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La verdad sospechosa.
(Selbst die Wahrheit ist verdächtig.)
Alarcon.
Kein Zweifel, Paris ist jetzt die schönste Stadt des Erdballs. Aber freilich, die Franzosen haben es sich auch etwas kosten lassen, die alte Kotstadt zur modernen Glanzstadt umzuwandeln: nur von 1852 bis 1865 ist von Stadt und Staats wegen nahezu eine Milliarde auf die Vergrößerung, Vergesundlichung und Verschönerung von Neubabylon verwandt worden. La Belle France erweist sich stets als eine Krösa, wenn es sich um Befriedigung der Nationaleitelkeit handelt. Die Verschwendung, womit die uralte und ewigjunge Kokette ihren Empfangssalon Paris ausschmückt, hat übrigens auch etwas Großartiges. Die partikularistische Neidhammelei, Philisterei und Schäbigkeit der Deutschen würden es schwerlich dazu bringen, für den Glanz ihrer Hauptstadt so kolossale Summen zu opfern.
Ja, die ehemalige Lutetia ist jetzt das Prachtjuwel der Städte. Welche Verwandlungen dieser Weltgeschichtsbühne binnen hundert, binnen fünfzig, binnen zwanzig, binnen zehn Jahren! Wenn heute ein Pariser aus den Tagen des vierzehnten Ludwig oder des vierten Heinrich oder gar einer aus dem 15. oder 14. Jahrhundert wiederkäme, er würde nur noch die Seine als dieselbe vorfinden, vorausgesetzt, daß er den Strom in Gestalt seiner jetzigen Eindämmung und Überbrückung wiedererkennen würde.
Ein Gang durch Paris ist eine Wanderung durch die Geschichte Frankreichs; noch mehr, auch eine Wanderung durch die moderne Geschichte Europas. Denn es bleibt eine Tatsache: das Herz des menschheitlichen Organismus pulsierte von 1789 bis 1870 in Paris. Dort hob der Hammer zum Schlage aus, wenn wieder eine Weltstunde um war. Die Despotenknechte von 1792 waren darum keineswegs so dumm, wie sie aussahen, als sie in dem »Manifest des Herzogs von Braunschweig« alles Ernstes die Forderung aufstellten, daß Paris vom Erdboden weggetilgt werden sollte. Der Instinkt des Hasses und der Furcht sagte ihnen, daß der Hahn der Freiheit dort immer wieder die Flügel schütteln und sein Auferstehungskikeriki in die Welt schmettern würde.
Denn alles hat seine Zeit, und so hatte die ihrige auch jene mittelalterliche Glaubensbegeisterung, welche Hunderttausende und wieder Hunderttausende zur Eroberung und Behauptung des »Heiligen Grabes« aus dem Abendlande nach Palästina trieb, damit sie dort mehr oder weniger jämmerlich umkämen. Andere Hunderttausende, die daheimblieben, entäußerten sich wenigstens großenteils oder auch ganz ihrer Habe zugunsten der Kämpfer für das Heilige Grab, und so kam es, daß insbesondere die geistlichen Ritterorden, die zu dem genannten Zwecke in Palästina entstanden waren, zu großem Reichtum, Glanz und Ansehen gelangten. Den übrigen zwei, den Hospitalitern und Deutschherren, weit voran stand der dritte, die Templer oder Tempelherren ( templarii oder milites, fratres, commilitones templi), so geheißen, weil der erste Sitz des Ordens ein an den sogenannten Salomonischen Tempel in Jerusalem stoßendes Gebäude gewesen. Im Jahre 1118 gestiftet, war die Templerschaft schon dreißig Jahre später eine reiche und mächtige Korporation, und zu Anfang des 13. Jahrhunderts besaß der Orden nicht nur in der Levante, sondern auch und weit mehr noch in sämtlichen katholischen Ländern Europas eine Menge von Tempelhöfen, Balleien, Komtureien und Präzeptoreien, einen Besitz an Häusern, Burgen, Land und Leuten, wie er so ausgedehnt und stattlich keinem Fürsten der Christenheit als Domäne zu eigen war. Den meisten Reichtum und größten Glanz hatte jedoch die Templerei in Frankreich erworben, wo der »Tempel« in oder vielmehr bei Paris für den eigentlichen Mittelpunkt des Gesamtordenslebens galt.
Von der Place de la Concorde zieht sich in einem grandiosen Bogen bis zur Place de la Bastille die Reihenfolge von Prachtstraßen hin, die unter dem Namen der Boulevards bekannt sind. Bei der Porte St. Martin wendet sich dieser unvergleichliche Bogen in ziemlich scharf südöstlicher Schwingung dem Bastilleplatz zu, und zwar zunächst unter dem Namen »Boulevard du Temple«. Hier stand zur Zeit der ersten französischen Revolution ein jetzt verschwundenes, d. h. völlig umgebautes Stadtquartier, dessen Mittelpunkt die alte, im Sinne des Mittelalters mächtige und prächtige Ordensburg »Der Tempel« gewesen ist. Die Anfänge der Erbauung dieses Schlosses, das die Schlösser der gleichzeitigen französischen Könige an Räumlichkeit, Stärke und Pracht weit übertraf, fielen in die Regierungszeit Ludwigs VII., der den Templern einen damals außerhalb der Stadtmauer gelegenen Bauplatz geschenkt hatte, ein sumpfiges Stück Feld vor dem Stadttor St. Antoine. Mit derselben Raschheit des Aufschwungs, die die ganze Templerei kennzeichnete, stieg aus diesem Sumpffeld der »Tempel« empor, mit seinen Mauern, Bollwerken, Gräben und Türmen eine beträchtliche Bodenfläche bedeckend oder umfassend. Die Burg war der Sitz des Großpräzeptors von Francien, welcher Ordensbeamte dem Ansehen nach der dem Großmeister zunächst stehende gewesen ist, und hier wurden auch die großen Generalkapitel der sämtlichen diesseits der Alpen angesessenen Templerschaft abgehalten, während welcher Versammlungen der Tempel häufig vielen Hunderten von Tempelherren und dienenden Brüdern (»Servienten«) zur Herberge diente. Das Hauptgebäude der Ordensburg, der gewaltige viereckige Turm, wurde erst im Jahre 1306 durch den Großpräzeptor Jean-le-Turc vollendet.
Kaum war der Turm vollendet, als König Philipp der Schöne, gegen den um seiner ewigen Steuererhebungen und Falschmünzereien willen die Bürger von Paris in Waffen sich erhoben hatten, darin eine Zuflucht fand. Die Templer schützten ihn und versöhnten ihm auch mittels ihres großen Einflusses die aufständischen Pariser. Der König stattete in seiner Weise den pflichtschuldigen Dank ab, d. h. er verschwor sich mit seiner Kreatur, dem Papst Klemens V., zur Vernichtung des Ordens. Der Schuldigere von beiden war hierbei jedenfalls der Papst. Denn Philipp der Schöne, ein entschlossener, rücksichtsloser und skrupelloser Arbeiter an dem großen Werke der Staatseinheit Frankreichs, konnte wenigstens zu seinen Gunsten anführen, daß die Austilgung der Templerei dieses Werk um einen beträchtlichen Ruck vorwärts brächte; der fünfte Klemens dagegen, von Amts wegen der geschworene Beschützer des Ordens, lieh nur aus infamer Habsucht und elender Feigheit seine Hilfe zur Zugrunderichtung desselben. Freilich, wie sollte ein Gefühl für Recht und Ehre, wie eine Regung von sittlichem Mut von einem Manne zu erwarten gewesen sein, der als einer der wahlverwandtesten Vorgänger Alexanders VI. in der Geschichte der »Statthalter Christi« dasteht? Von einem Papste, dessen zuchtlose Hofhaltung zu Avignon, Poitiers und Bordeaux selbst in jener gewiß nicht mit übermäßigem Zartgefühl behafteten Zeit jeden nicht ganz verdorbenen Besucher anwiderte; von einem Papste, der, dem Zeugnis eines der gebildetsten und ehrsamsten Kirchenfürsten des Mittelalters, des Erzbischofs Antonius von Florenz zufolge, mit seiner »Freundin«, der reizenden Brunisard, Tochter des Grafen von Foix und Frau des Grafen von Talleyrand-Perigord, ganz öffentlich lebte, so öffentlich, daß die »Freundin« Sr. Heiligkeit nicht anstand, aus der päpstlichen Tiare die schönsten Diamanten ausbrechen und in ihre Armbänder fassen zu lassen!
Am 12. Oktober 1307 war König Philipp der Schöne mit seinem ganzen Hof im Tempel zu Gaste, zu Gaste bei dem Großmeister Jacques de Molay, den auf des Königs Wunsch der Papst tückischerweise von der Insel Zypern nach Frankreich gelockt hatte, damit er in das Verderben des Ordens mitverwickelt würde. Am Morgen des nächsten Tages sollte dieses Verderben anheben. Den Vorwand dazu mußten, wie jedermann weiß, die »Verbrechen« des Ordens hergeben, der allerdings durch Stolz, Hochmut, Eigennutz und Üppigkeit viel gesündigt hatte, allein der blasphemischen und sodomitischen Greuel, die die königlichen und päpstlichen Richter, d. h. Folterknechte und Henker, ihm schuld gaben, ganz gewiß nicht teilhaft gewesen ist.
Einhundertundvierzig Tempelbrüder, darunter verschiedene Großwürdenträger des Ordens, waren an jenem Oktobertag im Tempel um den Großmeister versammelt, der den König bewirtete. Es ging hoch her in dem großen Turm, wo die Staatsgemächer sich befanden. Philipp der Schöne war huldvoll und heiter über die Maßen, und während er unter Scherzen mit Jacques de Molay und den übrigen Tempelgebietigern tafelte und zechte, hatten seine Baillifs und Seneschalls im ganzen Umfange von Frankreich schon seine strengen Befehle in Händen, mit dem kommenden Tage, dem 13. Oktober, mittels List oder Gewalt aller Templer auf französischem Boden sich zu bemächtigen und sie einzukerkern, sowie sämtliche Besitztümer, liegende und fahrende Habe des Ordens mit Beschlag zu belegen.
So geschah es, und was am 12. und 13. Oktober 1307 vorging, gehört mit zu den schnödesten der im Buche der Geschichte verzeichneten Verrätereien. Der hierauf folgende Templerprozeß war sowohl als Ganzes wie in seinen Einzelheiten selbst für jene abergläubische, recht- und sittenlose, zugleich barbarisch-stupide und tückisch-grausame Zeit ein häßliches Brandmal, eine der höchsten Schandsäulen, die Königtum und Papsttum sich gemeinschaftlich errichtet haben. Es war ein greuliches Verfahren. Die Folter fungierte als Untersuchungsrichter. Wie sie arbeitete, mag schon das eine Beispiel beleuchten, daß einer der gefolterten Templer im Wahnwitz der Qual und Pein aufgeschrien hat, er bekenne sich schuldig, den Heiland ans Kreuz geschlagen zu haben. Das ist ganz analog der Tatsache, daß in deutschen Hexenprozessen als Hexen verklagte neun- und siebenjährige Mädchen auf der Folter bekannten, sie hätten zu dem Teufel in Verhältnissen gestanden, die ganz unmöglich waren, selbst wenn man den Glauben an die Existenz eines Teufels voraussetzt. Die Hinrichtungen der Tempelbrüder, die die Qualen des Kerkers und der Marterbank überlebten, waren massenhaft. In Paris allein erlitten einhundertunddreizehn den Feuertod. An einem und demselben Tage, am 12. Mai 1310, wurden vierundfünfzig Templer an Brandpfählen, die vor dem St. Antonstore aufgerichtet waren, mit langsamem Feuer zu Tode gequält, allesamt inmitten der Pein bis zum letzten Atemzug ihre Unschuld beteuernd. Dies tat in feierlichster Weise auch der Großmeister Jacques de Molay, der zugleich mit dem Großpräzeptor der Normandie am 11. März 1313 den auf der kleineren Seineinsel, da, wo später die Statue Heinrichs IV. aufgestellt wurde, errichteten Scheiterhaufen bestieg. Dieser angesichts des Todes abgegebene Protest ist historisch. Die Sage aber, die ja in ihrer poetischen Weise der herben Tragik der Geschichte häufig einen versöhnenden Zug beizumischen liebt, will, der unglückliche Molay habe aus den Flammen des Holzstoßes hervor den Papst und den König vor den Thron Gottes geladen. Gewiß ist, daß Klemens V. am 20. April 1314 zu Roquemaure an der Rhone starb und Philipp der Schöne am 29. November desselben Jahres zu Fontainebleau.
»Ich werde die Missetaten der Väter strafen an ihren Kindern und Kindeskindern bis ins siebente Glied.« Ein schrecklicher Spruch, erbarmungslos, grausam und rachsüchtig wie der alttestamentliche Judengott, dem er in den Mund gelegt ist. Und doch, die Bestätigung desselben findet sich auf zahllosen Blättern des Buches der menschheitlichen Geschicke. Denn mit alles vor sich niederwerfender Gewalt schreitet durch die Weltgeschichte die Vergeltung. Spät kommt sie manchmal, häufig, am häufigsten sogar; aber sie kommt, unerbittlich, taub allem Flehen, mit der eisig-ruhigen Majestät eines Naturgesetzes das Richter- und Rächeramt übend. Ah, wenn an jenem 12. Oktober 1307 vor den Augen König Philipps, als er im großen Tempelturm von Paris den verratenen Tempelherren zutrank, für einen Moment der Schleier der Zukunft zerrissen worden wäre, so daß er hätte hinausblicken können durch die Jahrhunderte auf den 13. August 1792, würde da der todhauchende Odem der Vergeltung nicht seine Seele angeschauert haben? Es war nicht Zufall, nein, es war die Logik der Weltgeschichte, daß der große Turm des Tempels, in dem eine der größten Ruchlosigkeiten des aufstrebenden französischen Königtums geplant und abgespielt worden, an dem genannten Augusttage dem französischen Königtum zum Kerker angewiesen wurde. Unser großer Seher, der von allen seit Shakespeare und Milton aufgestandenen Dichtern, obgleich oder vielmehr weil er Idealist war, am meisten historischen Sinn besaß, hat gegenüber dem geistlos-mechanischen Zufallsglauben die weltgeschichtliche Logik schön erkannt und anerkannt, indem er seinen Wallenstein sagen ließ:
»Es gibt keinen Zufall;
Und was uns blindes Ungefähr nur dünkt,
Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.«
Der Tempelturm, dessen Inneres den jammervollen Todeskampf Ludwigs XVI. und seiner Familie gesehen hat, ist von der Oberfläche der Erde verschwunden; aber niemals wird er aus dem Weltgeschichtsbuch verschwinden. Da steht er für alle Zeit, finster, drohend, wie der warnend emporgehobene Finger einer Riesenhand. Ist die Warnung bislang von denen, denen sie gilt, beachtet worden? Nein. Wird sie in Zukunft beachtet werden? Schwerlich, denn die Geschicke müssen sich erfüllen.
Am 21. Januar 1793 machte der entthronte König vom Tempelturm aus seine Todesfahrt zum Revolutionsplatz. Am 1. August wurde Marie Antoinette aus dem Tempel in die Conciergerie gebracht, von wo der entsetzliche Karren sie am 16. Oktober zum Schafott führte. Am 10. Mai 1794 hielt dieser Karren wieder vor dem Tempeltor, um eins der reinsten, beklagenswertesten Opfer des Terrorismus, die Prinzessin Elisabeth, zur Guillotine zu bringen. Am 8. Juni 1795 starb im Tempelturm ein armer, körperlich und geistig verkümmerter, rachitischer und bis zur Stummheit schweigsamer Knabe, Louis Charles, dem König von der Königin Marie Antoinette am 27. März 1785 zu Versailles geboren, erst Herzog von der Normandie, dann nach dem Tode seines älteren, im Juni 1789 verstorbenen Bruders Dauphin von Frankreich.
Aber war der am 8. Juni 1795 im Tempel gestorbene Knabe wirklich der Dauphin?
Diese Zweifelfrage erhob sich sofort, leise und laut, und sie ist bis auf den heutigen Tag noch nicht so beantwortet oder so zu beantworten, daß jeder Zweifel verstummen müßte. In Wahrheit, wir haben hier ein ungelöstes Rätsel vor uns, das immer wieder zu Lösungsversuchen reizt. Mag der nachstehende für das angesehen werden, für was er sich gibt: für eine unbefangene Zusammenstellung und Wertung der Tatsachen, die die historische Kritik zur Aufhellung des dunkeln Problems bis jetzt an die Hand gegeben hat.
Tatsache ist zuvörderst, daß alle die Betrogenen oder Betrüger oder betrogenen Betrüger, die nacheinander als Dauphin Louis Charles oder als Ludwig XVII. aufgetreten sind, Hervagault, Bruneau, Naundorff, Richemont und Williams, Glauben und Anhänger gefunden haben; zum Teil innigst überzeugte und leidenschaftlich begeisterte Anhänger. Dies muß auf den Umstand zurückgeführt werden, daß im Jahre 1795 die Sage ausgegangen war und Bestand gewonnen hatte, der angeblich im Tempel gestorbene Dauphin sei ein untergeschobenes Kind gewesen, der wahre und wirkliche lebe und sei aus dem Kerker gerettet. Man darf sogar behaupten, daß diese Anschauung die öffentliche Meinung war, wodurch freilich nichts bewiesen wird. Denn was ist zumeist die »öffentliche Meinung«? Nichts als ein verworrenes Geräusch, das aus dem Zusammenstoß der so oder anders angestrichenen Bretter entsteht, welche die Menschen vor ihren Stirnen tragen.
Indessen ermangeln wir doch nicht ganz solcher Anhaltspunkte, die beweisen, daß man auch in Kreisen, welche wissende genannt werden können, von dem Tode des Dauphins nicht überzeugt gewesen ist. Herr Labreli de Fontaine, ehemals Bibliothekar der Witwe des Herzogs von Orléans-Egalité, hat in einer von ihm unterzeichneten und veröffentlichten Flugschrift erklärt, die verbündeten Monarchen seien im Jahre 1814 so zweifelhaft gewesen, ob Ludwig XVII. noch am Leben sei, daß sie zwar öffentlich Ludwig XVIII. als König anerkannt, im Geheimen aber und sogar vertragsmäßig sich verpflichtet hätten, dem möglicherweise lebenden Sohne Ludwigs XVI. den französischen Thron noch zwei Jahre lang offenzuhalten. Sollte sich für diese Behauptung nicht ein vollgültiger urkundlicher Beweis beibringen lassen? Fest steht wenigstens, daß ein Teil der Royalisten, die nach dem faktischen Untergang der französischen Republik, d. h. nach dem 9. Thermidor 1794, eifrig an der Wiedereinsetzung der Bourbons arbeiteten, an den Tod des Dauphins nicht glaubte. Ein sehr glaubwürdiges Zeugnis hierfür wurde noch im Jahre 1851 beigebracht, bei Gelegenheit des Prozesses, den die Hinterlassenen Naundorffs bei den französischen Gerichten anstrengten. Dieses Zeugnis rührte von Herrn Brémond her, dem ehemaligen Geheimsekretär Ludwigs XVI., und besagte, daß er, Brémond, im Jahre 1795 von dem Schultheiß Steiger zu Bern vernommen habe, er, der Schultheiß, wisse ganz bestimmt und aus den besten Quellen, daß der Dauphin keineswegs im Tempel gestorben, sondern gerettet sei. Steiger stand aber, wie bekannt, mit den höchsten Kreisen der royalistischen Emigration, wie auch mit den Generälen der Vendée, in engen Beziehungen.
Die weitverbreitete Sage in betreff der Rettung des Prinzen aus dem Tempel ist, daß diese auf Betreiben von Josephine Beauharnais durch ihren damaligen Liebhaber Barras bewerkstelligt worden sei. Diesen zwei Personen wird, unter Mitwirkung von Hoche, Pichegru, Frotté und dem Kreolen Laurent, die Retterrolle auch in der Geschichte des Uhrmachers Naundorff zugeteilt, der übrigens, nebenbei bemerkt, von Madame de Rambaud, Amme des Dauphins bis zu dessen Einkerkerung im Tempel, förmlich und feierlich als der echte Sohn Ludwigs XVI. erkannt und anerkannt worden ist. Freilich, die ganze Rettungshistorie des Dauphins, wie Naundorff sie erzählte, ist ein solches Wirrsal von Abenteuerlichkeiten, Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten, daß man sie der Phantasie eines Viktor Hugo entsprungen glaubt. Es gibt aber auch noch andere Versionen dieser Historie. Eine derselben, von denen geglaubt und verbreitet, die den geretteten Dauphin in der Person des Richemont erkannten und verehrten, lautet also: »Am 19. Januar 1794 wurde der Prinz, mit Vorwissen und Beihilfe seines bestochenen Wärters Simon, durch die Herren Frotté und Ojardias, Emissäre des Prinzen von Condé, aus dem Tempel entführt, nachdem man an die Stelle des Entführten einen stummen Knaben von gleichem Alter gebracht hatte. Der gerettete Dauphin aber ward nach der Vendée gebracht, begab sich, nachdem sein angeblicher Tod im Tempel offiziell bekanntgemacht worden, zur Armee des Prinzen von Condé und wurde von diesem später (1796) dem General Kleber anvertraut, der ihn für den Sohn eines Verwandten ausgab und ihn als Adjutanten bei sich behielt.« Weiter brauchen wir diesen Mythus nicht zu verfolgen. Dagegen ist die Frage zu berühren, warum denn der gerettete Prinz nicht sofort bei sämtlichen Anhängern der Bourbons laute und begeisterte Anerkennung gefunden habe? Hierauf wird uns die ziemlich plausibel lautende Antwort:
In der bourbonischen Familie herrschten bekanntlich schon vor dem Ausbruch der Revolution heftige Zerwürfnisse, und man schrieb insbesondere und allerdings nicht ganz ohne Grund dem schlauen und ehrgeizigen Grafen von Provence, Bruder Ludwigs XVI. und nachmals Ludwig XVIII., die planmäßig verfolgte Absicht zu, die Nachkommenschaft seines älteren Bruders, schon aus Haß gegen Marie Antoinette, zugrunde zu richten. Als nach dem angeblichen Tode des Dauphins im Tempel der Graf von Provence von einem Teil der Royalisten als legitimer König anerkannt worden war, habe er natürlich alles daran gesetzt, jedem von seinem geretteten Neffen etwa zu erhebenden Anspruch zum voraus die Möglichkeit des Gelingens abzuschneiden. Zu diesem Zwecke hätten es Ludwig XVIII. und seine sämtlichen Anhänger zu einem Glaubensartikel gemacht, daß der Dauphin wirklich im Tempel gestorben sei. Um aber auch der Schwester des Prinzen, der Prinzessin Marie Therese Charlotte, von verzückten Royalisten als die »Waise des Tempels« glorifiziert, welche im Dezember 1795 zum Austausch von Kriegsgefangenen an die Österreicher ausgeliefert wurde, die Annahme dieses Glaubensartikels schmackhaft zu machen, trennte man ihr Interesse von dem ihres Bruders, indem man sie mit dem ältesten Sohne des Grafen von Artois vermählte und ihr damit, da Ludwig XVIII. kinderlos, die Aussicht eröffnete, eines Tages Königin von Frankreich zu werden, und zwar regierende Königin, da ihr Gemahl, der Herzog von Angoulême, eine entschiedene Null war. Hieraus habe man sich denn auch den Umstand zu erklären, daß die Herzogin von Angoulême mit der ganzen Härte und Schärfe ihres Charakters gegen jeden Versuch, sie von der Rettung ihres Bruders aus dem Tempel, von seinem Fortleben, von seinem Dasein zu überzeugen, herb abweisend sich benommen hat.
Und doch war es dieselbe Prinzessin, die mittels einer Stelle der berühmten Denkschrift, worin sie ihre Erlebnisse im Tempel ausgezeichnet hat – »Récit des événements arrivés au Temple«, par Madame Royale – für die Behauptung, der Dauphin sei aus dem Tempel gerettet worden, und zwar an dem schon erwähnten 19. Januar 1794, einen sehr bemerkenswerten Stützpunkt beibrachte. Die gemeinte Stelle ist diese: »Am 19. Januar hörten wir (d. h. die Prinzessin und ihre Tante Elisabeth) bei meinem Bruder – d. h. im Zimmer desselben – ein großes Geräusch, das uns auf die Vermutung brachte, daß mein Bruder den Tempel verließe, und wir wurden dessen überzeugt, als wir, durch das Schlüsselloch unserer Gefängnistür blickend, Gepäckstücke wegtragen sahen. An den folgenden Tagen hörten wir die Tür des Zimmers, worin mein Bruder sich befunden hatte, öffnen und vernahmen die Schritte von darin Herumgehenden, was uns in dem Glauben, daß er weggegangen – will sagen, weggebracht worden wäre – noch bestärkte.«
Wir sind aber mit diesem 19. Januar 1794 noch nicht fertig. Denn es ist eine festgestellte Tatsache, daß gerade an diesem Tage der verrufene Schuster Simon, der das Wächteramt bei dem armen Dauphin mit einer Anstellung als Munizipalbeamter vertauschte, mit seiner Frau und mit Sack und Pack den Tempel verließ. Tatsache ferner ist es, eine im Verlaufe der oben erwähnten Prozeßverhandlung von 1851 als wohlbezeugt erhärtete Tatsache, daß die Witwe Simons, Marie Jeanne Aladame, die erst am 10. Juni 1819 gestorben ist, und zwar in dem Frauenspital der Sèvresstraße, den barmherzigen Schwestern, die dort die Krankenpflege besorgten, wiederholt und umständlich erklärt hat, der Dauphin sei nicht im Tempel gestorben, sondern daraus entführt worden, mit ihrer und ihres Mannes Beihilfe, und zwar an demselben Tage, wo sie ihren Auszug bewerkstelligten, am 19. Januar 1794. Die Entführung sei aber so vollzogen worden. Unter anderem Spielzeug habe man für den Prinzen ein großes Pferd von Pappdeckeln anfertigen lassen. In dem Bauche dieses Pferdes wurde das (stumme) Kind, welches man der Person des gefangenen Dauphins unterschob, in den Tempel gebracht. Der Prinz aber ward in einem großen Weidenkorb mit doppeltem Boden verborgen, dieser Korb sodann auf den Wagen gebracht, der das Mobiliar Simons aus dem Tempel führte, und mit einem Haufen Wäsche bedeckt. Die Wache am Tempeltor untersuchte zwar den Wagen und machte Miene, auch die Wäsche zu durchstöbern; allein Frau Simon wandte dies glücklich ab, indem sie mit gut gespielter Entrüstung die Männer zurückwies, sie bedeutend, das sei ihre schmutzige Wäsche. Also sei der Inhalt des Weidenkorbes ohne weitere Anfechtung aus dem Tempel geschmuggelt worden.
Nun haben freilich alle diejenigen, denen irgendwie daran liegen mußte, die Ansicht, der Dauphin sei im Tempel gestorben, als die allein richtige aufrechtzuerhalten, die Behauptung aufgestellt, die Witwe Simons sei, als sie die zitierte Mitteilung machte, verrückt gewesen; aber für diese Behauptung ist nicht ein Schatten von Beweis beigebracht worden, während im Gegensatz hierzu die Zeugnisse der barmherzigen Schwestern, die Witwe Simon habe, als sie ihre Angaben machte, dies bei vollem Verstande getan, ganz bestimmt lauten. Dieser Einwurf gegen die Erzählung der Frau wäre also beseitigt. Aber war die ganze Aussage vielleicht nur eine Dichtung, durch die die Witwe Simons die Wucht des gerechten Abscheus mindern wollte, die auf ihr selbst und auf dem Andenken ihres Mannes lastete? Eine bestimmte Bejahung dieser Frage ist ebenso unmöglich wie eine bestimmte Verneinung. Indessen muß doch hervorgehoben werden, daß die Ansicht, der Dauphin sei aus dem Tempel gerettet worden, in den höchsten und allerhöchsten Hofkreisen mißfällig, sehr mißfällig war und daß, wenn irgendwer, die Witwe Simons sich zu scheuen hatte, das Mißfallen der Machthaber von damals auf sich zu ziehen. Es ist daher durchaus unstatthaft, anzunehmen, die Frau habe ihre Phantasie angestrengt, um etwas zu ersinnen, was ihr keinen Dank, sondern möglicherweise nur Verfolgung eintragen konnte.
Die Entführung des Prinzen in der Erzählung der Witwe Simons hätte offenbar das Einverständnis und die Mitwirkung von damals, d. h. im Januar 1794, einflußreichen Männern zur Voraussetzung gehabt. In dieser Beziehung ist von verschiedenen Seiten her auf Cambacérès hingewiesen worden. Der über gar manches, was hinter den Kulissen der Revolutionsbühne vor sich gegangen, wohlunterrichtete Verfasser der » Histoire secrète du Directoire« – man schreibt sie dem Grafen Fabre de l'Aude zu – meint: »Es scheint gewiß, daß man das Publikum hinsichtlich der Zeit und des Ortes, wann und wo Ludwig XVII. gestorben, getäuscht hat. Cambacérès gab das zu; aber niemals wollte er mitteilen, was er über diese Angelegenheit wußte.« Im Mai 1799 sodann schrieb die Gräfin d'Adhémar, gewesene Palastdame der Königin Marie Antoinette, in das Buch ihrer » Souvenirs«, indem sie auf den Dauphin zu reden kam: »Unglückliches Kind, dessen Regierung in einem Kerker begonnen und beschlossen wurde, das aber doch nicht in diesem Kerker den Tod gefunden hat! Gewiß, ich meinerseits will in keiner Weise die Anhaltspunkte vermehren, welche Betrügern sich darbieten könnten; aber, indem ich dies niederschreibe, bezeuge ich bei meiner Seele und bei meinem Gewissen: ich weiß bestimmt, daß Se. Majestät Ludwig XVII. nicht im Tempelkerker gestorben ist. Sagen zu können, wohin der Prinz gekommen und was aus ihm geworden, behaupte ich nicht; ich weiß es nicht. Nur Cambacérès, der Mann der Revolution, wäre imstande, meine Angabe zu vervollständigen; denn er weiß hierüber viel mehr als ich …« Da hätten wir ein recht förmliches und feierliches Zeugnis. Schade nur, daß es anfechtbar ist. Die »Erinnerungen« der Gräfin d'Adhémar rühren nämlich großenteils nicht von ihr selbst, sondern von dem Baron Lamothe-Langon her, auf dem der wohlgegründete Verdacht ruht, Wahrheit und Dichtung häufig so vermischt zu haben, daß man Mühe hat, zu unterscheiden, wo jene aufhört und diese anfängt. Doch ist gerade in betreff der angeführten Stellen wohl zu beachten, daß Lamothe-Langon einer der vertrautesten Hausfreunde von Cambacérès gewesen ist und demnach allerdings von der auffälligen Beteiligung des letzteren an der Entführung des Dauphins, wenn nicht alles, so doch etwas wissen konnte. Die Vermutung, daß Cambacérès wirklich bei der Sache beteiligt gewesen sei, gewinnt einigermaßen Bestand dadurch, daß die Bourbons nach ihrer ersten Rückkehr (1814) und sogar nach ihrer zweiten (1815) dem Manne eine ganz merkwürdige, geradezu auffallende Schonung angedeihen ließen, dagegen mit ebenso auffallender Hast sofort nach seinem Tode seine Papiere versiegeln und mit Beschlag belegen ließen. Hatte man aus dem Munde des lebenden oder aus den Papieren des toten Cambacérès eine Enthüllung des Tempelgeheimnisses zu befürchten? Denn wir müssen uns stets gegenwärtig halten, daß es für Ludwig XVIII., wie für Karl X., und auch nachmals für den Julikönig Louis Philippe von höchstem Interesse war, das Rätsel des Tempels ungelöst zu lassen und jeden neuauftauchenden Zweifel an dem angeblich im Tempel erfolgten Tode des Dauphins sofort niederzudrücken.
Angenommen aber, es habe wirklich eine Vertauschung und Entführung des Prinzen stattgefunden, wohin ist er gekommen und was ist aus ihm geworden? Ein Dauphin von Frankreich, in welchem seit dem 21. Januar 1793 die französischen Royalisten von Legitimitäts wegen ihren König erblicken mußten, kann doch nicht so spurlos verschwinden, als hätte die Erde ihn verschlungen. Die Sage, daß der Knabe in das Lager des Prinzen von Condé gerettet worden, ist reine Faselei. Condé war zwar ein notorischer Schwachkopf, aber in seiner Art ein ehrlicher Mann, der sich nicht dazu hätte gebrauchen lassen, seinen legitimen König zu verleugnen. Es ist also mit Bestimmtheit anzunehmen, daß er den Prinzen nicht nur nicht bei sich hatte, sondern auch an das von seiten der republikanischen Behörden amtlich kundgegebene Ableben desselben im Tempel aufrichtig glaubte, da er hierüber einen Tagesbefehl erließ, der mit den Worten schloß: »Der König Ludwig XVII. ist tot, es lebe Ludwig XVIII.!« Freilich, jeder der Herren, welche nachmals für den Dauphin sich ausgaben, hat sich seine Odyssee zurechtgemacht, d. h. eine Rhapsodie der Abenteuer und Irrfahrten, die er nach der Rettung aus dem Tempel angeblich zu bestehen gehabt. Allein dies ist kein Stoff für den Historiker, sondern nur etwa für einen Novellisten à la Monsieur A. Dumas des Monte Christo. Allerdings heißt es gar mannigfach: » Credo quia absurdum est« (ich glaube an den Unsinn, nicht obgleich, sondern weil er Unsinn) – und demzufolge war es ganz in der Ordnung, daß auch das nachstehende von einem stark angebrannten Royalistengehirn ausgebrütete absurde Märchen Glauben fand in der Welt. Die Entführung aus dem Tempel hat vor dem 9. Thermidor stattgefunden, also zu einer Zeit, wo nur ein Mensch so etwas wagen konnte, Robespierre. Dieser hat an die Stelle des wahren Dauphins einen falschen gebracht, der als solcher im Notfall leicht festgestellt werden konnte. Den wahren aber hat er beseitigen, ermorden, kurz, verschwinden lassen, weil er ihm ein Hindernis war auf dem Wege zum Throne von Frankreich, auf den er, Maximilian Robespierre, sich schwingen wollte, und zwar mittels einer – hört! hört! – Heirat mit der gefangenen Schwester des beseitigten Dauphins, mit der Prinzessin Marie Therese, der nachmaligen Herzogin von Angoulême. Der Zug fehlte noch zur völligen Verungeheuerlichung des Mannes, in welchem alle die kleinen und großen Kinder, ungelehrte und gelehrte, den riesengroßen Sündenbock der Französischen Revolution erblicken, weil sie die Gesetze des weltgeschichtlichen Prozesses nicht kennen oder nicht verstehen und daher ganz unfähig sind, die große Umwälzung in ihrer Totalität zu fassen und zu begreifen, oder, was dasselbe sagt, die Wirkungen auf ihre Ursachen zurückzuführen.
Doch wir haben uns jetzt hinlänglich lange in der Wolkenregion der Vermutungen und Behauptungen, der Fabeln und Märchen herumgetrieben. Wir mußten es tun, wollten wir das in Rede stehende Problem allseitig in die richtige Beleuchtung rücken. Jetzt aber treten wir auf festeren Boden hinüber.
*
Nachdem der sansculottische Schuster Simon, wie wir sahen, sein Wächteramt bei dem Dauphin aufgegeben hatte, blieb das Kind volle sechs Monate lang ohne eigentliche Aufsicht. Die einzige, die man ihm angedeihen ließ, wurde von den Tag für Tag wechselnden Kommissaren der Kommune geführt. Jedenfalls aber wurde der arme Knabe – war es der Prinz oder ein untergeschobenes Kind – tatsächlich jetzt viel grausamer behandelt, als er von Simon und dessen Frau behandelt worden war. Alles schien nicht nur, sondern war auch augenscheinlich darauf berechnet, entweder den wirklichen Dauphin langsam zu morden oder aber den falschen in einen Zustand zu versetzen, der es unmöglich machte, die Wahrheit über seine Persönlichkeit an den Tag zu bringen, und mittels dieser Unmöglichkeit die Spuren der begangenen Unterschiebung zu verwischen. Man sperrte den Knaben im unteren Stockwerk des Tempelturms in ein düsteres und mittels künstlicher Vorrichtungen noch mehr verdunkeltes Gemach, als sollte er weder sehen noch gesehen werden. Man ließ ihm seine kärgliche Nahrung mittels einer Art Drehscheibe zukommen; er durfte nie mehr im Garten des Tempels oder auf der Plattform des Turmes sich Bewegung machen, noch auch mit seiner gefangenen Schwester zusammenkommen, ja ihr nicht einmal zufällig oder flüchtig begegnen. Man verdammte ihn zur Einsamkeit in einem bei Tage lichtlosen, bei Nacht unerhellten Gelasse, dessen Zugänge förmlich verbarrikadiert waren.
Ist dies alles nur eine Wirkung der ängstlichen Sorge des Sicherheitsausschusses gewesen, das kostbare Pfand könnte durch die Bourbonisten entführt werden, oder aber war es eine Folge der Absicht, den Knaben dem Anblick aller Personen, die den Dauphin gekannt hatten, zu entziehen?
Erst am 11. Thermidor (29. Juli 1794) wurde dem armen Kleinen wieder ein Wächter bestellt, und zwar in der Person des schon weiter oben genannten Kreolen Laurent, dessen Wahl man auf den Einfluß hat zurückführen wollen, den die Kreolin Josephine Beauharnais auf die Machthaber des Tages, auf Barras und Tallien übte. Die Thermidorier, welche der großen Lüge, daß sie aus »Menschlichkeit« gegen Robespierre und seinen Anhang rebelliert hätten, einen Schein von Wahrheit geben wollten, ließen auch in der Behandlung des gefangenen Kindes eine scheinbare Milderung eintreten, die vielleicht noch nicht zu spät gekommen wäre, wenn sie mehr als eine nur scheinbare gewesen. Am 13. Thermidor, also zwei Tage nach der Bestellung Laurents zum Wächter, besuchten etliche Mitglieder des Sicherheitsausschusses den kleinen Gefangenen im Tempel.
Falls die Vertauschung des Prinzen durch Laurent bewerkstelligt worden wäre, müßte dies also am 12. Thermidor geschehen sein; denn der neue Wächter mußte sich doch, bevor er das Wagstück unternahm, einigermaßen in der Örtlichkeit orientiert haben. Bei Gelegenheit der Verhandlung des Naundorffschen Prozesses zu Paris im Jahre 1851 brachte der Anwalt der Hinterlassenen Naundorffs, der Advokat Jules Favre, drei von Laurent an Barras gerichtete Briefe vor, in denen die Unterschiebung eines stummen Waisenknaben an die Stelle des Dauphin »konstatiert« war. Wäre dies unanfechtbar erhärtet, so würde darin ein höchst wichtiger, ja ein ausschlaggebender Umstand gefunden sein. Allein die beigebrachten Briefe waren bloße Abschriften von zweifelhafter Echtheit. Die Originale der Briefe sollen im Jahre 1810 dem Justizrat Lecoq in Berlin anvertraut worden sein.
Die Mitglieder des Sicherheitsausschusses fanden bei ihrem am 13. Thermidor im Tempel abgestatteten Besuche einen »etwa neunjährigen Knaben« vor, »unbeweglich, mit gekrümmtem Rücken, mit Armen und Beinen, deren ungewöhnliche Länge zu dem übrigen Körper in einem großen Mißverhältnis stand«. Dieser Knabe, der wahre oder ein falscher Dauphin, war im Besitze des Gehörs, nicht aber der Sprache, die Besucher vermochten ihm kein Wort, keine Silbe zu entlocken. Dieser Tatsache widerspräche freilich die Angabe von einem Besuch, den nicht lange nach dem 9. Thermidor Barras in eigener Person dem kleinen Gefangenen abgestattet haben soll. Bei dieser Gelegenheit habe der Knabe mit Barras gesprochen. Allein diese ganze Geschichte von dem Barrasschen Besuch ist als gänzlich unerwiesen abzuweisen. Am 9. November 1794 gab man dem Wächter Laurent einen Gehilfen in der Person eines gewissen Gomin, der den Dauphin, den wahren nämlich, früher nie gesehen hatte. In späterer Zeit freilich, nachdem ihm die Herzogin von Angoulême zum Kastellan ihres Schlosses Meudon gemacht hatte (1814), hat er behauptet, er habe in dem Knaben im Tempel den Sohn Ludwigs XVI. erkannt, den er früher oft gesehen habe. Allein da man weiß, wie feindselig die Herzogin stets gegen die Ansicht, ihr Bruder wäre nicht im Tempel gestorben, sich erwiesen hat, so verdient die eben berührte Aussage Gomins gar keinen Glauben.
Im genauen Verhältnis zum augenfälligen Vorschritt der royalistischen Reaktion oder wenigstens Reaktionsstimmung im Herbst und Winter 1794 richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit mehr, als bis dahin geschehen war, auf den kleinen Gefangenen im Tempel. Auch der Konvent beschäftigte sich daher mit ihm. Am 28. Dezember stellte Lequinio in der Konventssitzung den Antrag, »mittels Verbannung des gefangenen Prinzen den Boden der Freiheit von der letzten Spur des Royalismus zu reinigen«. In dem Bericht, den Cambacérès über diesen Antrag erstattete, beantragte er Verwerfung desselben, d. h. fernere Gefangenhaltung des Dauphins, was beschlossen wurde. In der Debatte tat Brisal die rohe Äußerung: »Ich wundere mich, daß man bei allen den unnützen Verbrechen, die vor dem 9. Thermidor begangen worden sind, die Überbleibsel einer unreinen Rasse verschont hat.« Worauf Bourdon: »Es gibt keine nützlichen Verbrechen! Ich verlange, daß der Vorredner zur Ordnung gerufen werde.« Großer Beifall. »Ich rufe mich selber zur Ordnung«, sagte Brisal.
Zur selben Zeit kränkelte der kleine Gefangene mehr und mehr, und auf die Meldung der Wächter, daß sein Siechtum zunehme, schickte die Kommune eine Abordnung in den Tempel, die dann den amtlichen Bericht erstattete, daß »der kleine Capet an seinen Hand- und Fußgelenken, insbesondere an den Knien, geschwollen sei; daß es unmöglich, auch nur ein Wort von ihm zur Antwort zu erhalten; daß er seine ganze Zeit entweder im Bett oder auf dem Stuhl zubringe und nicht zu vermögen sei, sich irgendwelche Bewegung zu machen«. Durch diesen Bericht beunruhigt, wie es scheint, sandte der Sicherheitsausschuß am 27. Februar 1795 die drei Konventsmitglieder Harmand, Mathieu und Reverchon in den Tempel, um das Befinden des kleinen Gefangenen zu erkunden.
Die drei Genannten fanden den Knaben an einem Tische sitzend und beschäftigt, mit Karten zu spielen. Er gab beim Eintritt der Deputierten das Spiel nicht auf. Harmand setzte ihm den Zweck dieses Besuchs auseinander und daß er und seine Kollegen ermächtigt seien, ihm jede Erleichterung und Zerstreuung zu bewilligen. Das Kind schaute den Sprecher aufmerksam an, gab aber keine Antwort; nicht eine Silbe entfiel seinen Lippen. Harmand sagte: »Ich beehre mich, Sie zu fragen, Monsieur, ob Sie ein Pferd, einen Hund oder Vögel und anderes Spielzeug, ob Sie vielleicht auch einen oder mehrere Spielkameraden von Ihrem Alter wünschen? Wollen Sie im Garten spazieren gehen oder auf die Plattform des Turmes steigen? Wollen Sie Bonbons und Kuchen?« Keine Antwort. Harmand stellte sich an, als vertauschte er das gütige Zusprechen mit einem befehlenden. Umsonst, keine Antwort. Harmand versuchte, den Knaben dadurch zum Sprechen zu bringen, daß er ihm vorstellte, sein Schweigen mache es ja den Kommissaren unmöglich, dem Gouvernement Bericht zu erstatten. Vergebens, der Knabe blieb stumm. Aber taub war er nicht. Auf Harmands Wunsch gab er diesem sogleich die Hand. Auf Trotz und Tücke konnte sein Schweigen nicht zurückgeführt werden. Denn mit Ausnahme des Sprechens tat er unweigerlich alles, was man von ihm verlangte. Höchlich verwundert fragte Harmand, bevor er mit seinen Kollegen den Tempel verließ, die beiden Wächter, welcher Ursache denn wohl diese außerordentliche Schweigsamkeit zuzuschreiben sei. Laurent und Gomin versicherten, wie Harmand in seinem Bericht bemerkt hat – daß der Prinz seit dem Abend des 6. Oktobers 1793, wo er durch den ruchlosen Hébert verlockt und gezwungen worden, die bekannte namenlose Schändlichkeit gegen seine Mutter Marie Antoinette auszusagen, niemals wieder den Mund zum Reden aufgetan habe.
Aber Laurent und Gomin hatten sich damals, im Oktober 1793, noch gar nicht im Tempel befunden, und ihre Aussage hat also nur insofern Wert, als sie angibt, der Gefangene habe sich seit dem Eintritt der beiden in das Wächteramt stumm verhalten. Die angeführte Begründung des prinzlichen Stummseins ist übrigens reiner Blödsinn. Der Dauphin konnte darüber, daß er sich durch Hébert jene schmutzige Aussage hatte erpressen lassen, unmöglich eine so verzweiflungsvolle Reue empfinden, weil er jene ihm durch Hébert auf die Zunge gelegte Äußerung weder in ihrem Wesen noch in ihrer Tragweite hatte verstehen können. Und welcher Mensch von gesundem Menschenverstand wird glauben, daß ein Kind von neun Jahren plötzlich den Entschluß fassen und mit eiserner Energie bis zu seinem letzten Atemzug durchführen könnte, niemals wieder ein Wort zu sprechen? … Aus alledem geht also hervor: Harmand und seine Kollegen fanden am 27. Februar 1795 im Tempel einen stummen Knaben, während die Sprachorgane des Dauphins ganz in Ordnung gewesen waren.
Anfang April trat an die Stelle des Laurent ein neuer Wächter und Wärter, ein gewisser Lasne. Dieser spielte später eine wichtige Rolle in der Meinung solcher, welche glaubten oder wenigstens andere glauben machen wollten, der echte Dauphin wäre im Tempel gestorben. Lasne behauptete nämlich, der kleine Gefangene sei nicht stumm gewesen. Aber das Zeugnis dieses Menschen ist im höchsten Grade verdächtig; erstens deshalb, weil er sich, gerichtlich vernommen, gänzlich widersprochen hat, indem er im Jahre 1834 angab, der Prinz habe Tag für Tag mit ihm geplaudert, im Jahre 1837 dagegen, er habe den Prinzen nur ein einziges Mal und auch da nur wenige Worte reden gehört. Zweitens deshalb, weil die Äußerungen, welche Lasne, seiner Aussage von 1834 zufolge, aus dem Munde des gefangenen Kindes vernommen haben wollte, unmöglich von diesem herrühren konnten. Pascal oder Montesquieu hätte sich, in die Lage des kleinen Gefangenen versetzt, kaum weiser und tiefsinniger ausdrücken können. Ein neunjähriges, krankes, seit Jahren allem Unterricht, sogar allem Umgang entzogenes Kind konnte nicht so philosophisch reden; es ist schlechterdings unmöglich!
Aber wir müssen unsere Schritte wieder um etwas zurücklenken, um dann mit logischer Sicherheit weiter vorgehen zu können … Der Bericht, den Bürger Harmand dem Sicherheitsausschuß, d. h. der höchsten Polizeibehörde der Republik, erstattete, wurde geheimgehalten und hatte für den jungen Gefangenen keine Folgen. Seine Lage blieb ganz dieselbe. Es scheint aber fast, als hätte Harmand durchblicken lassen, daß er in dem verwachsenen, skrofulösen und stummen Knaben den Dauphin, der ein gesunder, wohlgestalteter und aufgeweckter Junge gewesen war, nicht erkannt habe und daß er so unvorsichtig-ehrlich gewesen sei, den thermidorischen Machthabern, die damals vom Wohlfahrts- und vom Sicherheitsausschuß aus Frankreich regierten, zu merken zu geben, daß hier ein Geheimnis vorliege, welches aufgeklärt werden müßte. Auffallend ist jedenfalls die Tatsache, daß man sich beeilte, den Bürger Harmand rasch von der Bühne verschwinden zu lassen: wenige Tage nach seinem Besuch im Tempel wurde er als Kommissar der Republik nach Ostindien geschickt. Das Geheimnis sollte also nicht aufgeklärt werden.
Zu Anfang des Mai 1795 verschlimmerte sich der Zustand des jungen Tempelgefangenen so auffallend, daß man ihm ärztliche Behandlung zuteil werden lassen mußte, wenn man der Behauptung, mit dem 9. Thermidor sei ein menschlicheres Regiment eingetreten, nicht geradezu ins Gesicht schlagen wollte. Angenommen nun, der erkrankte Knabe sei nicht der Dauphin gewesen, so begingen diejenigen, die wissen mußten, daß er es nicht sei, eine grobe Unvorsichtigkeit, indem sie zuließen, daß ein Arzt, der den Dauphin früher gekannt hatte, zu dem Kranken geschickt wurde. Es war dieser Arzt der berühmte Desault vom Hôtel-Dieu; doch sollte er, so bestimmte der Sicherheitsausschuß, den Patienten nur in Gegenwart der Wächter sprechen und untersuchen dürfen. Zur gleichen Zeit beschied der Ausschuß ein Gesuch des Monsieur Hue, ehemaligen Kammerdieners Ludwigs XVI., abschlägig, das Gesuch, den erkrankten Prinzen pflegen zu dürfen. Scheuten sich die »menschlichen« Herren vom Thermidor, einen Mann wie Hue, der natürlich den Dauphin genau gekannt hatte, zu dem Tempelgefangenen zu lassen?
Am 6. Mai besuchte Desault den kranken Knaben zum erstenmal. Er konnte ihn nicht zum Sprechen bringen. Allerdings versichern gewisse royalistische Autoren, die die Aufgabe hatten, um jeden Preis den Dauphin im Tempel gestorben sein zu lassen, Desault habe durch seine Güte den stummen Patienten schließlich doch zum Sprechen gebracht; aber sie wollen das von Lasne gehört haben, dessen Zeugnis, wie oben nachgewiesen worden, als gänzlich unzuverlässig betrachtet werden muß. In der Nacht zum 30. Mai wurde Desault, nachdem er bei einigen Herren von der Regierung zu Abend gespeist hatte, plötzlich todkrank. Am 1. Juni starb er. War da etwa ein »nützliches« Verbrechen begangen worden? Man munkelte in Paris, Desault sei vergiftet worden, weil er sich nicht dazu hätte gebrauchen lassen wollen, den kleinen Tempelgefangenen zu vergiften – ein ganz grundloses, dummes Getratsch. Anders freilich stellt sich die Sache, wenn man, wie ebenfalls behauptet wurde, annimmt, Desault sei auf Anstiften derer, die den Schlüssel des Tempelrätsels besaßen, beseitigt worden, weil er bemerkt und zu bemerken gegeben habe, daß der rachitische und stumme Knabe im Tempelturm nicht der wahre Dauphin, den er ja gut gekannt hatte, sein könnte, sondern ein untergeschobener sein müßte.
Dieser Verlauf der Sache ist nun keineswegs ein bloß mutmaßlicher, sondern ein wohlbezeugter. Ein Schüler von Desault, Monsieur Abeillé, hat sein Leben lang standhaft behauptet, sein Lehrer sei vergiftet worden infolge seines an den Sicherheitsausschuß erstatteten Rapports, daß er in dem jungen Tempelgefangenen den Dauphin nicht erkannt habe. Jules Favre sodann hat in seinem Plädoyer vom Jahre 1851 das Zeugnis eines anderen Schülers und Freundes von Desault zitiert, der ihm, Favre, zu Périgueux die Angaben Abeillés bestimmt bestätigte. Noch gewichtiger ist die nachstehende, aus der Familie Desaults herrührende und in aller Form ausgestellte Bezeugung.
»Ich, Unterzeichnete, Agathe Calmet, Witwe des Pierre Alexis Thouvenin, wohnhaft in Paris, Platz d'Estrapade Nummer 34, bezeuge, daß bei Lebzeiten meines Mannes Thouvenin, eines Neffen des Doktor Desault, ich meine Tante, Frau Desault, häufig habe erzählen hören, daß der Doktor Desault, Hauptarzt am Hôtel-Dieu, gerufen wurde, um den Knaben Capet, der damals im Tempel gefangen saß, zu besuchen – so lautete der dem Doktor Desault von seiten des Sicherheitsausschusses schriftlich zugefertigte Befehl. Im Tempel wies man ihm ein Kind, das nicht der Dauphin war, den Herr Desault vor der Gefangensetzung der königlichen Familie mehrmals gesehen hatte. Nachdem der Doktor einige Nachforschungen angestellt, um zu erfahren, wohin wohl der Sohn Ludwigs XVI., an dessen Statt man ihm ein anderes Kind gezeigt hatte, gekommen sein möge, stattete er seinen Rapport ab, und an demselben Tage erhielt und befolgte er die Einladung einiger Konventsmitglieder zum Diner. Von diesem Mahle weg nach Hause gegangen, wurde er von entsetzlichem Erbrechen befallen. Er starb daran und dies ließ glauben, daß er vergiftet worden sei. Agathe Calmet. Paris, 5. Mai 1845.«
Wäre nur die Vergiftung Desaults gerichtsärztlich festgestellt! Es scheint aber gar keine Untersuchung dieses plötzlichen und auffallenden Todesfalls angestellt worden zu sein. Jedoch machte das Ereignis Lärm, und Frau Desault erklärte ganz laut, ihr Mann sei vergiftet worden. Sollte ihr etwa dadurch der Mund gestopft werden, daß ihr der Konvent eine Pension von zweitausend Livres bewilligte? Seltsam ist auch, daß ganz entgegen dem herrschenden Brauch der Rapport Desaults nicht veröffentlicht wurde. Die Inhaltsangabe der Nummer 263 des Moniteur von 1795 führt den Bericht des Arztes als in derselben Nummer enthalten auf; aber diese Angabe lügt, denn der Rapport fehlt und ist überhaupt nie veröffentlicht worden. Sechs Tage nach Desaults Tode starb auch sein vertrauter Freund, der Apotheker Choppart, plötzlich. Er hatte für den jungen Patienten im Tempel die Arzneien geliefert.
Am 5. Juni gab der Sicherheitsausschuß dem kranken Knaben einen neuen Arzt in der Person des Doktor Pelletan, welcher bat, sich den Doktor Dumangin zugesellen zu dürfen, sowie später auch noch die Doktoren Lassus und Jeanroy. Man möchte fast glauben, Herr Pelletan habe sich nicht allein in eine Gefahr begeben wollen, in der sein Kollege Desault umgekommen war. Im übrigen hatte keiner der vier genannten Ärzte den Dauphin, nämlich den echten, gekannt. Pelletan und Dumangin wurden von den Wächtern im Tempel unterrichtet, daß der Patient nicht spräche, und da sie auf ihre an den Knaben gerichteten Fragen keine Antwort erhielten, ließen sie bald ab, weiter in ihn zu dringen. Freilich haben solche, die den Wächter Lasne als Zeugen gelten zu lassen ein leicht begreifliches Interesse hatten, das Gegenteil behauptet; allein die Worte, die sie bei dieser Gelegenheit dem Knaben in den Mund legen, tragen das Gepräge der Unwahrscheinlichkeit, ja der Unmöglichkeit so deutlich, daß sie sich sofort als schlecht erfunden herausstellen.
Am 8. Juni starb das kranke Kind im Tempelturm. Hätte man nun nicht erwarten sollen, daß, falls der tote Knabe der echte Dauphin war, die Behörden die peinlichste Sorgfalt aufwenden würden, um alle Umstände dieses Ereignisses unanfechtbar genau festzustellen? Es geschah aber durchaus das Gegenteil. Alles wurde lässig und schludrig abgemacht. Am 9. Juni machte Bürger Sevestre im Namen des Sicherheitsausschusses dem Konvent kurz und trocken die Anzeige, daß der »Sohn des Capet« im Tempel gestorben sei. An demselben Tage nahmen der Doktor Pelletan und seine drei genannten Kollegen über den Leichenbefund ein Protokoll auf, in dem es wörtlich heißt: »Um elf Uhr morgens an der Außenpforte des Tempels angekommen, wurden wir durch die Kommissare empfangen und in den Turm geführt. Im zweiten Stockwerk desselben fanden wir in einem Zimmer auf einem Bette den Leichnam eines Kindes, das uns ungefähr zehnjährig schien. Dieser Leichnam, sagten uns die Kommissare, sei der des Sohnes des verstorbenen Ludwig Capet, und zwei von uns haben in ihm das Kind wiedererkannt, welches sie seit einigen Tagen ärztlich behandelt hatten.« Dies ist doch entfernt kein Beweis für die Identität des toten Knaben mit dem Sohne Ludwigs XVI.! Sehr bemerkenswert ist aber ein Umstand, den demselben Protokoll zufolge die Sektion des Leichnams herausstellte. Das Gehirn des toten Kindes wurde nämlich in völlig normalem und gesundem Zustande vorgefunden. Dies hätte aber schwerlich oder vielmehr geradezu unmöglich der Fall sein können, wenn der Tote wirklich der Dauphin gewesen wäre, den ja der allgemeinen und unbestrittenen Annahme zufolge der schändliche Simon und dessen Frau durch Verleitung zu Ausschweifungen, die in einem so unreifen Alter doppelt schädlich waren, in einen Zustand des Blödsinns herabgebracht hatten, der eine Desorganisation des Gehirns zur unumgänglichen Voraussetzung haben mußte. Am Abend des 10. Juni wurde der Leichnam des jungen Tempelgefangenen ohne irgendwelche Zeremonie auf dem Kirchhof von Sainte-Marguerite bestattet. Erst zwei Tage nach der Bestattung und demnach vier Tage nach dem Ableben des Kindes wurde der Totenschein ausgestellt, und zwar in so gesetz- und formloser Weise, daß diesem Aktenstück eine gesetzliche Beweiskraft gar nicht zukommt.
Aber für die Familie Bourbon war Ludwig XVII. in aller Form gestorben und tot. Stets hat sie sich, die Schwester des Prinzen einbegriffen, gegen jeden Versuch, darzutun, daß nicht der echte, sondern ein falscher Dauphin im Tempel gestorben sei, nicht nur abwehrend, sondern auch hindernd und hintertreibend verhalten. Als im Jahre 1820 ein gewisser Caron, der nach der Gefangensetzung der Familie Ludwigs XVI. Zutritt im Tempel gefunden hatte, sich erbot, über die Entführung des Dauphins wichtige Mitteilungen zu machen, verschwand der Mann, nachdem ein hoher Hofbeamter ihn mehrmals besucht hatte, plötzlich und ist nie wieder zum Vorschein gekommen. Höchst auffallend war auch die Gleichgültigkeit, die die königliche Familie nach der Restauration gegen die Überreste und das Andenken Ludwigs XVII. an den Tag legte. Bekanntlich führte man im Jahre 1815 eine große Haupt- und Staatskomödie auf mit der angeblichen Auffindung und Ausgrabung der Gebeine Ludwigs XVI. und seiner Frau. Der Erzphantast Chateaubriand ging bei dieser Gelegenheit in seinem romantischen Delirium so weit, zu schreiben, man habe den Totenschädel Marie Antoinettes an dem unvergleichlich graziösen Lächeln wiedererkannt, das der Königin eigen gewesen sei, und dieser grauenhafte Blödsinn fand vielen Beifall. Die romantische Gebeinauffindungsposse – denn weiter war es ja nichts, da die wirklichen Gebeine des Königs und der Königin unmöglich mehr aufgefunden werden konnten – bestimmte aber den Pfarrer von Sainte-Marguerite, Lemercier, die Auffindung der Gebeine des Dauphins ebenfalls in Vorschlag zu bringen. Er behauptete, die Totengräber hätten im Jahre 1795 zwar den Sarg mit dem Leichnam des Prinzen zuerst in die allgemeine Grube gestellt, aber den heimlich mit Kreidestrichen bezeichneten in einer der folgenden Nächte wieder aus der großen Grube herausgenommen und neben der vom Kirchhof in die Kirche führenden Tür begraben. Der Pfarrer wandte sich mit seinem Anliegen an die Herzogin von Angoulême, von der er erwarten durfte und mußte, daß sie ihm eifrig beistimmen und behilflich sein würde. Allein der gute Mann ging fehl. Die Herzogin wies die Sache entschieden von der Hand.
Diese Prinzessin, Napoleons bekanntem Ausspruche zufolge »der einzige Mann in ihrer Familie«, war nichts weniger als sentimental, und es begreift sich leicht, daß sie es nicht war und nicht sein konnte. Die Glut der Schmerzen, die sie in ihrer Jugend zu erdulden gehabt, hatte ihr Herz zu Stein gebrannt. In der Tat, sie hat zur Restaurationszeit bei verschiedenen Gelegenheiten eine wahrhaft steinerne Gefühllosigkeit kundgegeben, wofür ich als Beleg einen in Deutschland wenig oder gar nicht bekannten Zug anführen will. Am 11. August 1792 hatte sich die in das Sitzungslokal der Nationalversammlung geflüchtete königliche Familie in einem Zustand völliger Mittellosigkeit befunden. Kaum erfuhr das eine der gewesenen Kammerfrauen Marie Antoinettes, Frau Auguié, als sie sich beeilte, ihrer bedürftigen Herrin fünfundzwanzig Louisdor von ihren Ersparnissen zu überbringen. Diese Großmut der Dienerin kam fünfzehn Monate später beim Prozeß der Königin vor dem Revolutionstribunal zur Sprache. Befragt, wer ihr die fünfundzwanzig Goldstücke gegeben hätte, nannte Marie Antoinette den Namen der Frau Auguié. Sofort wurde schändlicherweise ein Haftbefehl, das will sagen, ein Todesurteil gegen die treue Dienerin erlassen. In dem Augenblick, wo die Häscher in ihre Wohnung traten, stürzte sich die Unglückliche zum Fenster hinaus und blieb auf der Stelle tot. Eine ihrer Töchter wurde später die Frau des Marschalls Ney. Als dieser nach der zweiten Restauration, allerdings mit Recht, prozessiert und verurteilt wurde, konnte es die Herzogin von Angoulême der Bitterkeit ihres Hasses nicht abgewinnen, ein Wort der Fürbitte für den Gatten einer Frau einzulegen, deren Mutter um ihrer Mutter willen gestorben war!
Die Prinzessin wies also den Pfarrer von Sainte-Marguerite mit seinem Anliegen ab, vorgebend, »die Lage der Könige sei furchtbar und sie dürften und könnten nicht alles tun, was sie wollten«. Gerade zu dieser Zeit aber haben bekanntlich die Bourbons alles getan, was sie wollten, auch das Dümmste und Unverantwortlichste, was nur immer eine rasende Reaktionspartei ihnen eingab. Die Wahrheit ist, der Hof wollte, wie von dem Dauphin überhaupt, so auch von seinen angeblichen Überresten schlechterdings nichts wissen und hat jeden Versuch, auf eine Untersuchung der rätselhaften Umstände, die das Leben und den angeblichen Tod des Prinzen im Tempel begleitet hatten, zurückzukommen, beharrlich und erfolgreich zu vereiteln gewußt.
Aber, fragt nun der Leser, was ist das Ergebnis dieser langen Erörterung?
Ein ungelöstes Rätsel! In Frankreich zwar scheint man zur Zeit (1882) geneigt, es für gelöst anzusehen, d. h. anzunehmen, die Untersuchungen, Erörterungen und Schlußfolgerungen, die Beauchesne, Chantelauze und andere neuerdings angestellt und gezogen haben, ließen keinen Zweifel mehr zu, daß der Sohn Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes am 20. Prairial des Jahres III (also am 8. Juni 1795) gestorben sei. Allein ich für meine Person will nicht verschweigen, daß auch die Arbeiten der genannten Franzosen mich noch immer nicht überzeugt haben. Ich kann mich daher noch immer eines leisen Zweifels nicht entschlagen, ob der am 8. Juni 1795 im Tempel verstorbene Knabe wirklich der Dauphin gewesen. Selbstverständlich entbehrt diese subjektive Ansicht des objektiv-historischen Wertes, solange nicht nachgewiesen, nicht beweiskräftig nachgewiesen ist, was denn im Falle seiner Rettung aus dem Tempelgefängnis aus dem Prinzen geworden. Jeder bislang gemachte Versuch, diese Frage mit Bestimmtheit zu beantworten, hat sich als unzulänglich, wenn nicht gar als Scharlatanerie, als unbewußter oder auch als bewußter Betrug herausgestellt. Von den als Ludwig XVII. Aufgetretenen hat keiner, wie ich nach sorgfältiger und wiederholter Prüfung der von ihnen vorgebrachten Behauptungen und Ansprüche versichern kann, seine Identität mit dem Dauphin auch nur bis zum Grade der Wahrscheinlichkeit erwiesen. Am meisten von seinem Rechte überzeugt scheint der Uhrmacher Naundorff gewesen zu sein. Die Möglichkeit einer befriedigenden Antwort auf die Frage: Was ist aus dem Dauphin nach seiner Entführung aus dem Tempel geworden? könnte nur die Aufspürung, Bloßlegung und Verfolgung aller der fast zahllosen Intrigenfäden, die zwischen den emigrierten Bourbons und ihren Anhängern in und außerhalb Frankreichs hin und her liefen, an die Hand geben. Eine langwierige, schwierige und höchst unerquickliche Arbeit, die von Wissenden nur allenfalls ein solcher unternehmen möchte, welcher schlechterdings nichts Besseres zu tun weiß. Denn was könnte er im glücklichen Falle für ein Resultat gewinnen? Die Befriedigung einer müßigen Neugier, weiter nichts. Laßt die Toten ihre Toten begraben!