deutschen Bedientenhaftigkeit« auf Rechnung setzest. Es läßt sich für die Tatsache des Nichtzündens in der Masse der Deutschen ein richtigerer und zugleich ehrenhafterer Grund angeben, wobei ich ganz davon absehe, daß, wie du ja selber halb und halb zugibst, der ganze Verlauf der furchtbaren Umwälzung nicht danach angetan war, die Nachbarvölker zur Nachahmung zu reizen. Auch davon will ich als von allgemein Bekanntem und Anerkanntem absehen, daß die bildungs- und urteilslosen Massen, soweit sie überhaupt von der geistigen Strömung des Daseins berührt werden, überall und allzeit Wahn und Lüge, die lächerlichsten oder infamsten Afterwitzigkeiten und Blödsinnigkeiten mit Begierde aufnehmen und mit Zärtlichkeit hegen und pflegen, während ihnen die Forderungen der Vernunft und Gerechtigkeit, die Ideen des Wahren und Schönen stets mühsam aufgedrängt, ja sogar mit Gewalt aufgezwungen werden müssen. Denn Dummem ist Dummes, Gemeinem Gemeines wahlverwandt. Allein die Ursache, aus welcher die Französische Revolution bei den deutschen Bevölkerungen keine Teilnahme und Nachahmung fand, war vor allen diese: Bei uns in Deutschland war, seit dem Übergange des brutalen Sultanismus in den erleuchteten Despotismus, in vielen Staaten und Stätchen nicht nur, sondern weitaus in den meisten für den Bauer und Bürger, für die Hebung der Landwirtschaft, der Gewerbetätigkeit und des Verkehrs unendlich viel mehr geschehen als in Frankreich. Der Beweis läßt sich beibringen und ist beigebracht, daß namentlich im südwestlichen und mittleren Deutschland durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, woran in vielen Gegenden die Abschaffung des Frondienstes und der sinnlos drückenden Hut- und Triftservitute sich anschloß, in den Ackerbau, in das ganze bäuerliche Dasein und folgerichtig auch in das bürgerliche eine neue Regung und Bewegung gekommen und daß in der Bauernschaft und im Bürgertum, wie die Volkszahl, so auch der Wohlstand ganz augenscheinlich gestiegen war, während dagegen in Frankreich die mittelalterliche Knechtschaft, Barbarei und Armut noch immer mit ihrer ganzen Bleiwucht auf dem Volke lagen. Als dieser Zustand den naturnotwendigen Ausbruch von 1789 herbeiführte, fand er diesseits des Rheins nur bei den Gebildeten Beachtung und Teilnahme, bei den Massen aber nicht, weil diese, nur um des Lebens Notdurft und um ihr sinnliches Behagen sich kümmernd, materiell sich leidlich wohlbefanden. Die Leute aber, die man zu den gebildeten Ständen zu zählen pflegt, werden unter keinen Umständen eine Revolution machen, soweit eine solche nämlich nicht durch Worte gemacht werden kann.
Da ist nun zu beachten und dir, einem seit Jahren in der Fremde Weilenden, in Erinnerung zu bringen, daß es an kühn revolutionärer Wortsaat auch bei uns nicht gefehlt, daß ihr aber aus dem eben beregten Grunde der empfängliche Volksboden gemangelt hat. Es wäre ein grober Irrtum, zu meinen, erst die Französische Revolution habe in Deutschland das politische Denken geweckt. Von den unklaren altertümelnden Phantasien und fratzenhaften Teutonismen der Klopstockianer will ich gar nicht reden, wohl aber der rastlosen und fruchtbaren patriotisch-publizistischen Tätigkeit von Männern wie die beiden Moser, wie Möser und Schlözer dankbar gedenken. Und hat nicht unserer besten Geister einer, hat nicht Bruder Humanus Herder, der mit Goethe und dem Herzog Karl August – dieser unter dem Namen Äschylus – dem Illuminatenorden angehörte. schon vor sechzehn Jahren den großen Jammer der Deutschen, unsere staatliche Zerrissenheit und Zerstücklung, unsere Vaterlandslosigkeit mit Scharfblick erkannt und mit Trauer genannt? Ja, schon im Jahre 1778 richtete er an den Kaiser Joseph den Zuruf:
»O Kaiser! Du von neunundneunzig Fürsten
Und Ständen, wie des Meeres Sand,
Das Oberhaupt, gib uns, wonach wir dürsten,
Ein deutsches Vaterland!«
Derselbe große Seher und Prediger der Humanität, der leider inmitten der unseligen deutschen Verhältnisse keine Stellung gefunden, in der seine hohen Gaben zur vollen Entfaltung und Wirkung hätten gelangen können, er hat bei jeder Gelegenheit die »duldsam träge Eselei« unseres Volkes wie die Laster und Frevel unserer Fürsten mit Flammenworten gezüchtigt. Zur Zeit, als der ruchlose Menschenhandel, den der ekelhafte Sünder, der Landgraf von Hessen-Kassel, und andere fürstliche Menschenfleischkrämer nach England und Holland trieben, im höchsten Schwunge war, ließ Herder ein Strafgedicht ausgehen, worin es von den verschacherten Soldaten hieß:
»Sie sind in ihrer Herren Dienst
So hündisch treu, sie lassen willig sich
Zum Mississippi und Ohiostrom,
Nach Kanada und nach dem Mohrenfels
Verkaufen. Stirbt der Sklave, streicht der Herr
Den Sold ein, doch die Witwe darbt,
Die Waisen ziehn den Pflug und hungern. Nun,
Das schadet nicht, der Fürst braucht einen Schatz.«
Mannhafter und deutlicher hat sicherlich kein englischer oder französischer Oppositionsmann des Jahrhunderts gesprochen, und selbst in den berühmten Briefen des Junius oder in den nicht minder berühmten vier Mémoires des Beaumarchais finde ich keine Stelle, welche an konzentriertem Zorn der Herderschen Auslassung gleichkäme oder gar sie überträfe. Ihren schwungvollsten und energischsten Ausdruck fand aber die deutsche Freiheitsstimmung an verschiedenen Stellen der, wie dir wohl erinnerlich, 1783 von Gedike und Biester gegründeten, höchst verdienstlichen »Berliner Monatschrift«, welche z. B. im genannten Jahre eine Ode auf die Befreiung Amerikas brachte, worin die demokratische Gleichheit begeistert gepriesen
»O Land, dem Sänger teurer als Vaterland!
– – –
Dein Schiffheer deckt die Meere, die goldne Saat
Füllt deine Fluren, Tugend und Treue blühn;
Der Mietlingssklave sieht's und staunet,
Fühlt sich, wird Bürger und küßt als Brüder,
Die er vertilgen sollte. Du schenkst ihm Haus
Und nie geträumtes Erbteil und nennst ihn Freund;
Froh krümmt er schon das Schwert zur Sichel,
Segnend die bessere Hemisphäre,
Wo süße Gleichheit wohnet, wo Adelsbrut,
Europens Pest, die Sitte der Einfalt nicht
Befleckt, verdienstlos bessern Menschen
Trotzt und vom Schweiße des Landmanns schwelget.« und die Verjagung der Fürsten Europas, der Triumph des republikanischen Prinzips auch in unserem Erdteil bestimmt prophezeit wurde
»Und du, Europa, hebe das Haupt empor!
Einst glänzt auch dir der Tag, da die Kette bricht,
Du, Edle, frei wirst, deine Fürsten
Scheuchst und
ein glücklicher Volksstaat grünest!«.
Siehst du, so weit, so hoch verstieg man sich schon in dem »Heimatland des Sauerkrauts, der Knechtseligkeit und der Schwarmgeisterei«, noch bevor es einen Bastillesturm, eine Augustnacht, einen Konvent, einen Wohlfahrtsausschuß und – eine Guillotine in der Welt gab. In Wahrheit aber war und ist es hierzulande und allenthalben in Europa Schwarmgeisterei, von Demokratie und Republik reden zu wollen bei dem jetzigen Bildungs-, d. h. Unbildungsgrade der Völker. Nicht politische Stichworte, nicht politische Formen sogar, sondern humane Kultur und sittlicher Charakter schaffen und erhalten die Freiheit und Wohlfahrt der Nationen. Es ist gleich viel wert, ja, und gleichbedeutend, ob ein deutscher Ochse brüllt: »Es lebe der König!« oder ein französischer Esel schreit: » Vive la république!« …
Deine Frage: »Was sagen denn die Stimmführer deutscher Nation zum Gange der Dinge in Frankreich?« ist wohl auch nur ironisch gemeint. Denn leider kann ja ein Deutscher, im Hinblick auf das kläglich in Regensburg spukende Reichsgespenst, von seiner »Nation« nur im Sinn und Ton bitterer Selbstverspottung reden. Unsere Stimmführer sind, mit wenigen Ausnahmen, antirevolutionär gestimmt; vollends seit die unerbaulich in Szene gesetzte Klubistenposse zu Mainz so tragikomisch ausgegangen ist. Der alte Klopstock hat, sowie er erfahren mußte, daß man eine Staatsumwälzung nicht mit idyllischen Gefühlen und Rauschbauschphrasen mache, die Segensoden, womit er die Revolution anfänglich begrüßt hatte, mittels einer ganzen Reihe von Fluchoden widerrufen. Wieland, der in seinem »Merkur« die Sache der Neufranken bis zur Proklamierung der Republik gehalten und verteidigt hat, stimmt jetzt Jeremiaden über das Schalten und Walten des Konvents an, was ihm seine Freunde Knebel und Herder übel vermerken; denn diese beiden, und Bruder Humanus insbesondere, sind standhafte Demokraten, und sie überließen sich nie der kindischen Illusion, eine große Revolution könnte und müßte sich so geräuschlos, sauber und grandezzamäßig vollziehen wie die Haupt- und Staatsaktionen fürstlicher Hochzeiten und Kindertaufen an einem unserer Duodez- und Sedezhöfchen. Was Goethe angeht, so ist er, obwohl von Hufschmieden und Schneidern abstammend, ein geborener Aristokrat im Hochsinne des Worts, eine jupiterliche Natur, die auch in seinem Äußern mächtig und prächtig sich ausgeprägt hat, wenngleich nicht geleugnet werden kann, daß unser Jupiter in Haltung, Gebaren und Sprechweise einen höchst störsamen Zug reichsstädtischer Versteifung nicht zu verbergen vermag.
Wenn nun der Dichter des Götz, des Werther, des Prometheus und des Faust in seiner Sturm- und Drangzeit auch ein Stück von Revolutionär gewesen ist, und zwar ein gewaltiges Stück, so hat Se. Exzellenz der Herr Kammerpräsident und Geheimrat von Goethe dafür poetisch Reu' und Leid gemacht oder, wie böse Zungen sagen, sehr unpoetisch. Denn, fürwahr, nur ausgemachte Goethenarren – es gibt deren eine gute Zahl – können in den dramatisierten Fehdebriefen, betitelt »Die Aufgeregten« und »Der Bürgergeneral«, die der große Dichter gegen die Französische Revolution zu erlassen sich bemüßigt fand, etwas Besseres finden als den Gelegenheitskram eines Hofmanns, der darüber verstimmt ist, daß die Weltgeschichte anderwärts ein anderes Gesicht macht als am kleinen Musenhof zu Weimar. Man muß jedoch billig berücksichtigen, daß alles Revolutionärgewaltsame zwar nicht dem werdenden Goethe zuwider war, wohl aber der ganzen Natur und Art des gewordenen zuwider sein muß. Da er für das Verständnis der Geschichte gar kein Organ besitzt – sein »Egmont« bezeugt es –, so kann und will er in allen den großen Krisen und Katastrophen, die die Stationen auf dem Vorschrittsweg der Menschheit bezeichnen, nur gemachte Gewaltsamkeiten sehen, nur willkürliche Eingriffe in sein Ideal »ruhiger Bildung«. Daher hat er neulich dieses Epigramm niedergeschrieben, welches mir zu sehen gegönnt war:
»Was das Luthertum war, ist jetzt das Franztum in diesen
Letzten Tagen; es drängt ruhige Bildung zurück –«
worin er, wie du siehst, Reformation und Revolution in einen Verdammungstopf zusammenwirft. Die Bonzen werden sich, wenn sie es erfahren, weidlich daran erbauen und erfreuen.
Du wirst es ohne Zweifel begreiflich finden, daß unser weiland Ordensbruder also zur Revolution sich stellt und verhält, ja, daß er im direktesten Gegensatz zum neufränkischen Evangelium der Freiheit und Gleichheit in seinem »Tasso« nachdrücklich ausgesprochen hat:
»Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein,
Und für den Edlen ist kein schöner Glück,
Als einem Fürsten, den er ehrt, zu dienen …«
Was dich aber nicht wenig in Verwunderung setzen wird, ist, daß der Dichter der »Räuber«, des »Fiesko«, der »Luise Millerin« und des »Karlos« eifrigst in dasselbe widerrevolutionäre Horn bläst. Für den über den Wolken zwischen den Sternen wandelnden Idealismus Schillers konnte ein Ereignis wie die Französische Revolution nur störsam sein. Denn solche Wolkengänger und Sternenwandler sehen mit Verachtung darüber weg, was innerhalb des Dunstkreises der gemeinen Wirklichkeit vorgeht, und wenn, was nicht ausbleiben kann, diese Vorgänge ihnen dann und wann einen unliebsamen Stoß versetzen, so schelten sie zornig über die leidige Tatsache, daß ihren Idealen die Prosa des Lebens nicht entspreche. Eine so wesentlich idealisch angelegte, stets auf das Höchste und Edelste gerichtete Natur wie die Schillers ist nur allzu geneigt und bereit, zu übersehen, daß große Ideen, wenn sie nicht wirkungslos im Himmelsblau des Idealismus verflattern sollen, mit gemeinem Erdenstaub sich umkleiden, in Gestalt von menschlichen Interessen und Leidenschaften zu Fleisch und Blut werden müssen. Daraus, sowie aus unserer deutschviereckigen Unbeholfenheit in Sachen der Politik, aus unserer angeborenen staatsbürgerlichen Nullität, erklärt es sich, daß unser teurer Schwabe, ohne aufzuhören, ein Dichter der Freiheit zu sein, von Anfang an gegen die Revolution gestimmt sein konnte. Er hat, wie ich aus besten Quellen weiß, nach Eröffnung der Nationalversammlung im Mai 1789 des bestimmtesten verneint, daß diese etwas Rechtes und Dauerndes schaffen könnte. Ferner hat er beim Empfang der Nachricht vom Bastillesturm den Jubel, welchen seine Braut, Lotte von Lengefeld, und ihre Schwester, Frau von Beulwitz, darüber aufschlugen, mit den Worten gedämpft: »Die Franzosen kennen und anerkennen keine andere Ordnung als die militärische, und es ist daher höchlich zu bezweifeln, daß sie sich republikanische Gesinnungen anzueignen, daß sie überhaupt die Freiheit zu ertragen vermögen.« Als der Prozeß Ludwigs XVI. bevorstand, trug sich Schiller alles Ernstes mit dem Gedanken, eine Verteidigungsschrift für den entthronten Monarchen dem Konvent vorzulegen. Die Hinrichtung des Königs erfolgte aber, bevor der Dichter seine angefangene Arbeit vollenden konnte. Seither und vollends seit der Guillotinierung der Königin spricht er von den Franzosen nur noch als von elenden »Schindersknechten«.
Sei gegrüßt und befriedige bald vollauf die gerechtfertigte Neugier des Freundes, zu erfahren, was alles du die letzten Jahre her erlebtest.
Paris, Oktober 1794.
Es gab eine Zeit, eine kaum verflossene Zeit, wo ich es lächerlich fand, daß Danton, dessen Stärke sonst und überhaupt im lässigen Hinwerfen oder zermalmenden Herausdonnern von Gigantismen bestand, die Klagefrage tun mochte: »Kann man das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehmen?« Denn ich, mein Freund, ich hatte auf der Rheinbrücke bei Kehl allen deutschen Staub und Schmutz sorgsam von den Reiseschuhen geschüttelt, um ja nichts Vaterländisches mit hinüberzunehmen in das gelobte Land der Freiheit und Gleichheit. Ich arbeitete mit allem Fleiße daran, mich zu entdeutschen, und warum sollte es mir nicht gelingen? Haben uns nicht deutsche Prinzen und Prinzessinnen, welche so oder so auf fremde Throne berufen worden, herrliche Beispiele von raschester und vollständigster Entdeutschung gegeben? Hat nicht z. B. die deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst, Katharina II., stets als eine Todfeindin ihres Vaterlandes sich erwiesen? Hat nicht die Königin Marie Antoinette im Mai 1777 an ihre Schwester Marie Christine frohlockend geschrieben: » Je me sens françoise jusqu'aux ongles«? (Ich fühle mich französisch bis zu den Fingernägeln)? Mußten wir uns nicht von deutscher Untertänigkeit wegen angeeifert fühlen, solche allerhöchsten Vorbilder, welche ich leicht bis zu einer stattlichen Zahl vermehren könnte, in submissester Unterwürfigkeit ersterbend, nachzuahmen?
Wohl, ich wähnte, es wäre mir wirklich gelungen. Da führt mich vor etlichen Wochen mein Unstern in den Handschriftensaal der Nationalbibliothek und spielt mir dort einen Kodex altdeutscher Gedichte in die Hände, den die Franzosen zur Zeit Ludwigs XIV. zu Heidelberg oder sonstwo gestohlen haben. Eingedenk, daß ich in den Flegeljahren meines Klopstockischen Teutonismus eine Weile altdeutsche Studien getrieben, d. h. mit den Göttinger Hainbündlern einen Hoppsassa um die Wodanseiche getanzt hätte, durchblätterte ich den Band, und als ich auf die Stelle stieß, wo ein mittelalterlicher Dichter wehklagt:
»Owê war sint verswunden alliu mîniu jâr!
ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr? …
liut unde lant, dar inn ich von kinde bin erzogen,
die sint mir frömde worden reht als ez sî gelogen –
O weh, wohin verschwunden ist so manches Jahr?
Träumte mir mein Leben, oder ist es wahr? …
Leut' und Land, die meine Kinderjahre sah'n,
Sind mir so fremde jetzt, als wär' es Lug und Wahn.
da überstürzte mich nicht das Heimweh, wohl aber das Gefühl der Heimatlosigkeit wie ein Katarakt von Schmerzen, und ich glaube fast, mir altem Narren wurden die Augen naß. Ich weiß, ich vermöchte nicht mehr unter euch zu leben; ich könnte in eurer von Theologismen, Servilismen und Philisterismen verpesteten Atmosphäre nicht atmen; die deutsche Krähwinkelei macht mir noch in der Erinnerung übel, und ich habe sattsam erfahren, welche jammerselige Engherzigkeit, welche hartgesottene Selbstsucht, welche kleinliche Bosheit nur allzu häufig hinter eurer vielgerühmten »Gemütlichkeit« steckt. Aber trotz alledem hab' ich Mühe, mich aufrecht zu halten unter der Last des Gefühls, vaterlandslos dazustehen in der unabsehbaren Öde eines phantastischen Weltbürgertums, und wenn ich den Blick rheinüber wende und bedenke, daß unser Volk die Vormacht Europas sein könnte, während es, und zwar durch eigenes Verschulden, nur dessen Spott ist, da siedet mir der Zorn in der Brust und mein Herz möchte aufschreien vor Pein. Siehst du, man muß ein deutscher Prinz oder eine deutsche Prinzessin sein, um sich wirklich und völlig entdeutschen zu können. An und in uns anderen erneut sich immer wieder die alte Geschichte vom horazischen Topf:
»
Quo semel est, imbuta recens servabit odorem
Testa diu …
Ein neuer Topf wird immer nach dem riechen, womit er zum ersten Mal gefüllt worden ist.«
Was du mir vom Schiller schriebst, verwunderte mich gar nicht. Der Mann ist nach allem, was ich von ihm weiß, ein Deutscher höchster Potenz, ein wahrer Idealmensch unserer Nationalität. Es war der große deutsche Jammer zu aller Zeit, daß die Besten unseres Volkes von der Idee zur Tat keine Brücke zu schlagen verstanden, ja nicht einmal schlagen wollen. Denn beim Brückenschlagen geht es schlechterdings etwas turbulent und unreinlich her, und man darf nicht davor erschrecken, bis an die Knie und bis über die Knie und gelegentlich bis an den Hals in trübem Wasser zu stehen und im Schlamm und Morast zu arbeiten.
Die ewigen Wolkenkuckucksheimer! Sie verlangen, daß sich die Weltgeschichte in der Wirklichkeit gerade so sauber und nett, so ungefährlich und ästhetisch ausnehme wie in Gemälden oder auf der Bühne. Freilich, keine Frage, das Brautbett ist auch ein schöner Ding als das Kindbett, und doch findet der Gedanke des Brautbetts seine Erfüllung und Verwirklichung nur im Kindbett. Mit eurer »ruhigen Bildung«! Das ist ja doch nur eine blöde Marotte, die durch das Buch der Geschichte, wie jeder Schuljunge wissen könnte, von Blatt zu Blatt Lügen gestraft wird. Denn niemals haben die Dummheit und Nichtswürdigkeit der Menschen es gestattet, daß ein tüchtiger Vorwärtsruck geschah ohne die heftigsten Erschütterungen und wütendsten Kämpfe. Kümmert sich etwa eine in der Qual der Wehen sich windende Kreißende um die Vorschriften der Anstandslehre? Mitnichten! Und die kreißende Menschheit, wenn sie unter vulkanischen Krämpfen ein neues Zeitalter in die Welt setzte, sollte dabei säuberlich und ordentlich nach dem Katechismus »ruhiger Bildung«, wie ihn stubenhockende Poeten und Gelehrte zusammengefabelt haben, verfahren können? Firlefanz!
Sage doch dem Herrn Hofrat Schiller – denn er scheint es nicht zu wissen –, daß er ein Mitbürger der »elenden Schindersknechte« ist, ein » Citoyen français« in aller Form. Denn die Nationalversammlung hat ihm vor zwei Jahren zugleich mit Washington, Kosciusko, Wilberforce, Klopstock und Pestalozzi das französische Bürgerrecht als Ehrengeschenk zuerkannt. Man spielt hier im Theater des Marais seine »Räuber« unter dem Titel » Robert chef des brigands«, aber ganz sansculottisch zugeschnitten und verhunzt. Ich sah dort im vorigen Jahre das Stück in Gesellschaft des Barons Wilhelm von Wolzogen, der sich damals als Geschäftsträger des Herzogs von Württemberg hier befand. Es kam uns vor wie eine Büste des Brutus, die man, wie um die Züge des Tyrannentöters recht grell hervortreten zu lassen, mit Blutfarbe angepinselt hatte. Da Schiller durch die Hinrichtung des Königs so sehr erschüttert worden, so mache ihn doch gelegentlich darauf aufmerksam, daß die Republikaner nur das Opfer vollzogen, das die Konstitutionellen zubereitet hatten. Diese Herren, die Lafayette, die Lameths, die Duport, die Maubourg, kurz, die ganze konstitutionelle Blase, sie hat von Anfang an nichts anderes gewollt, als an die Stelle der völlig unhaltbar gewordenen Privilegien des Ancien Régime ein unter den Formen des verfassungsmäßigen Königtums neu und fest zu begründendes Privilegium der Noblesse und Bourgeoisie zu setzen. Nobles und Bourgeois sollten fortan in Frankreich sein, was Nobility und Gentry in England sind, die Herren des Monarchen, die Nutznießer der Monarchie. Um die wirkliche Sorte der Loyalität und des Monarchismus der konstitutionellen Führer zu erkennen, genügt es, ihr Gebaren mit angesehen zu haben, als die Flucht des Königs nach Varennes in Paris bekanntgeworden war. Wie Lafayette vergnügt hohnlächelte! Was er für zynische Witze ausgehen ließ! Wenn man in den konstitutionellen Kreisen von dem entflohenen Monarchen sprach, hieß es ganz ungeniert: » Ce gros cochon là est fort embarrassant« (Dieses dicke Schwein ist sehr lästig) – und ganz offen erörterte man die Frage: » L'enfermerat-on? Régnera-t-il? Lui donnera-t-on un conseil?« (Wird man ihn einsperren? Wird er regieren? Wird man ihm eine Ratsversammlung geben?) Es hat nie eine schnödere Heuchelei auf Erden gegeben, als das konstitutionelle Wesen, das aber eigentlich gar kein Wesen ist, sondern eben nur Schein, Gaukelei, Blendung und Selbstverblendung …
Wie ich die letzten Jahre her gelebt und was ich erlebt, fragst du? O Bruder von Eleusis her, Ungeheures! Bei der Erinnerung, was ich gesehen, was ich gehört, was ich erfahren, wandelt mich oft ein Schwindel an, ein Sausen ist in meinen Ohren wie Meeresbrausen, und die Pulse meiner Schläfen pochen, als wollte mir der Kopf zerspringen. Der Lavastrom des Schreckens, der sich an mir vorübergewälzt, hat mir mit seiner Höllenglut die Haare weißgesengt. An meinen jetzt vor Begeisterung flammenden, jetzt vor Entsetzen starrenden Augen ist eine Kolossaltragödie vorübergegangen, die wohl kaum ihresgleichen hat auf Erden. Menschengötter und Menschenbestien die Schauspieler und Schauspielerinnen! Und inmitten dieses rasenden Wirbelwindes von Erhabenstem und Gemeinstem, von Scheußlichstem und Rührendstem hab' ich gelebt!!! Weißt du, was das heißen will, gelebt haben im Vulkanskrater des terroristischen Paris? Nein, du kannst es nicht wissen; ich aber, ich weiß es von der Stunde an, wo ich der Sphinx Revolution aus nächster Nähe ins tödliche Auge sah, wo sie mich packte mit ihrer Löwenkrallenfaust, mich als »Verdächtigen« in die »Abtei« schleuderte und schon im Begriffe war, in die Pikenspitzen und Säbelschneiden der Septembermörder mich zu werfen, als ein Machtwort Dantons, gesprochen auf Betreiben des armen, guten, närrischen Redners des Menschengeschlechts, unseres Landsmanns Cloots aus Kleve, mich rettete.
Ah, wer wie ich in der Nacht vom 2. auf den 3. September 1793 einen Blick in den Hof der Abtei getan, der hat in den Orkus geschaut! Und doch überrieselte mich noch ein eisigeres Grauen, als mir vor Jahresfrist die arme gute Rosalie Lamorlière, welche der Königin Marie Antoinette in der Conciergerie die letzten Dienste erwiesen hat, erzählte, daß und wie noch in ihren letzten Stunden die Verurteilte brutalisiert worden ist. Die Unglückselige war gezwungen, angesichts des Gendarmerieoffiziers, welcher Befehl hatte, sie Tag und Nacht nicht aus den Augen zu lassen, ihre Schafottoilette zu machen, ja, angesichts dieses Menschen ihren letzten Hemdenwechsel vorzunehmen. Sie bückte sich zu diesem Zwecke möglichst hinter ihre ärmliche Bettstelle und bat die Rosalie Lamorlière, die Magd des Kerkermeisters, zwischen das Bett und den Offizier sich zu stellen. Das Stück Viehmensch von Gendarm aber drängte die Magd hinweg, und als die Königin mit großer Sanftmut (» avec un grande douceur«) zu ihm sagte: »Mein Herr, im Namen der Ehrbarkeit gestatten Sie mir, das Hemd ohne Zeugen zu wechseln!« entgegnete er grob: »Was, Ehrbarkeit? Meine Order lautet, alle Ihre Bewegungen scharf zu überwachen!«
Ich bin kein Royalist und ich bin kein Empfindler. Ich glaube noch heute, daß der 21. Januar 1793 ein weltgeschichtlicher Sühnungstag für die bergehohen Sünden der Valois und der Bourbons gewesen ist. Ich bin noch jetzt überzeugt, daß Marie Antoinette zwar weit über ihr Verschulden, aber keineswegs schuldlos gelitten hat. Ich weiß, ihr aristokratischer Hochmut war verletzend und herausfordernd, ihre Verschwendungssucht zügellos, ihre Manie, die Polignacs und ähnliches Ungeziefer mit vollen Händen aus der Staatskasse schöpfen zu lassen, sündhaft, ihre Einsicht in die Zeitlage gleich Null und ihr Widerstand gegen die Staatsreform heftig und taktlos, wie auch früher ihr Benehmen gegen die Herren Lauzun, Dillon, Coigny, Fersen, mildestens gesagt, nicht eben taktvoll gewesen war. Aber das alles war weggewischt von der Tafel der Tatsächlichkeit, als ich am 14. Oktober vorigen Jahres Marie Antoinette vor dem Revolutionstribunal stehen sah. Nicht die gefallene Enkelin der Cäsaren, nicht die gedemütigte Tochter der stolzen Marie Theresia, nein, das beleidigte Weib, die beschuldigte Gattin, die beschimpfte Mutter war es, die mir schmerzlichste Teilnahme abgewann.
Wenn ich jenes Tages gedenke, richtet sich vor meinem innern Auge das Bild der Königin empor, rein, edel, groß, mit der ganzen Majestät des Unglücks angetan und vom hellsten Nimbus des Heldentums umleuchtet. Und als nun die Revolution ihre meines Erachtens größte Abscheulichkeit und Infamie beging, als auf des wahnwitzigen Schurken Hébert Veranlassung die unerhörte Beschuldigung, den eigenen unmündigen Sohn blutschänderisch verdorben zu haben, gegen die Angeklagte erhoben wurde, – der Blick, welcher da ihren Augen entfiel! Niemals wieder ist die souveräne Verachtung einer Welt, in welcher so Scheuseliges ersonnen werden kann, in einem Menschenblick so zusammengefaßt gewesen, wie sie es in diesem war … Aber wie wunderlich widerspruchsvoll sind wir Menschen gebaut! Von demselben Greuelerfinder Hébert kann ich einen Zug bizarrster Sentimentalität bezeugen. Während der Todesfahrt Ludwigs XVI. vom Tempel zum Revolutionsplatz saß im Hôtel de Ville der Generalrat der Kommune in Permanenz. Als die Meldung kam, daß des Königs Haupt gefallen, bemerkte eins der Mitglieder der Versammlung mit Erstaunen, daß sein Nachbar und Kollege Hébert in Tränen ausbrach. »Wie, du weinst?« – »Ach ja, der Tyrann hat meinen Hund so lieb gehabt und ihn so oft gestreichelt!«
Weimar, Oktober 1794.
Das Ergebnis des Tages ist hier die persönliche Befreundung von Goethe und Schiller, die von den beiderseitigen Freunden und Freundinnen schon lange gewünscht wurde. Bei früheren gelegentlichen Begegnungen haben die beiden eher einander abgestoßen als angezogen, und man weiß, daß Schiller vor fünf Jahren nach der ersten Zusammenkunft mit Goethe geäußert hat: »Öfter um ihn zu sein, würde mich unglücklich machen.« Ebenso, daß Goethe nach seiner Heimkehr aus Italien nur mit Mißbehagen den Beifall wahrnahm, welcher Schillers kraftgenialischen Erstlingen inzwischen zuteil geworden war, und daß er darum, als er dem schwäbischen Dichter im Lengefeldschen Hause in Rudolstadt zuerst begegnete, sich steif und abweisend gegen ihn benahm.
Nun aber haben sie sich eines schönen Juliabends in diesem Sommer drüben in Jena gefunden und verständigt, und alle Welt hofft von diesem Geisterbund Ersprießliches, ein aufrichtiges und mächtiges Zusammenwirken im Reiche des Wahren und Schönen. Schiller ist im vorigen Monat für etliche Wochen von Jena herübergekommen und war in Goethes Hause zu Gast. Da hatt' ich mehrfach Gelegenheit, die beiden Hochstrebenden und doch einander so Ungleichen zusammenzusehen. In Goethes Erscheinung schlägt das Imponierende vor, in der Schillers das Herzgewinnende, das Idealische, ich möchte sagen Marquis-Posaische. Freilich wird einem dieser Achtung erweckende und doch zugleich wohltuende Eindruck durchaus nicht beim ersten Anblick des leider beständig kränkelnden Mannes zuteil, der wie ein Ecce Homo aussieht. Man muß sich erst in diese lange, hagere, vorgeneigte, schlottrige Gestalt, in dieses hohlwangige, mit Sommersprossen bedeckte, von rötlichen Haaren lässig umflatterte, leidende Gesicht, man muß sich mehr noch in Schillers näselndes Organ und in seine geradezu verzweifelt und verteufelt schwäbische Zunge finden, welche »des« statt das sagt und alle Doppelvokale schauderhaft mißhandelt, bevor man erkennen kann, daß man einen Menschen ersten Ranges vor sich habe.
Goethe kann unter Umständen noch recht heiter, sogar lustig sein, und was den Wein angeht, so verleugnet er nie den Main- und Rheinländer. Im letzten Juni sah ich ihn eines Abends mit Voß, der hier war, mit Wieland, Knebel und Böttiger bei Herder zusammen, und da ging es ausgelassen munter her. Der Hausherr ließ an diesem Abend weder den Generalsuperintendenten des Reiches Weimar spüren noch überhaupt das Geringste von der theologischen Essigsäure merken, welche ihm, wie nicht zu leugnen, die letzten Jahre her stark ins Blut gegangen ist. Wir machten die Skandalchronik der biblischen Erzväter, deren Laster und Lumpenstreiche Herder komisch verteidigte. Dabei wurde rechtschaffen gezecht, Steinwein und Punsch.
Die geselligen Zusammenkünfte im Goetheschen Hause dagegen haben meist etwas Steifes, ein ich weiß nicht was, das einen das Gefühl nicht loswerden läßt, daß man bei einer Exzellenz sei. Selbst der kordiale und joviale Herzog Karl August, der für seine Person den burschikosen Geist und Ton der Kraftgenialitätszeit beibehalten hat, vermag seinen jupiterlichen Duzbruder nur noch selten aus der ministermäßigen Gravität und Grandezza herauszubringen und hat im komischen Ärger darüber neulich ausgerufen: »Was der Kerl vornehm und steif und taciturn (schweigsam) geworden ist!« Aber freilich, Goethe mag durch sattsam widrige Erfahrungen im Hofleben beizeiten belehrt worden sein, daß der Ton, der in den siebziger und teilweise noch achtziger Jahren hier gewaltet hat, nicht länger fortzuführen sei.
Wir schwelgen in philosophischen und literarischen Erörterungen, und die leidigen Fragen der Tagespolitik hält man sich geflissentlich vom Leibe. Zumal im Goetheschen Kreise. Als dort während Schillers Anwesenheit einmal die Rede kam auf die bedenkliche Lage Deutschlands gegenüber den immer bedrohlicher hervortretenden Aggressivtendenzen der Französischen Republick, machte Goethe dem Gespräche verstimmt ein Ende mit den Worten: »Ganz Deutschland ist in schadenfrohe, ängstliche und gleichgültige Menschen geteilt. Ich für meine Person finde in diesem Wirrsal nichts Rätlicheres, als die Rolle des Diogenes zu spielen und mein Faß zu wälzen.« Es trat eine Pause ein, über welche uns Schiller hinweghalf, indem er sich erbot, uns ein Stück aus der Handschrift seiner unlängst vollendeten »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen« vorzulesen.
O Freund, das ist ein wunderbares, ein tiefsinniges Werk! Der Denkerdichter entwickelt darin seine Philosophie, d. h. den erhabenen Gedanken, die Menschheit mittels Heranbildung derselben zum Gefühl und Verständnis des Schönen aus dem »Staat der Not« in den »Staat der Freiheit und Vernunft« hinüberzuführen. Du wirst sagen: Nebelei! Aber ich bin gewiß, wenn du diese Meisterschrift gelesen, wirst, mußt du ihrem edlen Schöpfer bewundernd beipflichten. Ich kann die Veröffentlichung des Werkes kaum erwarten. Es soll zunächst in den »Horen« erscheinen, einer Zeitschrift, welche Schiller herausgeben wird, und woran die besten Köpfe Deutschlands mitarbeiten werden. Goethe will seine »Römischen Elegien« hineingeben, deren er etliche bislang nur im engsten Freundeskreise mitteilte. Freue dich auf diese herrlichen Dichtungen; das Altertum hat Köstlicheres nicht hervorgebracht.
Aus der Vorlesung Schillers an jenem Abend ist mir eine Stelle, die mich tief betroffen hat, treu im Gedächtnis haften geblieben. »Von der Freiheit erschreckt, die in ihren ersten Versuchen sich immer als Feindin ankündigt, wird man dort einer bequemen Knechtschaft sich in die Arme werfen und hier, von einer pedantischen Kuratel zur Verzweiflung gebracht, in die wilde Ungebundenheit des Naturstands entspringen. Die Usurpation wird sich auf die Schwachheit der menschlichen Natur, die Insurrektion auf die Würde derselben berufen, bis endlich die blinde Stärke dazwischentritt, und den Streit der Prinzipien wie einen gemeinen Faustkampf entscheidet …« Ist dies ein strafender Rückblick auf den bisherigen Gang der französischen Staatsumwälzung oder aber ein prophetischer Vorblick auf die nächste Zukunft Europas? Jedenfalls wirst du zugeben, daß solche »Wolkenwandler« aus ihrer Vogelperspektive Menschen und Dinge mitunter erstaunend deutlich wahrnehmen.
Paris, Dezember 1794.
»Ästhetische Erziehung des Menschen« … »Die Horen« eine schöngeistige Zeitschrift … »Römische Elegien« … »Der Staat der Freiheit und Vernunft« … Wie fremd, wie märchenhaft, wie kindlich, um nicht zu sagen, wie kindisch mich das alles anklingt, mich, der ich den » Ami du peuple« und den » Père Duchesne« nicht nur gelesen habe, sondern in Szene gesetzt sah, mich, der ich den Staat der Ohnehosen, der Strickerinnen Robespierres und der Guillotinefurien erlebte und die wüsteste, willkürlichste und launenhafteste aller Tyranneien, die der Massen und der Gassen, miterduldete? O, ihr Siebenschläfer da drüben in Deutschland, wollt ihr denn nie und nimmer erwachen und euch endlich einmal die ewigen Träume aus den Augen reiben?
Gewiß, der Prozeß der Geschichte ruht nie; aber er ist ein Kreislauf, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Wohl häutet sich die Schlange, streift den verbrauchten Balg – ein Weltalter – ab und glänzt und gleißt in neuen Farben; aber sie bleibt Schlange. Die Formen und Farben der Unvernunft, Narrheit und Schurkerei wechseln, das Wesen aber ist und bleibt stets dasselbe. Nur Nebulisten und Phantasten können es für denkbar halten, daß jemals eine Zeit kommen könnte, wo die Menschen aufhören würden, zu tun, was sie von Anfang an getan; eine Zeit, wo sie aufhören würden, einander zu belügen und zu betrügen, zu martern und zu morden. Und weißt du, Freund, was an dieser Moral der Weltgeschichte noch das Kläglichste? Der Umstand, daß die genialischen Menschen, die Helden, sowie die großangelegten Schurken stets den Dummköpfen, den Feiglingen, den kleinen Schuften unterliegen und zum Opfer fallen müssen …
Die Titanomachie ist vorüber, und die Pygmäen richten sich möglichst bequem auf der grausigen Walstatt ein. Die Jugend Frankreichs und überhaupt alles, was noch gesund, tüchtig und rüstig in dieser Nation, ist, angewidert von dem Anblick der wüsten Trümmer, womit die revolutionäre Sintflut den Boden des Landes bedeckt hat, in die Feldlager geeilt. Die Revolution wird soldatisch, ist es bereits und will ihre Prinzipien, natürlich verunstaltet und gefälscht, auf der Spitze der Bajonette über Europa hintragen. Es fehlt nur noch ein Feldherr von Genie, der mit eiserner Faust die ungeheure, ungeduldig nach außen strebende kriegerische Kraft zusammenfaßt und lenkt. Vielleicht ist der Mann auch schon gefunden. Ich erinnere mich wenigstens, vor zwei Jahren einen gesehen zu haben, der aus dem Metall gegossen schien, woraus die Geschichte die Halbgötter und die großen Verbrecher gießt. Es war am 20. Juni 1792, dem Vorbereitungstage zum 10. August. Ich stand mit Hunderten von Neugierigen am mittlern Bassin des Tuileriengartens, dem Mittelpavillon des Schlosses gegenüber, wo im Oeil-de-Boeuf die Volksmenge den armen König in einer Fensternische belagert hielt. Ganz nahe bei mir stand Dumouriez, den der übel, d. h. von seiner Frau und deren Kamarilla beratene Ludwig wenige Tage zuvor plötzlich und barsch aus dem Ministerium entlassen hatte. Ich erkannte den General, obgleich er seine Gestalt durch einen langen Mantel und seine Züge durch einen breitkrempigen Hut zu verhüllen suchte. Als der König mit der roten Mütze auf dem Kopfe am Fenster erschien, umspielte ein sardonisches Lächeln die Mundwinkel des weggejagten Ministers. In diesem Augenblick sagte eine scharf, fast schneidend klingende Stimme mit zornvoller Betonung hinter mir: »Die Lumpenhunde! Man hätte die vordern Fünfhundert des Gesindels niederkartätschen sollen, die übrigen würden sofort ausgerissen sein!« Ich wandte mich um und erblickte einen kleinen, schmächtigen, jungen Mann in der verschabten Uniform eines Artillerieoffiziers. Ein hageres, olivengelbes Gesicht, von langen schwarzen Haaren eingerahmt und erhellt durch das melancholische Feuer großer, südländisch-dunkler Augen, die unter einer prachtvoll gebauten Stirn hervorleuchteten. Es war in diesem Kopf, in diesen Zügen etwas Römisches, etwas Cäsarisches, was mich im höchsten Grade frappierte. Das Hin- und Herwogen der Kommenden und Gehenden trennte mich von dem Manne; ich habe ihn seitdem nicht wieder gesehen und kenne seinen Namen nicht. Aber seltsamerweise machte mich die Schillersche Stelle in deinem letzten Briefe der Erscheinung im Tuileriengarten lebhaft wieder gedenken.
Dieser 20. Juni! Acht Tage darauf wurde der dem Untergangsstrudel zutreibenden Monarchie ein letztes Rettungsseil zugeworfen. Lafayette kam aus seinem Lager nach Paris geeilt, um die Royalisten und die Konstitutionellen um sich zu sammeln, verklagte den Jakobinismus an den Schranken der Nationalversammlung und bot der königlichen Familie seine Dienste an. Der König behandelte den »General der Konstitution« mit beleidigender Kälte und sprach nur wenige gleichgültige Worte mit ihm. Als die Tür hinter dem erkältet sich Zurückziehenden ins Schloß fiel, rief die ebenso verständige wie tugendhafte Prinzessin Elisabeth aus: »Man muß das Vergangene vergessen, und wir müssen uns mit Vertrauen diesem Mann in die Arme werfen, dem einzigen, der den König und seine Familie retten kann!« »Nein«, entgegnete in ihrem hochmütigen Starrsinn Marie Antoinette, »viel besser ist es, zugrunde zu gehen, als durch Lafayette und die Konstitutionellen gerettet zu werden!« … Ob aber das Rettungsseil haltbar gewesen wäre? Ach nein! Lafayette war nicht aus dem Stoffe gemacht, aus dem man Rettungsseile für untersinkende Königtümer dreht. Seine Erscheinung in Paris war ganz fruchtlos und mußte es sein, denn der General war zu dieser Zeit schon völlig verbraucht. Revolutionen nützen unendlich viel Material erschreckend rasch ab.
Die Bekrönung Ludwigs XVI. mit der roten Mütze war die Bekränzung des Opfers, dessen der »große Altar, wo die rote Messe zelebriert wurde« – wie der wütende Terrorist Voulland das Gerüst der Guillotine nannte – schon harrte. Die Erhebung der Mütze der Galeerensträflinge zum Freiheitssymbol muß als eine der albernsten Marotten der Revolution bezeichnet werden. Sie entsprang, wie bekannt, aus den Zurüstungen zu dem törichten, ja geradezu verbrecherischen Triumph, den Collot d'Herbois und Mitkomödianten den begnadigten vierzig Schweizersoldaten vom Regiment Chateauvieux bereiteten, die mit Fug und Recht zur Galeerenstrafe verurteilt worden waren. Weniger bekannt und euch in Deutschland wohl gar nicht, ist, daß Robespierre, der abstrakte Formelmensch, der zierlich frisierte und gepuderte, wohlgebürstete Pedant, der eigentlich ein Fanatiker der Ordnung gewesen, die rote Mütze verachtete und verabscheute. Eines Abends zu Ausgang des März 1792 war ich im revolutionären Pandämonium in der Straße Saint-Honoré, als Dumouriez, wenige Tage zuvor Minister geworden, kam, um der » Société-Mère« seine Achtung zu bezeigen. Es war neu eingeführter Brauch, daß, wer die Rednerbühne im Heiligtum Sankti Jakobi bestieg, die rote Mütze aufsetzen mußte, und Dumouriez tat es. Nach ihm sprach Robespierre und tat es nicht. Ein dienstbeflissener Sansculotte eilte ihm auf die Rednerbühne nach und stülpte ihm die unentbehrliche Kappe auf die höchst regelrechte Taubenflügelfrisur. Aber Robespierre, der den Launen und Leidenschaften der Menge keineswegs schmeichelte und dem nur seine Feinde nachreden können, er habe den Mut der Überzeugung nicht besessen, riß das rote Ding entrüstet vom Kopf und warf es mit der Gebärde unverhohlenen Abscheus zu Boden. In der nämlichen Sitzung hat Dumouriez einen guten, obwohl etwas zynischen Witz gemacht. Als man ihm bemerkte, daß man ihn und seine Kollegen von der Gironde bei Hofe die Sansculottenminister nenne, sagte er lachend: »Ei, was? Nun, wenn wir Sansculotten (Ohnehosen) sind, so wird man nur um so besser wahrnehmen können, daß wir Männer sind« …
Doch ich wette, ihr kennt daheim den wahren Ursprung des vielberufenen Wortes nicht. Es ist dieser. Während der ersten Monate der Revolution lustwandelten bekanntlich noch viele Leute von der vornehmen Welt höchst vergnüglich an den Ufern des gewaltigen Stromes, der, aus seinem Bette schwellend, die Lustwandler bald mit sich fortreißen sollte. Eines Tages wohnten zwei vornehme Damen, Frau von Coingny und Frau von P… nach ihrer Gewohnheit der Sitzung der Nationalversammlung an und begleiteten die ihnen mißfällige Rede des royalistisch eifernden Abbés Maury von der Galerie herab mit geräuschvollen Mißfallsbezeigungen. Ärgerlich darüber, schrie der grobe Abbé, auf die beiden Damen mit dem Finger deutend, zum Präsidenten hinüber: »Herr Präsident, stopfen Sie doch den beiden Sansculottes dort die Mäuler!«
Dieser Maury focht wacker in der Vorderreihe der Edelleute und Priester, die es darauf angelegt hatten, die Revolution zu vergiften, um, wie sie hofften, durch die Anarchie hindurch zum Ancien Régime zurückzugelangen. Gerade wie auf der andern Seite den Demagogen der niedrigsten Sorte, so war auch diesen Verteidigern von Thron und Altar kein Mittel zu schlecht, die Instinkte zu verwirren, die Köpfe zu erhitzen, die Leidenschaften zu entzügeln. Auf den Umstand, daß in den Provinzen die Volksmenge noch dem krassesten Aberglauben und dem stupidesten Götzendienst ergeben ist, wurden niederträchtige Machenschaften gegründet, und insbesondere war man erfinderisch in Ränken und Schwänken, um die Geistlichen, welche, getreu ihrem Lande und gehorsam dem Gesetze, die Zivilkonstitution des Klerus angenommen und den Schwur auf die Verfassung geleistet hatten, beim Volke in Mißkredit zu bringen und mit ihnen zugleich die Revolution verdächtig und verhaßt zu machen. Ein Beispiel hiervon. Der Pfarrer zu Chatillon sur Sêvres war so ein » prêtre assermenté« (vereidigter Priester). Um ihn zu ruinieren, wurde ein Mittelchen angewandt, das spaßhaft gewesen wäre, wenn es nicht so fanatisch-boshaft. Als nämlich eines Sonntags der Pfarrer das Tabernakel aufschloß, um den Hostienkelch herauszunehmen und daraus den vor dem Altar knienden Gläubigen das Fleisch und das Blut Christi mitzuteilen, sprang ihm aus dem geöffneten Tabernakel ein großer schwarzer Kater entgegen, setzte ingrimmig fauchend über den Altartisch weg, durchbrach mit Miaugeschrei die Kette der Kommunikanten und rannte mit hoch emporgestelltem Schweife zur Kirche hinaus. Entsetzt stob die fromme Schar auseinander, und der Sakristan, der den unglücklichen Murr in das Tabernakel gesteckt hatte, erhöhte die Wirkung des erschrecklichen Wunders durch das kräftigst angestimmte Gezeter: »Der Teufel! Der leibhaftige Teufel!« Ähnliche Praktiken » ad majorem dei gloriam« sind dutzendweise vorgekommen.
Aber wenn wir armen Eintagsfliegen, »Blättern des Waldes vergleichbar«, wenn wir, Gemengsel von Sonnenfeuer und von Erdenkot, in unsern kühnsten Gedankenflügen alles Beste, Schönste, Höchste in der Idee der Gottheit zusammenfassen, hieß es dann dieser nicht auch eine namenlose Schändung antun, wenn Menschen, d. h. Menschenbestien, welche sich aus dem Taumelkelch des Jakobinismus einen Tollrausch getrunken hatten, den unersättlichen Aasgeier Marat vergötterten? O arme große Charlotte Corday, Heldin, schön wie eine Rose und rein wie Schnee, noch sehe ich dich auf dem Henkerkarren, die jungfräuliche Pracht deiner Gestalt nur von dem roten Hemde verhüllt, das dich als Vatermörderin stigmatisieren sollte und dich statt dessen mit dem purpurnen Nimbus des Martyriums umgab, noch sehe ich dich, wie du bescheiden und hoheitsvoll zugleich, mit unsäglichem Mitleid auf die Kannibalen und Kannibalinnen blicktest, welche dich umheulten!
Ganz eigentümlich verschiedenartig waren die beiden hochbegabten Brüder Chénier in die Revolutionsepisode Marat-Corday verflochten. Der genialere André, unbedingt der größte Poet, den Frankreich zu dieser Zeit hervorgebracht hat, und unbedingt eins der kostbarsten Opfer des Schreckens, feierte, wie er früher dem Triumph der Schweizer von Chateauvieux die unauslöschliche Brandmarke seiner Verse aufgedrückt hatte, die Tat der Jungfrau von Caen in einer herrlichen Ode, in der er seine Heldin also ansprach:
»Son œil mourant t'a vue, en ta superbe joie,
Féliciter ton bras et contempler ta proie.
Ton regard lui disait: Va, tyran furieux,
Va, pour frayer la route aux tyrans complices,
Te baigner dans le sang fut tes seules délices –
Baigne-toi dans le tien et reconnais les dieux
Sein sterbendes Auge hat dich gesehen, es hat gesehen deine stolze Freude, wie du deinen Arm segnetest und deine Beute betrachtetest. Dein Blick sagte ihm: Geh, rasender Tyrann, geh, den Weg zu bereiten deinen Mitschuldigen; dich zu baden in dem Blute, war dein einziges Entzücken – bade dich in dem deinigen und erkenne die Götter an!!«
Der andere Bruder aber, Maria Joseph Chénier, erstattete am 14. November vorigen Jahres im Konvent den Bericht über das Gesetz, kraft dessen die Überreste Marats ins Pantheon gebracht wurden. Aber das genügte der Maratmanie noch nicht. Das Herz des Aasgeiers war in eine köstliche Urne von Achatstein verschlossen und diese auf einem eigens hierzu im Garten des Luxemburgpalastes errichteten Altar zur Anbetung ausgestellt. Zur Anbetung, ja! Man verbrannte Weihrauch vor diesem Heiligtum, und ich habe ein gedrucktes Gebet in Händen gehabt, worin es hieß: »Herz Jesu, Herz Marats! O heiliges Herz Jesu! O heiliges Herz Marats!« Auf dem Karussellplatz vor den Tuilerien erbaute man zu Ehren von Marat eine Pyramide, in deren Innerem seine Büste, seine Badewanne, sein Schreibzeug und seine Lampe als hochverehrte Reliquien aufgestellt wurden.
Im Buche des menschlichen Wahnsinns, sonst auch bescheidentlich Weltgeschichte genannt, darf sich diese Maratvergottung sicherlich neben dem Wahnwitzigsten sehen lassen und kann selbst neben den Beschlüssen des Konzils von Nikäa, neben den » Acta sanctorum«, neben den Bullen der Gregore und Innocenze, neben der Inquisition und den Hexenprozessen, neben der Bibelbuchstabenabgötterei Luthers und dem Gnadenwahldogma Calvins mit Ehren figurieren. Glücklich, dreimal glücklich die Unwissenden, die in tierähnlicher Stumpfheit über diese unsere Erde hinduseln, ohne zu ahnen, daß kaum ein Fleck auf ihr zu finden, wo nicht ein Blödsinn oder ein Greuel geschah.
Weimar, August 1795.
Du würdest dich in unserer Musenstadt, wo du vorzeiten die »Geniewirtschaft« mitangesehen und sogar mitgemacht hast, kaum noch auskennen, lieber Freund. So abenteuerliche Gestalten, wie sie damals hier spukten, solche Gesellen wie Lenz, Klinger, Kaufmann und Konsorten würden jetzt keine Gastfreundschaft mehr finden, und Versuche, das Poetische zu verwirklichen, Gedichte zu leben, wie wir vordem auf der Ettersburg, zu Ilmenau, in Stützerbach und auf dem Gickelhahn kraftgenialisch sie angestellt haben, wären jetzt geradezu unmöglich. Alles hat sich ernüchtert und versteift, und selbst der Humor Karl Augusts spielt, wie mir scheinen will, seit des Herzogs Heimkehr von der so kläglich verlaufenen Campagne nach der Champagne nicht mehr in den früheren Brillantfarben. Es hängt ja etwas in der Luft, das mit Schicksalsschwere auf die Gemüter drückt und auch in die literarische Bewegung mehr und mehr Verstimmung und Parteiung hineinträgt. Herder, der den guten alten Papa Wieland mit sich zieht, stellt sich immer mürrischer dem Goethe-Schillerschen Kreise gegenüber und geht in seiner Verbitterung so weit, daß er den neueren Schöpfungen der beiden großen Freunde das platteste Makulaturzeug, wie zum Beispiel das Romangeschmier eines Lafontaine und die zu kindischem Gefasel und Gelall heruntergesunkene Reimerei des armen alten Gleim, vorzuziehen vorgibt.
Goethe hat einen leidlich gelungenen Versuch gemacht, für die Weimarer Literaten und die Jenaer Gelehrten einen ausgleichenden Mittelpunkt zu schaffen. Es ist dies der wissenschaftliche Verein, der allmonatlich eine feierliche Sitzung hält, und zwar im Palais der Herzogin Amalia. In einer dieser Sitzungen hörte ich in Gegenwart des ganzen Hofes einmal den wackern Knebel eine Abhandlung über die Höflichkeit vortragen, worin der deutschen Aristokratie starke Wahrheiten gesagt wurden, und zwar demokratisch herb und derb. Du ersiehst hieraus, daß man hier keineswegs von der Jakobinerangst befallen ist, welche freilich an anderen deutschen Höfen wahrhaft lächerlich grassiert. Im übrigen ist hier nach dem Vorgange Goethes das Dilettieren mit der Natur und Naturwissenschaft unter den »Gebildeten« die Mode des Tages, und insbesondere sind die Weiber ganz darauf versessen, Herbarien zu kleistern und Steinsammlungen anzulegen. Die Sache hat aber ihre ernste Seite. Denn soviel ist klar, jeder Vorschritt auf dem Wege zur Erkenntnis der Naturgesetze bricht einen Stein aus der Bastille des Bonzentums …
Fast scheint es, der Glanz Weimars müßte vor dem aufgehenden Jenas erblassen. Die alte Universität hat durch die Anwesenheit Schillers und mehr noch durch das Auftreten des jungen Philosophen Fichte einen neuen Aufschwung genommen. Eine Anzahl von begabten und strebsamen Jünglingen, von denen man sich für Wissenschaft und Poesie Vorzügliches verspricht, ist aus allen Gegenden Deutschlands dort versammelt. Man nennt als bedeutend insbesondere zwei Brüder Humboldt, ferner zwei Brüder Schlegel, dann Hardenberg, Schelling und Brentano. Man muß glauben, daß eine neue Literaturepoche anzubrechen im Begriffe sei, namentlich wenn man erwägt, daß das meteorgleich aufsteigende Gestirn des Wunsiedlers Jean Paul Friedrich Richter neuestens die Gestirne Goethes und Schillers zu verdunkeln droht. Von der Begeisterung, die gegenwärtig der »Hesperus« Richters erregt, namentlich in der Frauenwelt, kannst du dir gar keine Vorstellung machen. Alle schönen und nichtschönen »Sansculottes« hier und in Berlin und überall, von wo ich höre, sind hesperussüchtig. Es sind aber auch wunderbare Sachen in dem Buch, das muß man sagen …
Neulich hab' ich eine genußreiche Woche drüben in dem »lieben alten Nest«, wie Goethe Jena nennt, verlebt. Eines Tages war ich mit Fichte und Woltmann bei Schiller. Frau Lotte hatte uns eben den Kaffee eingeschenkt, als der Dichter mit einem Blatt Papier in der Hand aus seiner Arbeitsstube herüberkam. Er sah vergnügt aus und sagte: »Hört, ich habe da etwas gemacht; weiß aber nicht, ob es etwas ist.« Damit begann er zu lesen:
»Ein Regenstrom aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donners Ungestüm,
Bergtrümmer folgen seinen Güssen,
Und Eichen stürzen unter ihm;
Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,
Hört ihn der Wanderer und lauscht;
Er hört die Flut vom Felsen brausen,
Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:
So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.«
Die folgenden Strophen weiß ich nicht mehr anzuführen, aber das ganze Gedicht ist eine prachtvoll-gedankenreiche Verklärung der Mission des Dichters. Wir hatten mit freudigster Teilnahme gelauscht, und als Schiller von seinem Papier aufblickend uns ins Gesicht und in die freudestrahlenden Augen seiner Frau sah, sagte er: »Ich hab' schon gefürchtet, meine poetische Ader sei ganz vertrocknet; aber es scheint doch, sie wolle wieder in Fluß kommen.«
Frau Lotte fragte mich nach Neuigkeiten aus Weimar, worauf Woltmann meiner Antwort mit den Worten zuvorkam: »Nun, das Neuste ist, daß Goethes Vulpia wieder mal eine Sechswochenreise tun muß. Die erste dieser Reisen fiel, mein' ich, in den Dezember 1789. Die wievielte ist wohl die gegenwärtige, Frau Hofrätin?« »Ich bin nicht in die Geheimnisse der Demoiselle eingeweiht«, entgegnete, den Mund verziehend, Frau Lotte und ging hinaus. Sie verehrt zwar den Goethe hoch und innig, kann aber schon aus Rücksicht auf ihre Freundin Charlotte von Stein natürlich die »Demoiselle« nicht leiden, mit der sich Goethe nach seiner Heimkehr aus Italien selber kopuliert hat. »Ist's denn wahr«, fuhr Woltmann fort, »daß die Stein, welche denn doch nachgerade sehr unter das alte Eisen gehört, noch immer voll Gift und Galle auf die arme Vulpia ist?« »Ja«, versetzte Schiller, »in solchen Dingen verstehen die Weiber keinen Spaß. Bei mir daheim in Schwaben gibt's ein Wort, das das Gefühl, was Frau von Stein noch jetzt gegen die Demoiselle hegt, drastisch-richtig kennzeichnet. Schade, daß es in guter Gesellschaft nicht aussprechbar ist.«
Dann redete er mit Fichte über dessen kühne Schrift »Zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution« – und zwar sprach er als Aristokrat, – in dieses Wortes eigentlichem und ursprünglichem Sinne, wohlverstanden! Der Demokrat Fichte hielt ihm energisch Widerpart, und Schiller beschloß endlich den Disput, indem er, auf Kants »Kritik der reinen Vernunft« weisend, die auf dem Tische lag, sagte: »Die rechtlichen und wirklichen Prinzipien, welche einer wahrhaft glücklichen bürgerlichen Verfassung zugrunde gelegt werden müssen, sind noch nicht so gemein unter den Menschen. Sie sind noch nirgends als hier!« Worauf Fichte, das himmelstürmende Buch mit der Linken aufraffend, mit der Rechten darauf schlagend und mit seinen dunkeln, blitzenden Kugelaugen den Dichter anschießend: »Und wissen Sie, Herr Hofrat, was dieses Buch eigentlich ist? Ich will es Ihnen sagen. Es ist die deutsche Guillotine!«
Paris, November 1795.
Ahnt' ich es doch, daß hinter dem jungen Kriegsmann, den ich am 20. Juni 1792 im Tuileriengarten gesehen, etwas stecken müßte. Unlängst sah ich ihn wieder als General Bonaparte, am 13. Vendémiaire (5. Oktober) mit schnellfertiger Energie die royalistische Insurrektion gegen den Konvent zerstäubend. Ich hatte da einen Augenblick Gelegenheit, zu beobachten, wie er von den Stufen der Kirche von Saint-Roch herab seine Befehle gab. Ein Marmorantlitz, ein Herrscherblick! Die Art, wie er seine Rechte bewegte, schien anzudeuten, er fühle, daß das Geschick Frankreichs in diese Hand gelegt sei. Alles in allem: dieser Mann hat vielleicht das Zeug zu einem Cäsar oder Cromwell, gewiß aber nicht zu einem Washington.
Am 26. Oktober hat der Konvent seine Sitzungen geschlossen und zu existieren aufgehört. Der Vulkan in den Tuilerien, wohin er sich aus der Manege versetzt hatte, ist erloschen. Eruptionen, wie der in die Welt geschleudert, müssen jeden Vulkan erschöpfen. Die ungeheure Arbeit, welche diese Versammlung zu tun hatte und welche von ihr wirklich getan wurde, wird erst eine spätere Zeit leidlich gerecht zu werten wissen. Auch die Verdienste und die Verbrechen der Helden und Opfer der Konventspolitik werden erst in viel späterer Zeit auf der Goldwaage der Geschichte richtig erprobt werden. Heutzutage wirft noch jeder seine Parteileidenschaft mit in die eine oder andere Waagschale. Merkwürdig ist aber, daß sich das Urteil über den mir persönlich stets unausstehlich gewesenen Pedanten Robespierre schon jetzt zu modifizieren beginnt. Aufrichtige Republikaner, die das Blutregiment immer verabscheuten, nehmen keinen Anstand, zu erklären, daß sie einen groben politischen Fehler begangen hätten, als sie am 9. Thermidor mit den Feinden Robespierres, mit solchen notorischen Schurken wie Tallien und Collot, gemeinschaftliche Sache machten. Noch mehr, ein eifriger, aber ehrlicher und urteilsfähiger Royalist, Monsieur de Beaulieu, hat neulich öffentlich geäußert, es »sei ganz unbestreitbar, daß die größten Gewaltsamkeiten seit dem Beginne des Jahres 1794 durch die Leute hervorgerufen und in Szene gesetzt wurden, welche auf den Sturz Robespierres sannen«.
Am 28. Oktober ist mit der Eröffnung des Rates der Fünfhundert und des Rates der Alten die Konstitution des Jahres 3 der Republik ins Leben getreten. Seither wurde auch die oberste Exekutivgewalt, das Direktorium, gewählt und installiert. Es wird eine Regierung der Schwäche sein, obgleich ein ehemaliges Hauptmitglied des Wohlfahrtsausschusses, Carnot, darin sitzt und obgleich ein anderes Mitglied, Rewbell, dieser Tage sehr vernehmlich sagte: »Der einzige Vorwurf, den ich Robespierre mache, ist, daß er zu milde gewesen.« Wir treiben, das ist meine feste Überzeugung, nicht allzu schnell, aber sicher zur Monarchie zurück. Denn alle Welt sehnt sich nach Ruhe um jeden Preis. Die Illusionen sind zerstoben, die Prinzipien verbraucht oder verfälscht, die politischen Schaustücke sind zum Ekel geworden, und auf die Metze Popularität speit man. Mit Recht! Fasse nur, mein Freund, um die bodenlose Infamie dieser Metze zu erkennen, dies eine Beispiel ins Auge. Am 14. Juli 1792, beim zweiten Föderationsfest, war Pethion der Herrgott der Pariser, der Abgott Frankreichs. Gerade ein Jahr, nur ein Jahr später fand man bei Saint-Emilion den von Wölfen angefressenen Leichnam des Abgotts, der sich, vom Konvent geächtet, auf qualvoller Flucht selber den Tod gegeben hatte. Das Gedächtnis der Menge für ihre Lieblinge ist womöglich noch kürzer als ihr Verstand, und wer sich den Respekt und die Anhänglichkeit des großen Haufens auf die Dauer sichern will, tut am besten, wenn er stets zu ihm spricht wie der Herr zu dem Knecht …
Das Regiment des Schreckens ist vorüber, das der Liederlichkeit hebt an. Die alte Kokette Paris putzt sich nach Kräften auf, um die verrauschte Blutorgie in Wollustbacchanalien zu vergessen. Alle Welt lechzt nach Genuß, jedermann stürzt sich in Vergnügungen, und niemand kümmert sich um den sicher bevorstehenden kolossalen Staatsbankrott. (Im November 1794 waren 6 Milliarden und 400 Millionen Assignaten im Umlauf, im Juli 1795 nicht weniger als 12 Milliarden. Gegenwärtig steht an der Börse der Louisdor auf 3500 Livres; 145 Livres in Papier sind gleich 1 Livre in Silber. Damit du eine Vorstellung erhaltest von der Teuerung, welche alle diese Jahre her hier geherrscht hat, will ich dir mitteilen, daß der Haushalt meines Hauswirts, der auf höchst bescheiden bürgerlichem Fuße geführt wird und nur drei Personen zählt, laut Haushaltsjournal im Monat Dezember des verflossenen Jahres 5022 Frank gekostet hat. Ich fand da Posten wie diese: 1 Fuhre Holz 1460 Frank, 9 Pfund Talgkerzen 900 Frank, 7 Pfund Öl 700 Frank, 4 Pfund Zucker 400 Frank, 1 Scheffel Kartoffeln 200 Frank, 4 Pfund Brot 180 Frank.)
Es liegt ein melancholischer Reiz für mich darin, die Stadt zu durchwandern, die seit etlichen Monaten wenigstens in mehreren Quartieren schüchterne Versuche macht, wieder ein aristokratisches und royalistisches Aussehen zu gewinnen, und mich auf solchen Wanderungen der Szenen zu erinnern, die ich auf diesen Straßen und Plätzen mitangesehen habe zur Zeit des Ohnehosenregiments, wo Cambon seinen Concitoyens zuschrie: »Wollt ihr eurer Pflicht genugtun und eure Angelegenheiten fördern? Guillotiniert! Wollt ihr die ungeheuren Kosten eurer Armeen aufbringen? Guillotiniert! Wollt ihr eure unberechenbare Staatsschuld bezahlen? Guillotiniert! Guillotiniert!« … und wo Guillotine-Anakreon Barère die Philosophie des Schreckens zu dem Satze zuspitzte: »Das Brett der Guillotine ist ein Bett, nur etwas schlechter gemacht als ein anderes.«
Damals konnte man leicht wahrnehmen, daß das Wort des Schreckenssystematikers Saint Just, der in einem mädchenhaft schönen Körper eine Eisenseele trug, das Wort: »Mit Rücksichten und Schonungen macht man keine Republik!« konsequente Ausleger gefunden habe. Der Terrorismus hatte der Stadt sein düsteres Gepräge aufgedrückt, und überall lastete die Eintönigkeit eines forcierten Spartanertums. In den Straßen, deren Häuserzeilen nur noch wie unendliche Avistafeln für die bis zum Ekel zahllos wiederholte Inschrift: » Liberté, égalité et fraternité ou la mort!« aussahen, kein frohes Regen und Bewegen, keine Prozessionen, keine Equipagen, kein Luxus mehr. Nur die öde Affektation des Sansculottismus, die garstige Carmagnoleuniformität. Dieser Mode zufolge traten die Männer einher in Wämsern von grobem schwarzem Tuche, langen Beinkleidern von gleicher Farbe, blauweißroten Westen, unter der Nase möglichst ungeheuerliche Schnauzbärte, auf dem Kopfe die glatte schwarze »Jakobinerperücke« und darüber die rote Galeerenmütze mit der pflugradgroßen Nationalkokarde, dem unerläßlichen Zeugnis des »Zivismus«, das auch die Frauen in irgendeiner Form tragen mußten. Ja, die terroristische Pedanterie ging so weit, daß auch den Schauspielern und Schauspielerinnen auf der Bühne das Tragen der Nationalfarben nicht erlassen wurde. Du kannst dir denken, wie prächtig sich das machte, wenn Corneilles alter Horatius und Voltaires Brutus, Molières Tartuffe und Racines Phädra mit mächtigen Trikolorkokarden an Helmen, Hüten und Hauben auftraten.
Die Weiber griechelten, d. h. sie gingen in Nachahmung der griechischen Hetärentracht so weit, daß sie zur Stunde glücklich dabei angelangt sind, nur noch ein Hemd, ja, nur noch ein Hemd in des Wortes verwegenst-hemdlicher Bedeutung statt aller übrigen Kleidung zu tragen. Da auf diesem Gebiete der Mode bislang durchaus noch keine Reaktion eingetreten ist, so sehe ich den Tag kommen, wo wahrhaft modische Damen auch noch des letzten Kleidungsstücks sich begeben werden, mit dem Kirchenvater von Alexandrien philosophierend: »Die Schamhaftigkeit liegt nicht im Hemde.« Wenn man Augenzeuge gewesen und jetzt noch ist, mit welcher paradiesischen Unbefangenheit Mesdames und Mesdemoiselles les Citoyennes ihr Fleisch in den Logen der Theater und anderwärts zur Schau auslegten und auslegen, kann man sich über den unglaublichen Zynismus des Umgangstons und Zeitungsstils, der in den letzten Jahren hier aufgekommen ist, nicht verwundern. Das Unflätigste hierin hat bekanntlich der »Père Duchesne« geleistet, aber an kolossaler Hyperbelhaftigkeit kam auf diesem Gebiete keiner und keine dem Danton gleich. Als ein getreuer Warner ihn benachrichtigte, Robespierre hole zum entscheidenden Schlage gegen ihn aus, sagte der Gigant lachend: » Robespierre? Bah! Je le mettrai au baut de mon …, et je le ferai tourner comme une toupie.« Du kannst dir leicht vorstellen, wie dem luziferischen Stolze Robespierres dieser Witz tun mußte.
Die brutal-demokratische Duzbrüderschaft, welche von den Sansculotten den Leuten aufgezwungen, ja sogar im November 1793 von Staats wegen allen Beamten der Republik anbefohlen wurde, war nicht weniger eine terroristische Narrheit als das kindische Wüten gegen alle Denkmäler und Erinnerungen des Königtums. Die Worte Roi und Royal waren förmlich geächtet, selbst die vier Könige im Kartenspiel wurden unterdrückt. Leute, die den Namen Le Roy führten, veränderten ihn, auf seinen »höchst verdächtigen« Klang aufmerksam gemacht, in La Loi. Eine Citoyenne, die Reine (Königin) hieß, taufte sich in Fraternité-Bonne-Nouvelle um. Noch patriotischer verfuhr eine Mutter im Faubourg Saint-Antoine, die ihrem neugeborenen Töchterlein den Namen Nationalpike beilegte.
Aber am widerlichsten grimassierte und raste La Terreur zweifelsohne in den vom verrückten Chaumette und seinem Haupthandlanger Momoro aufgebrachten und eifrigst geleiteten Orgien des Vernunftgöttinkults. Hier gipfelte das terroristische Ärgernis, und wer noch einen Funken von gesundem Menschenverstand und Gefühl besaß, mußte sich mit Entrüstung und Ekel von diesen abgeschmackten und schamlosen Mummereien abwenden. Der gotteslästerliche und gottesleugnerische Wahnwitz lief geradezu in Blödsinn aus. So zum Beispiel, wenn ein Kerl namens Magenthies in einer an den Konvent gerichteten Petition verlangte, es sollte Todesstrafe über jeden verhängt werden, der so »abergläubisch« sei, in einem Schwur, einem Fluch, einer Redensart irgendwelcher Art den Ausdruck »Gott« zu gebrauchen. Wie es aber der Schreckenstheorie und Blutpraxis nicht an heldischen Bekämpfern fehlte, wie namentlich Camille Desmoulins durch beispiellos mutvolle Befehdung jener Theorie und dieser Praxis in seinem » Vieux Cordelier« alle seine Verfehlungen glorreich gesühnt hat, so fehlte es auch dem Vernunftgöttinskandal keineswegs an mutigen Gegnern. Grégoire erhob vom religiös-sittlichen, Danton vom staatsmännischen Standpunkt aus kräftige Einsprache gegen das atheistische Spektakel; aber am entschiedensten ging ihm Robespierre zu Leibe. Denn wie sein Meister Rousseau, war auch er ein standhafter Deist, und in diesem Umstande lag, will mir scheinen, der erste Keim seines Zerwürfnisses mit den Girondisten, die bekanntlich dem heiteren Heidentum von Hellas oder auch dem materialistischen Kredo ihrer Epoche zugeneigt waren.
Ich erinnere mich eines nach dieser Richtung hin sehr bezeichnenden Auftritts. Zu der Zeit, wo die Macht der Gironde auf ihrem Gipfelpunkt stand, wurde eines Abends bei den Jakobinern eine von Robespierre verfaßte Adresse erörtert, in der die Worte » Providence« (Vorsehung) und » Dieu« (Gott) vorkamen. Der Girondist Guadet erhob sich gegen solche » Superstition« (Aberglauben) und machte das Festhalten an ihr dem Verfasser der Adresse heftig zum Vorwurf, sagend: »Ich kann es nicht begreifen, daß ein Mann, welcher seit drei Jahren so mutvoll gearbeitet hat, das Volk von der Sklaverei des Despotismus zu befreien, mithelfen kann, es in die Sklaverei des Aberglaubens zurückzuführen.« Die Improvisation, womit Robespierre diesen Angriff zurückwies, war vernichtend. Er hat niemals besser und schöner gesprochen. Noch sehe ich ihn, wie er, die unansehnliche und unschöne Gestalt vom Feuer echtesten Pathos vergrößert und verschönert, zuletzt das erhabene Wort sprach: »Allein mit meiner Seele, wie sollte und wollte ich Kämpfe, die über Menschenkraft gehen, bestanden und überstanden haben, wenn ich nicht meine Seele zu Gott erhoben hätte?«
» Seul avec mon âme!« Gewiß, das war einer jener schrecklichen Aufschreie, wie sie das Menschenherz ausstößt in höchster Qual. Aber was weiter? Männer von Genius, die zugleich das Unglück haben, Charaktermänner zu sein, sind ja immer allein mit ihrer Seele, sind allzeit einsam in dieser Menschenwüste …