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Ein Zarenmord

Himmel, was für eine Welt ist dies!

Shakespeare.

1.

Als die Kunde dessen, was 1881 am 1. März alten oder am 13. neuen Stils auf dem Kai des Katharinakanals in St. Petersburg geschehen war, durch Europa flog, staunte die Menge darüber als über etwas Neues, Niedagewesenes, Unerhörtes.

Und doch handelte es sich nicht um solches und konnte man sagen: Auch schon dagewesen. Wiederholt sogar.

Zweierlei freilich stellte als neu sich dar an dem mörderischen Geschehnis vom 1. März 1881: Alexander II. war ja der erste auf der Straße, sozusagen auf offener Bühne und durch plebejische Hände ermordete Zar. Vorfahren desselben waren hinter den Kulissen und durch aristokratische Hände »expediert« worden, wie der zynisch-höhnische Kunstausdruck von dazumal lautete. Am 17. Juli 1762 wurde im Speisezimmer des Lustschlosses Ropscha Zar Peter III. mittels einer Serviette stranguliert, die der Fürst Borjatinski zu einer Schlinge gedreht und dem Opfer um den Hals geschlungen hatte. In der Nacht vom 23. auf den 24. März 1801 ward Zar Paul I. in seinem Schlafgemach im Michailowschen Festungspalast in St. Petersburg mittels einer Schärpe erwürgt, welche der Gardeoffizier Skariatin dem vom Fürsten Jaschwil zu Boden geschlagenen Opfer um den Hals wand und deren Enden der Graf Nikolai Zubow zusammendrehte.

Zwischen diese beiden Zarenmorde hinein war ein dritter gefallen, der aber weit weniger Lärm machte in der Welt und ziemlich unbemerkt vorüberging, wenigstens außerhalb Rußlands. Im Jahre 1764, in der Nacht vom 4. auf 5. Juli, wurde der rechtmäßige Zar Iwan VI. in einer Kasematte der Schlüsselburg durch die beiden Offiziere Wlassjew und Tschekin durch Degenstiche umgebracht, infolge »höheren Befehls«.

Dies ist der Zarenmord, von dem hier gehandelt werden soll.

Wer war Iwan VI.?

Ein Urenkel des Zaren Iwan V., älteren Bruders von Peter I. (genannt der Große), Enkel des Herzogs Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin und der Großfürstin Katharina, der ältesten Tochter Iwans V., Sohn des Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig und der Prinzessin Anna Leopoldowna von Mecklenburg, also Großneffe der Zarin Anna Iwanowna (Herzoginwitwe von Kurland), nach dem kinderlosen Ableben dieser seiner Großtante als rechtmäßiger Zar und Kaiser aller Reußen ausgerufen und anerkannt, dann infolge des Leichtsinns und der Albernheit seiner Mutter, welche für den Knaben hätte regieren sollen, durch seine Base Elisabeth, jüngste Tochter Peters I., entthront und eingekerkert, endlich unter der Regierung Katharinas II. meuchlings gemordet. Im übrigen, mit einem großen englischen Dichter zu sprechen, nur » a phantom among men«, eine Schatten- und Schemenexistenz, eine Art von vorweggenommenem Kaspar Hauser, eine bleiche Kerkerpflanze, ein unreifes Geschöpf, um seines Namens und seiner kurzen Schein-Zarenschaft halber vom schlummerlosen Argwohn einer Usurpatorin bewacht und schließlich durch willige Handlanger eines erbarmungslosen Despotismus brutal zu Boden gestampft.

Man gewinnt von diesem traurigen Dasein nur den Eindruck, als sähe man einen blassen Schatten über die Bühne der Weltgeschichte huschen, so flüchtig, daß die Umrisse der Erscheinung kaum deutlich wahrgenommen werden können.

Dennoch lohnt es sich aus Gründen, die ich zum Schlusse andeuten werde, wohl der Mühe, Ursprung,Verlauf und Ausgang dieser Schein-Zarenschaft einer Betrachtung zu unterziehen.

2.

Der Titan auf dem Zarenthron – ein Titan freilich, welcher in der einen Hand die Knute und in der anderen den Schnapshumpen hielt – Peter I., dieses Ungetüm von Genie, Tatkraft und Lastern, dieser Gewaltmensch und Schreckensmann, der dem von ihm unternommenen Riesenwerk der Entasiatung und Europäisierung Rußlands den eigenen Sohn zum Opfer zu bringen nicht anstand, kam am 28. Januar 1725 zu sterben. Dem schon im Todeskampfe Ringenden machte sich die Notwendigkeit fühlbar, zu bestimmen, wer nach ihm die Krone tragen sollte. Er scheint dabei an seine zweite Frau, die »gekrönte« Zarin Katharina, das weiland »Mädchen von Marienburg«, nicht gedacht zu haben. Hatte sie doch kurz zuvor die schnödeste Untreue an ihm begangen. Auch nicht an seinen Enkel Peter, hinterlassenen Sohn des infolge der Knutefolter gestorbenen Zarewitsch Alexei. Aber an wen sonst? Man weiß es nicht und kann nur vermuten, daß er beabsichtigte, die Nachfolge in der Zarenschaft seiner schönen, dem Herzog Karl Friedrich von Holstein verlobten Lieblingstochter Anna Petrowna zu übertragen. Wenigstens hieß der sterbende Herrscher sie kommen, versuchte dann seine Willensmeinung aufzusetzen und schrieb: »Übergebt alles …« Aber weiter kam er nicht, Auge und Hand versagte den Dienst, und die herbeigeeilte Prinzessin fand nur noch einen bewußtlos Röchelnden.

Kaum war der große Zar tot, so wurde offenbar, wie wenig weit eigentlich das Moskowitertum noch aus dem asiatischen Wesen herausgekommen. Von der festgefugten Thronfolgeordnung europäischer Monarchien, welcher Ordnung zufolge selbstverständlich der unmündige Enkel Peter dem Großvater hätte nachfolgen müssen, war keine Rede, die Festsetzung der Nachfolge vielmehr einer Anzahl unter sich entzweiter und von widerstreitenden Interessen geleiteter Magnaten und Großwürdenträger anheimgegeben. Hüben die asiatisch-altrussisch gesinnten Dolgoruki, Kurakin, Galitzin, Trubetzkoi, Repnin, Saltikow, Narischkin und andere Bojarenhäuptlinge, drüben die europäisch-reformistisch gestimmten Helfershelfer und Handlanger des großen Zaren, die schon um ihrer selbst willen das Werk desselben erhalten wissen wollten, die Jaguzinski, Makarow, Janowski, Buturlin, Ostermann und andere viele, mit dem märchenhaften Emporkömmling Menschikow an der Spitze. Diese Partei trug es, weil sie sicher und rasch handelte, über ihre Gegner davon und setzte die Nachfolge der Zaritza Katharina durch, deren ganze Stellung, deren Ansehen und Macht auf das engste mit dem Interesse ihrer Parteigänger verflochten war. So wurde die weiland Lagerdirne regierende Kaiserin von Rußland. Daß sie weder zu lesen noch zu schreiben verstand, kam dabei nicht in Betracht. Ihre Tochter Elisabeth diente ihr als Unterschreibungsmaschine. Wenige Monate darauf ließ sie auf Menschikows Betreiben die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Anna mit Karl Friedrich von Holstein-Gottorp vor sich gehen, damit die Prinzessin aus dem Lande käme. Die Anwesenheit derselben, sowie die ihres doch so herzlich unbedeutenden Gemahls war dem allgewaltigen Minister unbequem, welcher daran arbeitete, seine Tochter Maria mit dem Großfürsten Peter Alexejewitsch zu vermählen, d. h. zur Zarin in spe zu machen.

Denkwürdig ist, daß bei allen diesen Machenschaften von den beiden Nichten Peters des Großen, der Herzoginwitwe Anna von Kurland und der Herzogin Katharina von Mecklenburg, gar keine Rede gewesen ist. Weder die Alt- noch die Neu-Russen scheinen hinsichtlich der Thronfolge an diese Damen gedacht zu haben. Auch sie sollten aber bald in Frage kommen.

Katharina I. hielt nicht lange vor. Sie ließ den Menschikow regieren – d. h. stehlen und rauben, denn dieser »durchlauchtigste Fürst« war bekanntlich der gierigste Dieb und schamloseste Räuber im Zarenreich – während sie selber so energisch an ihrer Alkoholisierung arbeitete, daß sie schon im Mai 1727 wegstarb.

Sie hinterließ ein sogenanntes Testament, von dem man bis heute nicht recht weiß, wie es zustande gekommen. Kraft desselben war die Nachfolge in der Zarenschaft dem noch nicht ganz zwölfjährigen Großfürsten Peter Alexejewitsch zuerkannt, für den bis nach erreichtem sechzehnten Jahr der »Hohe Rat« die Regierung führen, auch dafür sorgen sollte, daß der junge Zar oder Kaiser mit der Tochter Menschikows sich vermählte. Die Regentschaft des »Hohen Rats« blieb eine Redensart, denn Menschikow regierte oder vielmehr tyrannisierte das Reich ebenso unumschränkt und hochfahrend wie den knäbischen Peter II. Aber auch nicht mehr lange. Denn die Menschikowsche Herrlichkeit endigte bald mit einer jener plötzlich hereinbrechenden Katastrophen, die in der Geschichte russischer Günstlingsherrschaften üblich gewesen sind. Man könnte, ohne der Übertreibung bezichtigt zu werden, sagen, daß, während in den schimmernden Sälen eines der Zarenpaläste noch alle die stolzesten Häupter der moskowitischen Magnatenschaft vor dem gerade herrschenden Günstling demütig sich beugten, drunten vor der Pforte schon die Kibitke angespannt stand, die den jählings Gestürzten nach Sibirien ins Elend fahren sollte. Überhaupt drängten sich da die abenteuerlichsten Gegensätze in diesem Wirrsal von nur oberflächlich lackierter Barbarei, genannt russisches Hofleben des 18. Jahrhunderts. Dem Despotismus stand es frei, seine tollsten Einfälle zu verwirklichen. Flüchtige Weiberlaunen machten im Nu Korporale zu Generalen oder degradierte Feldmarschälle zu gemeinen Soldaten. Peter II. ernannte einen siebzehnjährigen albernen Jungen, seinen Spielgefährten und Ausschweifungsgenossen Iwan Dolgoruki, zum Oberkammerherrn mit dem Rang eines kommandierenden Generals.

Dieser Oberkammerherr wurde in den Händen seiner Verwandten, der »vier« Fürsten Dolgoruki, ein Hauptwerkzeug zum Sturze Menschikows. Die Dolgoruki wollten eine ihrer Töchter zur Zarin erheben und im weiteren das heilige Rußland im altmoskowitischen Stile regieren und glücklich machen. Die von ihnen unter Menschikows Füßen gebohrte und geladene Ränkemine ging am 8. (19.) September 1727 los und sprengte den »durchlauchtigsten Fürsten« zwar nicht in die Luft, aber doch mit seiner ganzen Familie nach Beresow in Sibirien. Die dem Gestürzten abgenommenen Lug-, Trug- und Druckbeute war ungeheuer, ja geradezu unglaublich groß. Die triumphierenden Dolgoruki führten nun den jungen Zaren von Petersburg nach Moskau, wie zum Zeichen, daß mit dem Regierungssystem Peters des Großen entschieden gebrochen werden sollte, und verlobten dort am Ende des Jahres 1729 den Vierzehnjährigen mit der siebzehnjährigen Katharina Dolgoruki. Zur Vermählung aber kam es nicht. Denn zu Anfang des Jahres 1730 erkrankte der durch vorzeitige Sinnengenüsse erschöpfte Zar-Knabe an den Blattern und starb am 19. (30.) Januar.

Wer sollte jetzt Zar oder Zarin aller Reußen sein?

Indem die Magnaten und Großwürdenträger sich anschickten, diese Frage zu entscheiden, geschah etwas Außerordentliches, etwas in der Geschichte Rußlands ganz fremdartig Dastehendes.

Das war der unter Führung des greisen Fürsten Dimitri Michail Galitzin unternommene Versuch, dem zarischen Absolutismus einen, sozusagen, konstitutionellen Dämpfer aufzusetzen, weil »Rußland unter despotischer Herrschaft so viel gelitten habe«.

Ob wohl dabei den russischen Großen vorschwebte, wie die englischen Barone am 15. Juni 1215 auf der Wiese Runymead an der Themse ihrem König John die »Magna Charta« abgepreßt hatten? Schwerlich. Es ist auch aus der Wahlkapitulation in 8 Artikeln, die sie aufsetzten, keine russische Magna Charta geworden, sondern bloß eine geschichtliche Kuriosität, ein Papierfetzen, nur für Raritätensammler von Belang.

Die russischen Kurfürsten – denn als solche gebärdeten sich die sieben Herren vom »Hohen Rat« und die von ihnen beigezogenen übrigen Großen – hatten an Thronkandidaturen keinen Mangel. Diese Kandidaturen wurden in ihrer unmittelbar nach dem Ableben Peters II. berufenen Versammlung zur Debatte gestellt, und zwar so, daß in Frage kamen die Großmutter des verstorbenen Zaren, die von Peter dem Großen verstoßene Eudoxia Lapuchin, dann die Zarenbraut Katharina Dolgoruki, ferner der erst anderthalbjährige Prinz von Holstein, Sohn der inzwischen verstorbenen Großfürstin Elisabeth Petrowna, ganz flüchtig auch die Herzogin Katharina Iwanowna von Mecklenburg und endlich sehr ernstlich die Herzoginwitwe von Kurland Anna Iwanowna. Auf diese fiel die Wahl, nicht obgleich, sondern weil sie gar kein Recht auf die Krone hatte. Die Herren Kurfürsten wähnten nämlich, gerade darum müßte die Erwählte die ihr auferlegte Wahlkapitulation unweigerlich annehmen.

Sie tat auch wirklich so und ließ sich den Schein und Schatten von russischer Magna Charta gefallen, bis sie, Ende Februar 1730 aus Mitau in Moskau eingetroffen, auf dem Thron sich festgesetzt hatte. Dann war von dem »Papierfetzen« weiter nicht die Rede, als nur insofern, daß über seine Verfertiger eine schwere Verfolgung erging. Die Zarin Anna herrschte dann unumschränkt, d. h. sie wurde von ihrem Günstling Bieren, welcher sich, weil es vornehmer klang, den Namen Biron beigelegt hatte und den seine zarische Freundin zum Herzog von Kurland ernannte, unumschränkt beherrscht. Was unter Katharina I. Menschikow gewesen, das war unter Anna Bieren, und so endete der kurzbeinige Anlauf der russischen Aristokratie, zu einem verfassungsmäßigen Regiment zu gelangen, mit dem kläglichsten Rückfall in die stumpfe Unterwerfung unter die reine, d. h. sehr unreine Willkürherrschaft. Es war also der Beweis erbracht, daß das »heilige« Rußland kein Boden für so profane Dinge wie Verfassungen, Parlamente und verantwortliche Regierungen. Die bedeutsamste unter der Regierung Anna-Biron oder vielmehr Biron-Anna getroffene Maßregel war ohne Frage die Zurückverlegung des Hofhalts von Moskau nach Petersburg. Damit war ausgesprochen, das russische Staatswesen wolle und werde an dem Europäismus, in welchen es Peter I. wohl oder übel und jedenfalls nur sehr notdürftig hineingezwungen hatte, festhalten. Der Vizekanzler Ostermann, also ein Hauptträger der Peterschen Revolution, hatte der Zarin die Notwendigkeit, von der Newa aus über Rußland zu herrschen, klarzumachen gewußt.

Anna Iwanowna hatte ihren Günstling 10 Jahre und 8 Monate lang schalten und walten lassen. Ihre Zärtlichkeit für Biron suchte dessen Macht und Glanz auch noch über ihren Tod hinaus zu verlängern. Sie vermachte nämlich, im Sommer 1740 schwer erkrankt, den Zarenthron nicht, wie man erwarten konnte, ihrer Nichte Anna Leopoldowna, sondern ihrem nur etliche Wochen zuvor von dieser geborenen Großneffen Iwan Antonowitsch, Sohn Anton Ulrichs von Braunschweig, Urenkel Iwans V., und sorgte zugleich dafür, daß durch eine Versammlung der ersten Magnaten und Würdenträger des Reiches weder die Mutter noch der Vater Iwans VI. während dessen Minderjährigkeit mit Führung der Regentschaft betraut wurde, sondern Biron, der Herzog von Kurland. Die Zaritza Anna starb am 28. Oktober, worauf Iwan VI. als Zar aller Reußen und Biron als Regent ausgerufen wurde. Der Prinz von Braunschweig machte, von seiner Frau Anna Leopoldowna angestachelt, einen schüchternen und schwächlichen Versuch, die Regentschaft Birons für nichtig erklären und sie auf die Mutter des Säuglings von Zaren übertragen zu lassen. Damit fuhr er aber übel ab, und wie er abfuhr, mag angeführt werden als ein schlagendes Beispiel, welchen Kränkungen und Demütigungen deutsche Prinzen und Prinzessinnen von jeher und bis zu unseren Tagen herab um des sehr zweifelhaften Glückes moskowitischer Heiraten willen sich unterzogen haben. Anton Ulrich mußte es nicht nur hinnehmen, daß ihn Biron in verletzendster Weise abkanzelte, sondern er, der Vater des Kaisers, mußte sich auch in einer Versammlung der russischen Großen ins Gesicht sagen lassen, daß man ihm sein Gebaren verzeihe, weil er eben ein »Maltschik«, zu deutsch ein unmündiger – oder zu noch deutscher – ein dummer Junge sei.

3.

Aber der Regent Biron sollte bald, schon nach 23 Tagen, dafür bestraft werden, daß er in seinem Hochmut und in seiner Eitelkeit zweierlei nicht gehörig beachtete. Erstens, daß die Rachelust einer tödlich beleidigten Frau nicht schläft, und zweitens, daß dicht in seiner Nähe ein Mann lebte, dessen großartiger Ehrgeiz anderen wohl die höchsten Titel, nicht aber die höchste Macht gönnen mochte.

Dies war Burkhard Christoph von Münnich, ein geborener Oldenburger, russischer Graf und Feldmarschall, fraglos einer der Hauptschöpfer des europäischen, d. h. europäisierten Rußlands. An ihn wandte sich die Mutter des in den Windeln liegenden Zaren Iwan als an ihren Rächer, und Münnich seinerseits war rasch entschlossen, diesem Vertrauen zu entsprechen, d. h. Biron zu stürzen, Anna Leopoldowna zur Regentin zu machen und in ihrem Namen das Reich zu regieren. Und der Feldmarschall, damals noch in seiner vollen Kraft, war ganz der Mann, das, was er wollte, auch ohne Zaudern zu tun. In der Nacht vom 8. (19.) auf den 9. (20.) November 1740 führte er, von seinem Generaladjutanten Manstein als seinem Haupthandlanger unterstützt, den gut ausgesonnenen und kühnen Streich, der aber doch nur in dem Lande der Überraschungen, was Rußland damals war, gelingen konnte. Mit 80 Mann von einer Kompanie der preobraschenskischen Garde, welche die Wache im Winterpalast und den Ehrendienst am Katafalk der noch unbeerdigten Kaiserin Anna hatte, machte sich der Feldmarschall, nachdem er der zaghaften Mutter Iwans ihr Gutheißen abgerungen, nach dem Sommerpalast, der Behausung Birons, auf, drang ein und nahm den aus dem Schlaf aufgeschreckten Regenten, den seine Leibgarde auf Münnichs Aufforderung hin sofort schmählich preisgab, gefangen, obwohl der Verratene und Verlassene mit Fäusten und Zähnen grimmig sich wehrte, bis er gebunden und geknebelt war. Er wurde samt seiner Familie nach der Schlüsselburg gebracht und befand sich dann bald auf dem Wege dorthin, wohin er so viele vor sich hergesandt hatte, auf dem Wege ins sibirische Eden.

Seit Jermak Sibirien für Rußland erobert hatte, bildete und bildet noch jetzt, wie jeder weiß, das »Verschicken« dorthin einen Hauptkunstgriff der russischen Staatstechnik. Zu der Zeit, von der wir handeln, hätte man freilich, wenn es damals schon einen Goetheschen Faust gegeben, einen bekannten Satz desselben also parodieren können: Du glaubst zu verschicken und wirst verschickt.

Auch aus dem Verschicker Münnich sollte ja bald genug ein Verschickter werden. Das Schicksal gab ihm in derselben Nacht, wo er seinen großen Streich führte, einen sehr deutlichen Warnungswink, von welchem bei Shakespeare geschrieben steht:

»Wenn das Geschick den Menschen wohltun will,
So blickt es sie mit droh'nden Augen an.«

Schade nur, daß solche wohlmeinende Drohblicke selten oder nie beachtet und verstanden werden. Der Feldmarschall hätte es sich sonst zu Herzen nehmen müssen, daß auf die Kunde von der Verhaftung des verhaßten Biron hin die drei Garderegimenter tumultuarisch vor der Wohnung von Peters des Großen jüngster Tochter, der Großfürstin Elisabeth, sich versammelten, in der Erwartung, sie müßte zur Zaritza ausgerufen werden. Es mangelte den Soldaten nur ein Stimmführer, der ihnen diese Losung gegeben hätte. Verblüfft und mißmutig kehrten sie in ihre Quartiere zurück, nachdem sie erfahren, daß von der Großfürstin Elisabeth keine Rede wäre, sondern daß an der Statt Birons die Herzogin von Braunschweig, Anna Leopoldowna, die Regentschaft für den kleinen Iwan übernommen hätte. Der wirkliche Regent wurde Münnich mit dem Titel eines Premierministers, der dem Schwachmatikus Anton Ulrich die leeren Ehren eines Titular-Generalissimus gönnte. Die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten erhielt der unvermeidliche, durch alle Klippen dieser russischen Palastrevolutionen aalgeschmeidig sich durchschlängelnde Ostermann, die Leitung der inneren Verwaltung kam an Golowkin den Jüngern.

Die ganze Machenschaft währte nicht länger als 1 Jahr und 16 Tage. Für Münnich nicht einmal so lange. Denn da er bald merken mußte, Ostermann und Golowkin wollten ihn auf die Leitung des Heerwesens beschränken, so forderte er im März 1741 trotzig seinen Abschied und war nicht wenig überrascht, als er, der sich für unentbehrlich gehalten, ihn von seiten der Großfürstin-Regentin sofort erhielt. Man muß sagen, daß Anna Leopoldowna alles, was an ihr lag, tat, um ihren unmündigen Sohn Iwan und sich selber zugrunde zu richten. Träg und leichtfertig, wie sie war, hatte sie für nichts Sinn und Zeit, als für ihre skandalvolle Liebschaft mit dem Grafen Lynar, kursächsischem Gesandten am russischen Hofe. Selbst ihrer Indolenz mußte sich freilich die Wahrnehmung und Besorgnis aufdrängen, daß die Großfürstin Elisabeth eine gefährliche Nebenbuhlerin um den Besitz der Macht wäre; allein zu mehr als zu einem gelegentlichen Ausschelten dieser Nebenbuhlerin vermochte sich die Regentin nicht aufzuraffen. Elisabeth war allerdings nichts weniger als besser denn Anna. Sie hatte die Laster ihrer Eltern vollmäßig geerbt und war, der Draperie hofhistoriographischer Vertuschung und Schönfärberei entkleidet, eine Person von unzweideutigster Unsittlichkeit, eine notorische Buhlschwester und Trunkenboldin. Aber sie war das einzige Kind Peters des Großen, das noch am Leben, und das machte sie gefährlich. Ihre grenzenlose Faulheit hätte sie jedoch gewiß nicht zum Handeln kommen lassen, falls nicht einer da gewesen wäre, der sie unablässig vorwärts trieb. Dies war der Marquis de la Chétardie, Botschafter Frankreichs in Petersburg, ein geschickter und energischer Verwirklicher der Pläne, welche der französische Premier Fleury und der Staatssekretär Amelot dazumal am russischen Hofe verfolgten.

Denn mit der kleinen Politik der beiden schlechten Weiber Anna Leopoldowna und Elisabeth Petrowna verquickte sich die sogenannte große, welche von jener gar häufig nur durch ihre Dimensionen verschieden ist. Die »Staatsräson« des Hofes von Versailles, der damals mit Friedrich von Preußen gegen die Habsburgerin Maria Theresia verbündet war, forderte gebieterisch eine abermalige russische Palastrevolution, weil die Regentin Anna, ihr Gemahl und ihr Kabinett für die Tochter Karls VI. gestimmt waren. Das hatte ja auch den Sturz des Preußen zugeneigten Münnich mitentschieden. Die »Braunschweiger« sollten beseitigt und die Großfürstin Elisabeth, welche für die französische und folglich für die widerösterreichische Politik leicht zu gewinnen sein würde oder schon gewonnen war, an den Platz des unmündigen sechsten Iwan geschoben werden. Der Macher des zu diesem Zwecke gesponnenen Komplotts war La Chétardie, dessen an den König und an den Staatssekretär Amelot gerichtete Depeschen den Verlauf der unsauberen Geschichte Schritt für Schritt verdeutlichen Bernhardt sagte 1875 in seiner »Geschichte Rußlands« 2. Tl. 2. Abtlg. S. 156: »Die vollständige Geschichte dieser Revolution wird wohl nur da zu finden sein, wo man sie bis jetzt nicht gesucht hat und wo auch ich sie leider nicht habe suchen können, in den Archiven Frankreichs.« Diesem Mangel wäre ja jetzt abgeholfen durch das Buch » Louis XV et Elisabeth de Russie«, par Albert Vandal, Paris 1882, wo pag. 104-162 auf Grund der Korrespondenz des Marquis das in Rede stehende Geschehnis eine einläßliche Darstellung erfährt. Aber was ist das Gesamtresultat? Kein anderes als das, was unser vortrefflicher F. C. Schlosser schon vor langer Zeit kannte und kundgab, als er in seiner »Geschichte des 18. Jahrhunderts« (5. Aufl., Bd. 2, S.49) schrieb: »Die Seele des ganzen (Komplotts) war der Marquis La Chétardie, der auch das Geld (dazu) hergab.« Das ist der Kern der Sache. Alles Neue, was Vandal aus dem französischen Nationalarchiv beibringt, ist im Grunde nur nebensächlich.. Amelot wußte das Geld, womit der Marquis die neue Palastrevolution anzettelte und fütterte, in unauffälliger Weise nach St. Petersburg zu schmuggeln. Es waren übrigens keineswegs große Summen, denn Verräter und Verschwörer waren dazumal in Rußland sehr billig zu haben. Die Spießgesellen und Helfershelfer, deren La Chétardie sich bediente, waren der Leibchirurg Elisabeths, Lestocq, und ihr Kammerjunker Woronzow, weiterhin der Korporal Grünstein vom Garderegiment Preobraschensk und der Musikant Schwartz. Eine recht lumpige Gesellschaft, wie man sieht, aber lauter Leute, wie gemacht, das schmutzige Geschäft zu verrichten, das man ihnen auftrug. Weil das Haus Braunschweig mit dem Hause Brandenburg blutsverwandt war, ließ Ludwig XV. den König von Preußen durch den Marquis de Belle-Isle sondieren, ob ihm, was man gegen die Braunschweiger in Petersburg vorhätte, paßte oder nicht. Worauf Friedrich, seiner eigenen Bezeugung gemäß (» Histoire de mon temps«, chap. 4) zur Antwort gab, als preußischer Monarch kenne er keine Verwandte, sondern nur Freunde oder Feinde. La Chétardie entwarf, um nichts zu versäumen, vorsorglich eine Proskriptionsliste der zu Opfern seines Vorhabens Ausersehenen, und an der Spitze dieser Liste standen die Namen Münnich und Ostermann. Vergebens bestürmten der österreichische Botschafter Botta und der englische Gesandte Finch die Großfürstin-Regentin mit Warnungen, vergebens rieten sie der Gedanken- und Kraftlosen, die Prinzessin Elisabeth verhaften und einkerkern zu lassen, wodurch den zugunsten dieser Prinzessin gesponnenen Ränken der Kern ausgebrochen würde. Anna und ihr Gemahl Anton Ulrich ließen die Dinge gehen, wie sie wollten, und so gingen sie denn bis zu jener Nacht vom 24. auf den 25. November (5. auf den 6. Dezember) von 1741, wo die Großfürstin Elisabeth, der La Chétardie zum Bedenken und Zaudern schlechterdings keine Zeit mehr ließ, sich entschließen mußte, selbsthandelnd die Vorbereitungen ihrer Mitverschworenen zum Ziele zu führen. An der Spitze von 300 preobraschenskischen Grenadieren drang sie in den Winterpalast und bemächtigte sich der gesamten braunschweigischen Familie, während anderwärts die »Proskribierten« verhaftet wurden. Von Widerstand nirgends eine Regung. Während Anna Leopoldowna und Anton Ulrich aus ihren Betten geholt und zu Gefangenen gemacht wurden, schlief der rechtmäßige Zar, Iwan VI., ruhig in seiner Wiege. Die »gutmütige« Elisabeth nahm den Kleinen heraus, küßte ihn und sagte: »Armes Kind, du bist schuldlos, aber deine Eltern tragen um so größere Schuld.« Etliche Tage darauf ließ die »gutmütige« Elisabeth der gefangenen Ex-Regentin sagen, sie werde sie knuten lassen, wenn Anna nicht angeben wollte, wo ihre (Annas) Juwelen versteckt wären.

Am Morgen des 25. November (6. Dezember) war Peters des Großen jüngste Tochter Zarin und Selbstherrscherin von Rußland. Die Gardesoldaten hatten sie dazu gemacht, wie sie nachmals Katharina II. auch dazu machten. Senat, Synod, Magnaten und Prälaten, Armee und Marine, Adel und Volk hatten dabei weiter nichts zu tun, als Ja und Amen zu sagen, und so taten sie. Münnich, Ostermann, Golowkin und ihre »Mitverbrecher« wurden zu martervollen Todesstrafen verurteilt, aufs Schafott geschleppt und erst angesichts von Block und Beil, Galgen und Rad von der »gutmütigen« Zaritza »huldvoll begnadigt«, nämlich zum Verlust ihrer gesamten Güter und Würden und zur Verstoßung ins sibirische Elend.

4.

Der Säugling Iwan mußte, wie die Sachlage nun einmal war, der Triumphatorin vom 25. November 1741 schon in den ersten Stunden ihrer Zaritzenschaft sehr unbequem sein. So ein Kind von rechtmäßigem Zaren kann und muß sogar unter Umständen seiner Entthronerin gefährlich werden. Zudem war ja Elisabeth so »gutmütig«! In Stunden, wo sie nüchtern, mochte ihr darum der Kleine in seiner Wiege vielleicht wie ein atmender Gewissensbiß vorkommen. Also weg mit ihm! Aber wie?

Die Kaiserin beeilte sich, ihrem an Auskunftsmitteln so reichen Geheimrat La Chétardie die Frage vorzulegen, was seines Erachtens mit dem entthronten und gefangenen Kind-Zar angefangen werden sollte, und der Herr Marquis und Botschafter gab ohne Zögern die zwar etwas gewundene, aber immerhin verständliche Antwort: »Man kann nicht genug Sorgfalt anwenden, um jede Spur von der Kaiserschaft – (wörtlich du règne) – Iwans VI. zu vertilgen. Das ist das einzige Mittel, um Rußland vor Gefahren zu bewahren, welche jetzt oder später aus den Umständen hervorgehen könnten und welche in einem Lande, das einen falschen Demetrius erlebte, doppelt zu befürchten sind.« Undiplomatisch ausgedrückt, hieß das: Laßt den Jungen verschwinden!

Dazu war jedoch die Zarin in der Tat zu »gutmütig«. Während sie mit einer kindischen Wut daran arbeitete, alle Erinnerungen an die »Regierung« Iwans VI. zu verwischen, und zu diesem Zwecke alle Denk- und Schaumünzen mit dem Bildnis desselben, alle im Namen Iwans erlassenen Ukase, alle genealogischen Handbücher, ja sogar alle Gebetbücher, in denen die Namen der unter der Regentschaft bekannt gewesenen Personen vorkamen, konfiszieren und vernichten ließ, brachte sie es doch nicht über sich, den armen Jungen ohne weiteres »expedieren« zu lassen. Ihre Gutmütigkeit ging, wenigstens zuvörderst, noch weiter. Sie überließ nämlich den entthronten Knaben seinen Eltern, welche sie als Gefangene in die Zitadelle von Riga hatte schaffen lassen. Nach anderthalb Jahren wurde die unglückliche Familie im geheimen von Riga nach Oranienburg gebracht, einem durch Menschikow unweit von Woronesch angelegten Ort. Während der Gefangenschaft Anton Ulrichs und Annas in Riga und Oranienburg wurde der arme Iwan einigermaßen erzogen und unterrichtet, was namentlich der Herzensgüte des Herrn von Korff zu verdanken war, der die Wachtmannschaft befehligte. Aber gerade darum wurde dieser Offizier bald von seinem Posten abberufen, und als gar verlautete, ein Mönch hätte den Versuch gemacht, den entthronten Zaren zu entführen, natürlich zu Aufruhrzwecken, beschloß die »gutmütige« Kaiserin Elisabeth, noch strenger gegen die Braunschweiger vorzugehen.

Demzufolge wurden Anton Ulrich und Anna von Oranienburg nach Cholmogory gebracht, einem elenden oberhalb Archangelsks auf einer Dwina-Insel gelegenen Ort. Aber sie durften ihr Söhnlein Iwan dorthin nicht mitnehmen; sondern der Knabe wurde seinen Eltern weggenommen und in die Schlüsselburg gesperrt. Dies dürfte wohl ein zutreffender Ausdruck sein für die Art der Einkerkerung des Armen. Denn er wurde in der Schlüsselburg in eine Kasematte getan, welche dem Tageslicht keinen Zugang gestattete. In dieser von spärlichem Lampenschimmer nur dämmernd erleuchteten Gitternacht verlebte der Entthronte 20 Jahre, ohne allen Unterricht zu einem gespenstig blassen, halb blödsinnig blickenden und murmelnden Jüngling aufwachsend, dem man die Seele tötete, bevor man seinen Leib mordete. Zuweilen regte sich in dem armen jungen Gespenst eine dunkle Vorstellung, ein traumhaftes Bewußtsein von seiner Zarenschaft, und seine ihm hiervon eingegebenen verworren-phantastischen Äußerungen erregten dann das rohe Gelächter seiner Wächter. Zwei derselben, ein Hauptmann und ein Leutnant von der Besatzung, mußten beständig bei ihm sein, waren mit ihm in die Kasematte eingeschlossen und händigten ihren sie ablösenden Kameraden die schriftliche kaiserliche »Order« ein, welche sie selber beim Antritt ihrer Wacht empfangen hatten, den Befehl, sofort den entthronten Zaren zu töten, falls etwa einmal zugunsten desselben eine Meuterei in der Festung ausbrechen sollte. Man sieht, die »gutmütige« Kaiserin hatte sich auf alle Fälle vorgesehen.

Rußland befand sich unter dieser Zarin, wie sich ein großes Reich unter der Regierung eines solchen Weibes befinden konnte, mußte. Am 5. Januar 1762 n. St. taumelte sie in ihr Grab hinab – zur unsäglichen Freude Friedrichs von Preußen, welcher seit sechs Jahren jenes »Schauspiel für Götter« aufgeführt hatte, den Kampf eines großen Menschen mit dem Schicksal. Er hatte manchen scharfen Epigramme-Pfeil auf »jene schändliche Dirne des Nordens«, wie er Elisabeth zu nennen pflegte, abgeschossen, und die Wohlgetroffene hatte sich dafür durch die Schlachten von Zorndorf und Kunersdorf gerächt, sowie durch eine Kriegführung in Preußen, welche greulich erwies, daß die Moskowiter mit Erfolg bei den Mongolen des Dschingis-Khan und des Batu-Khan in die Schule gegangen.

Ohne irgendwelche Weiterung folgte seiner Tante auf dem Zarenthron der Herzog Peter von Holstein, Sohn von Elisabeths älterer Schwester Anna Petrowna. Dieser arme, wohlmeinende und wirklich gutmütige, aber bornierte und querköpfige Peter III. war genau 6 Monate und 5 Tage lang Zar und Selbstherrscher aller Reußen. Dann ist er, wie allbekannt, auf Betreiben seiner Frau Katharina, welche sich von der kleinen Prinzessin von Anhalt-Zerbst rasch zur großen »Semiramis des Nordens« auswuchs, verraten, verlassen, entthront und gefangen worden, um schließlich, von Oranienbaum nach Ropscha geschleppt, durch Alexei Orlow und dessen Mitmörder gräßlich-martervoll ermordet zu werden.

Unter den vielen Zügen von Gerechtigkeitsgefühl, Erbarmen und Herzensgüte, welche der unglückliche Sechsmonatezar Peter mitten unter allen seinen Querköpfigkeiten bewährte, war einer der kennzeichnendsten der Besuch, den er im geheimen, und zwar im März 1762, dem armen Iwan in der Schlüsselburg abstattete. Der Lebendigbegrabene vermochte die gütigen Fragen seines Besuchers nur stammelnd zu beantworten. Er soll gestammelt haben, er sei der Kaiser Iwan. Dann wieder, der Kaiser Iwan wäre schon lange tot, aber dessen Geist sei in ihn gefahren. Es wird auch bestimmt versichert, der unglückliche Gefangene habe sich aus seiner Knabenzeit des gutherzigen Korff erinnert und sogar eine Ahnung gehegt und geäußert, daß sein Besucher der regierende Zar sei. Wie dem sein mag, Peter III. war von dem Jammersal dieser Stunde tief ergriffen und faßte den Entschluß, das grausame Geschick des »geborenen Kaisers« wenigstens insoweit zu mildern, als seine eigene Sicherheit es zu gestatten schien. Iwan sollte aus seinem Kerker hervorgehen und innerhalb der Umwallung der Schlüsselburg volle Freiheit genießen. Auch sollte ihm dort ein Haus mit zwölf Zimmern erbaut und ein prinzlicher Haushalt eingerichtet werden. Der Bau wurde in der Tat sofort begonnen, aber nicht vollendet; denn Katharina II. war weit entfernt, die edelmütigen Absichten ihres Gemahls zur Ausführung bringen zu wollen. Sie, die Usurpatorin, die nicht den Schatten einer Spur von Recht auf den Zarenthron besaß, bei dessen Erklimmung ihr der Leichnam ihres von ihren Mitverschworenen gemordeten Gemahls als Stufe gedient, sie hatte weit mehr Ursache, den armen Iwan als Prätendenten zu fürchten, denn Peter III. gehabt, der als legitimer Enkel Peters des Großen ganz und gar als rechtmäßiger Zar sich hatte fühlen dürfen. Da nun aber für die »Semiramis des Nordens« Gewissen und Moralgesetz nur Worte ohne Sinn und Bedeutung waren, so konnte es nicht wundernehmen, daß in den russischen Höflingskreisen bald das Gerücht umging, der Insasse der Schlüsselburger Kasematte werde wohl nicht mehr lange leben.

In der Tat, er lebte nicht mehr lange, der arme Junge. Nach zwei Jahren schon mußte der bleiche Kaiserschemen die Nacht seines Kerkers mit der des Grabes vertauschen.

Es ist bekannt, daß die Herrschaft der ebenso genialen wie skrupellosen Thronanmaßerin Katharina mehr als einer Bedrohung und Erschütterung ausgesetzt war. Wiederholt ging der Name ihres so schändlich gemordeten Gemahls Peter gespenstisch-dräuend in Rußland um. Auch jener Pugatschew, der in den Jahren 1772-1774 gegen die Zarin den nach ihm benannten höchst gefährlichen Kosakenaufstand führte, trat in der Maske Peters III. auf. Aber schon zehn Jahre früher war aus dem bislang noch ungelösten Dunkel einer anonymen Verschwörung eine wider Katharinas Zaritzenschaft sowie auch wider ihres Sohnes Paul Thronfolgeberechtigung gerichtete Zettelung hervorgegangen. Diese Machenschaft gipfelte in der heimlichen Verbreitung eines angeblichen Manifestes Peters III., worin die Vergehungen Katharinas enthüllt wurden und ihr Sohn Paul als ein »Bastard« von der Thronfolge ausgeschlossen war. Wer an die Stelle Pauls treten sollte, war nicht gesagt, allein die Zarin und ihre Anhänger konnten mutmaßen, daß die geheimnisvollen Verschwörer die Erinnerung an die rechtmäßige Kaiserschaft des Gefangenen von der Schlüsselburg wachrufen wollten.

Hat nun Katharina II., um sich vor weiteren Bedrohungen von jener Seite her ein für allemal sicher zu stellen, die Vernichtung Iwans beschlossen und angeordnet? Oder ist der Zarenmord in der Schlüsselburger Kasematte mit oder ohne Vorwissen der Zarin durch diesen oder jenen ihrer Vertrauten in Szene gesetzt worden?

Wir wollen zur Beantwortung dieser beiden Fragen zuvörderst die zweifellos festgestellten Tatsachen vorführen.

Anfang Juli 1764 machte Katharina II. einen Ausflug nach Riga. Diesen Ausflug deutete man später so, daß die Zarin dem, was in der Schlüsselburg geschehen sollte, hätte aus dem Wege gehen wollen. Kurz vor ihrer Abreise von Petersburg wurden zwei durchaus zuverlässige Offiziere, der Hauptmann Wlassjew und der Leutnant Tschekin, nach der Schlüsselburg kommandiert, um, mit der früher von der Zarin Elisabeth ausgestellten und jetzt neu eingeschärften »Order« versehen, jede Regung und Bewegung des gefangenen Iwan Antonowitsch zu bewachen, zu welchem Zwecke sie wie die früheren durch sie abgelösten »Leibwächter« mit dem Unglücklichen seinen Kerker teilen mußten. In der Stadt Schlüsselburg lag damals das Infanterieregiment Smolensk, von welchem der Reihe nach je eine Kompanie von 100 Mann den Dienst in der Zitadelle tat. Hierzu gehörte, daß immer acht Mann den Gang bewachten, der zu Iwans Kerkerkasematte führte. Im Regiment Smolensk stand der Leutnant Wassili Mirowitsch, der aus einer vormals begüterten und angesehenen Familie der Ukraine stammte. Sein Großvater war ein Parteigänger des berühmten Kosakenhetmans Mazeppa gewesen und in dessen Sturz mitverwickelt worden. Das hatte die Konfiskation der Familiengüter zur Folge gehabt. Mirowitsch, von seiner Armut gestachelt, sann auf Wiederherstellung des Glückes seines Hauses und reichte wiederholt Bittschriften bei der Zarin ein, sie möchte ihm oder seinen Schwestern die eingezogenen Familiengüter ganz oder wenigstens teilweise zurückgeben. Er wurde abschlägig beschieden, das zweitemal ungnädig. Daraufhin hätte auch dieser russische Leutnant, falls er nämlich Latein verstand und den Vergil kannte, sagen können: » Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo« (Wenn ich die Götter nicht beugen kann, werde ich den Acheron bewegen) – oder auf gut russisch etwa: Will mir die Zarin keine Gnade erweisen, so will ich versuchen, eine Palastrevolution oder vielmehr zur Abwechslung mal eine Kerkerrevolution anzuzetteln und ins Werk zu richten. Ich wäre ja nicht der erste Leutnant, dem im heiligen Rußland so etwas gelänge. Die Orlows waren auch nur Leutnants, damals, als Katharina zur Zarin und Selbstherrscherin gemacht und ihr Herr Gemahl »expediert« wurde.

Mirowitsch vergaß nur, daß die »Leutnants« Orlow Leute wie den Vizekanzler Panin, den Kosakenhetman Rasumowsky, den Fürsten und Gardeoberst Wolkonski, den General Betzkoi, den Staatsrat Teplow, den Erzbischof Setschin von Nowgorod, ebenso die an Schlauheit und Kühnheit alle diese Herren weitüberbietende Fürstin Daschkow und endlich die Dämonin Katharina selber hinter sich gehabt hatten. Nicht nur wenn zwei dasselbe tun, sondern auch wenn zwei dasselbe wollen, ist es nicht dasselbe. Auch noch in anderer Beziehung. Denn der Plan, eine Katharina an der Stelle eines dritten Peter zur Kaiserin zu machen, hatte ganz andere Wahrscheinlichkeiten des Gelingens für sich gehabt, als das Projekt, den armen Halbsimpel Iwan an die Stelle Katharinas zu setzen, haben konnte.

Ob Mirowitsch schon bei der Planentwerfung zu seinem verzweifelten Unternehmen Mitwisser gehabt, ist mit voller Sicherheit nicht zu ermitteln. Erzählt wird allerdings, daß ein anderer Leutnant, Apollon Uschakow, von Anfang sein Verschwörungsgenosse gewesen sei, und daß die beiden ihr Vorhaben, den eingekerkerten Iwan Antonowitsch zu befreien und auf den ihm zustehenden Zarenthron zurückzuführen, in der Kirche »Unserer lieben Frau von Kasan« zu Petersburg mit Wort und Eid feierlich beschworen hätten. Allein Uschakow ertrank Ende Mai 1764 auf einer Dienstreise in einem Flusse bei Porchow, und was noch weiter gemeldet wird von vorläufigen Versuchen des Mirowitsch, unter der Hofdienerschaft Einverständnisse zu gewinnen, ist ganz nebelhaft. Gewiß dagegen ist, daß der Leutnant Anfang Juli des genannten Jahres mit seiner Kompanie den Dienst in der Zitadelle von Schlüsselburg hatte.

5.

Er ging nun sofort ans Werk, wobei es auffällig ist, daß der notorisch arme Leutnant reichlich mit Geld versehen war. Vor allem spähte er genau die Lage von Iwans Kasemattenkerker aus und versah den Eingang dazu heimlich mit einem Zeichen. Dann entwarf er eine Proklamation, die nach der gelungenen Befreiung des Gefangenen veröffentlicht werden sollte. Weiter war er noch nicht gekommen, als seine Kompanie abgelöst wurde und er demnach mit ihr aus der Zitadelle hätte abmarschieren sollen. Unter welchem Vorgeben es ihm gelang, bei der neu aufziehenden Wachttruppe in der Festung bleiben zu dürfen, ist nicht festgestellt; aber es gelang ihm, was doch bei der Strenge, womit sonst die Dienstvorschriften gehandhabt wurden, wiederum sehr auffällig ist.

Seinen also verlängerten Aufenthalt in der Festung benutzte Mirowitsch ohne Säumen zur Werbung von Helfern unter der Besatzung. Mittels klingender Beweisgründe gelang es ihm, drei Korporale und zwei Soldaten von der Rechtmäßigkeit seines Vorhabens zu überzeugen, d. h. ihre Mithilfe bei der Ausführung desselben zu erkaufen. Dagegen scheiterte er, als er einen höher hinauf zielenden Werbeversuch machte. Der Gegenstand desselben war der Hauptmann Wlassjew, als einer der Leibwächter Iwans. Der Hauptmann wies die Eröffnungen des Leutnants zurück, tat aber sonderbarerweise weiter nichts gegen diesen. Wenigstens nichts Unmittelbares. Mittelbar scheint er allerdings etwas getan zu haben; denn Mirowitsch erfuhr durch einen der von ihm gekauften Unteroffiziere, daß Wlassjew einen Eilboten an den Premierminister Grafen Panin abgefertigt hätte. Darin erkannte der Leutnant ein zwingendes Zeichen, sofort zur Tat schreiten zu müssen.

In einer hellen Sommernacht, der Nacht vom 4. auf den 5. (15. bis 16.) Juli 1764, schritt er dazu. Mit Unterstützung der von ihm gewonnenen Korporale und Soldaten gelang es ihm, zwischen 1 und 2 Uhr die kleine Besatzung der Festung geräuschlos zu versammeln. Dann trat er vor die Mannschaft hin und las ihr einen erdichteten, angeblich von den Mitgliedern des Senats unterzeichneten Ukas vor, des Inhalts, die Kaiserin Katharina II. sei es müde, über barbarische und undankbare Völker zu herrschen. Sie hätte daher den Entschluß gefaßt, das russische Reich zu verlassen, um sich im Auslande mit dem Grafen Gregor Orlow zu vermählen. Schon auf der Reise gegen die Grenze zu begriffen, wollte sie geruhen, dem unglücklichen Iwan die Zarenkrone zurückzugeben, und darum erteile hiermit der Senat ihm, dem Wassili Mirowitsch, den Befehl, den eingekerkerten Kaiser alsbald freizumachen und nach Petersburg zu bringen.

Die Menschen waren und sind, wie allbekannt, allzeit und überall, wo es sich um Wahrheiten handelt, Mückenseiher, aber Lügen gegenüber Kamelverschlucker. Je dümmer gelogen wird, desto wahrscheinlicher sieht es aus. Die urteilslose Menge will belogen und getäuscht sein, das gehört zu ihrem Wesen. Wer sie am unverschämtesten belügt und betrügt, der hat sie. Nämlich gerade so lange, bis ein noch schamloserer Lügner und Betrüger seinen Vorgänger überlügt und übertrügt. Das haben die Schwindler aller Zeiten gar wohl gewußt, beherzigt und betätigt. Dauernden Erfolg hatten jedoch nur die großen, während die kleinen gewöhnlich halbwegs aufgehalten, gehenkt oder sonstwie abgetan wurden.

Mirowitsch gehörte zu den kleinen, vorausgesetzt, daß er überhaupt ein Schwindler von eigener Mache gewesen und nicht vielmehr eine Marionette, die an einem Drahte tanzte, dessen lenkender Handgriff vielleicht in dem Ministerkabinett Panins, wenn nicht gar in dem Schlafgemach Katharinas zu suchen und zu finden gewesen wäre.

Wie dem sei, ob der Mann aus eigenem Antrieb oder ob er als bloßes Werkzeug handelte, sein kecker Streich schien einen Augenblick gelingen zu wollen. Etliche 50 Mann, Unteroffiziere und Soldaten, glaubten an den von Mirowitsch vorgebrachten Ukas oder taten so und stellten sich, ihre Waffen schwingend und laut jubelnd, unter seinen Befehl.

Wie er nun damit beschäftigt ist, sie zum Angriff auf den Kasemattenkerker Iwans zu ordnen, eilt der Festungskommandant Berednikow, durch den Lärm aufgeschreckt, herbei, fragt, macht einen flauen Versuch der Abwehr, läßt sich aber ohne viel Umstände durch den meuterischen Leutnant festhalten und verhaften, ohne daß Mirowitsch nötig gehabt hätte, ihn erst mit einem Gewehrkolben niederzuschlagen, wie später behauptet worden ist. Der Leutnant stellt sich an die Spitze seiner 50 Mann und führt sie zum Sturm auf Iwans Kerker. Die in dem bedeckten Wege vor diesem Kerker postierten acht Mann leisten Widerstand, ohne daß es jedoch zum Schießen kommt und ohne daß Mirowitsch verhindert wird, bis zur Eingangstür der Kasematte vorzudringen. Als er Anstalt macht, diese aufsprengen zu lassen – es soll sogar zu diesem Zwecke von einer nahen Bastei eine Kanone herbeigeschleppt worden sein –, ruft ihm von innen der Hauptmann Wlassjew zu, er und sein Mitwächter Tschekin könnten zwar das gewaltsame Eindringen der Angreifer nicht lange verhindern, aber sie würden empfangene Befehle im Notfalle vollstrecken und demnach würden die Eindringlinge den Gefangenen nur tot vorfinden.

Mirowitsch läßt sich durch diese Drohung nicht von seinem Vorhaben abbringen. Allein bevor es ihm gelingt, die Pforte zu sprengen, geht hinter ihr Furchtbares vor. Als die Tür in ihren Angeln bebt und dem Ansturm von außen zu weichen droht, ergreifen Wlassjew und Tschekin ihre Degen und werfen sich auf ihren Gefangenen, der ruhig schlummernd auf seinem Lager liegt, mit einem weißen Schafpelz bedeckt. In ihrer Aufregung unsicherer Hand, verwunden sie das Opfer erst nur am Arm und am Bein, dann aber durchbohren sie ihm mit festeren Stößen die Brust und treffen Herz und Lunge, nachdem der aus dem Schlafe also mörderisch aufgeschreckte Unglückliche etliche Augenblicke gegen die Mordwaffen sich gesträubt hat.

So starb, vierundzwanzigjährig, der rechtmäßige Zar Iwan VI., nachdem er 22 Jahre lang in Kerkerluft vegetiert hatte.

Nachdem Wlassjew und Tschekin ihr schreckliches Werk getan, schoben sie den Riegel der Pforte zurück und ließen die Stürmer ein.

Blutüberströmt lag der entseelte Zar auf dem Boden der Kasematte. Bei diesem Anblick rief Mirowitsch den Mördern zu: »Elende! Fürchtet ihr nicht Gott? Warum habt ihr das unschuldige Blut dieses Mannes vergossen?« – »Wir taten, was uns befohlen war«, gaben die beiden Offiziere zur Antwort.

Die Soldaten wollten über die Zarenmörder herfallen und sie totschlagen. Allein Mirowitsch verhinderte es mit den Worten: »Sie taten ihre Pflicht; für uns aber gibt es keine Rettung mehr.«

Hier nun stoßen wir wieder auf eine jener Auffälligkeiten, an denen die Geschichte dieses Zarenmordes reich ist. Wenn Mirowitsch auf eigene Hand gehandelt hatte, so mußte sich ihm jetzt, nach der tragischen Vereitlung seines Unternehmens, die Notwendigkeit, den Folgen seines Beginnens sich zu entziehen, unfehlbar aufdrängen. Warum floh er nicht? Er hätte das zweifellos gekonnt. Die Schlüssel der Zitadelle waren ja in seiner Gewalt, auch gab er, nachdem der Mordschlag gefallen, Befehle und traf Anordnungen, als wäre er der Festungskommandant. Er konnte demnach allein oder an der Spitze der Soldaten, die ihm gefolgt waren, die Zitadelle verlassen. Aber er dachte gar nicht an Flucht, und angesichts dieser Tatsache ist man wohl nicht unberechtigt, mit dem deutschen Geschichtsschreiber Rußlands zu fragen: Konnte vielleicht auch Mirowitsch, ebenso wie die beiden Mörder, hinsichtlich dessen, was er getan, auf »höhere Befehle« sich berufen Herrman, Geschichte des russischen Staats V, 651.?

Statt zu fliehen, ließ er den Leichnam des Ermordeten auf ein Soldatenbett legen und auf diesem vor das Hauptwachtlokal tragen. Auf seinen Befehl stellte sich die gesamte Besatzung der Zitadelle auf dem Platz vor der Hauptwache auf und salutierte den Toten mit präsentiertem Gewehr. »Seht«, sagte Mirowitsch zu der Mannschaft, »das ist unser Kaiser Iwan Antonowitsch.« Hierauf schüttelte er den Soldaten, die sich ihm angeschlossen hatten, die Hände, erklärte laut, nicht sie, sondern er allein sei schuldig, und darum wolle er auch die Folgen seines Tuns auf sich nehmen. Dies gesagt, gab er seinen Degen ab und überlieferte sich dem wieder freigegebenen Festungskommandanten. Der ermordete Zar wurde, mit einem blauen, rohgesäumten russischen Bauernhemde bekleidet, den Tag über in der Festungskirche öffentlich ausgestellt. Was vom Volk anwesend war, umstand weinend den rohgezimmerten Soldatensarg, in dem der arme Iwan lag mit seinen feinen, wachsweißen Gesichtszügen und seinem rötlichen Bart. Am folgenden Tage wurde der Leichnam in aller Stille gen Nowgorod abgeführt und sodann in einem bei dieser Stadt gelegenen Kloster ohne weiteres Zeremoniell begraben.

Dies war so befohlen worden durch den Grafen Panin, der auch sofort, nachdem er Wlassjews Eilbotschaft empfangen, die Verhaftung des Mirowitsch angeordnet hatte. Der Unternehmer des verunglückten Schlüsselburger Kerkerputsches war jedoch der Ausführung dieser Anordnung, wie wir gesehen, schon zuvorgekommen, indem er sich aus freien Stücken gefangengegeben hatte.

Auf die Kunde von der nächtlichen Katastrophe in der Schlüsselburg kehrte Katharina II. aus Livland nach Petersburg zurück. Nach ihrer Rückkehr wurde ohne Zögern zur Prozessierung des Gefangenen geschritten, der ein Verbrecher war, weil sein Unterfangen nicht geglückt. Die Kaiserin schickte eine Dreimänner-Kommission zur Voruntersuchung nach der Schlüsselburg, und diese Untersucher waren der Senator Neplujew, der General Weymarn, ein ergebener Handlanger Katharinas von früher her, und der Geheimrat Teplow, der am 17. Juli 1762 den Mordritt des Alexei Orlow nach Ropscha mitgemacht hatte und bei der Erwürgung Peters III. mittätig gewesen war. Mit der Prozedur selbst, der Urteilsfindung und Urteilssprechung beauftragte Katharina, nach Empfang des durch Weymarn erstatteten Untersuchungsberichts, durch Manifest vom 17. (28.) August die Mitglieder des Senats und des Synods, die Präsidenten der höchsten Regierungskollegien und die Teilhaber der obersten drei Rangklassen.

Die Haltung des »Verbrechers« war während der ganzen Dauer des Verfahrens fest und würdig. Einigen Nachrichten zufolge soll sie aber nicht nur das, sondern auch die eines Mannes gewesen sein, der an einem glücklichen Ausgang der Sache gar nicht zweifelte und die Prozedur für nichts als für eine Komödie ansah. Sicher ist, daß er standhaft bei seiner ursprünglichen Angabe blieb, keinen Mitwisser und keinen Mitschuldigen gehabt zu haben. Ein höchst auffälliger Zwischenfall in dem Prozeßgang war aber dieser. Als sich das Tribunal zur Urteilsfällung anschickte, teilte der Oberprokurator des Synods, Soymonow, dem Baron Tscherkassow, einem der Richter, mit, etliche geistliche Mitglieder des Gerichtshofs wären des Dafürhaltens, daß Mirowitsch gefoltert werden müßte, um ihn zu weiteren Geständnissen und zur Namhaftmachung von Mitschuldigen zu bringen, um dadurch überhaupt der ganzen rätselhaften Geschichte mehr auf den Grund zu kommen. Auf der Stelle schritt einer der Vertrauten der Kaiserin, der Fürst Wäsemski, in seiner Eigenschaft als Generalprokurator des Senats der oberste Wächter des Gesetzes, gegen dieses Ansinnen energisch ein, schnitt Soymonow das Wort ab und forderte Tscherkassow auf, zu erklären, ob man ohne weiteres zur Urteilfällung schreiten müßte oder nicht. Etwas verdutzt, stimmte der also Interpellierte mit Ja. Aber wieder mehr gefaßt, reichte er ein schriftliches Votum ein, worin er darlegte, Mirowitsch müßte trotzdem gefoltert werden, um ihm die Namen seiner Mitschuldigen oder Anstifter zu entreißen.

Dieser Tscherkassow, der gegenüber dem deutlich genug erkennbaren Willen und Wunsch der Zarin und Selbstherrscherin, die ganze widerwärtige Sache möglichst rasch abgetan zu sehen, eine eigene Meinung zu haben und zu äußern wagte, macht einen geradezu phänomenalen Eindruck. Katharina, die gar wohl wußte, daß in der Stadt ziemlich vernehmlich geflüstert werde, die ganze gegen Mirowitsch angestrengte Prozedur sei nichts als eine Posse, war schlau genug, sich gegen Tscherkassow nicht ungnädig zu erzeigen. Aber sie wußte es einzurichten, daß der Zwischenfall keine weiteren Folgen hatte, dem Antrag Tscherkassows nicht stattgegeben und Mirowitsch durch den Gerichtshof ohne weitere Untersuchungen als Reichsverräter und Rebell zum Tode, und zwar mittels Enthauptung durch das Beil verurteilt wurde.

Dieses Urteil ist am 15. (26.) September auf dem Marktplatz der Newa-Insel in Petersburg an ihm vollstreckt worden.

Wenn Helbig »Russische Günstlinge«. S. 316. gut unterrichtet war – und er konnte es sein – so hätte Mirowitsch während der ganzen Prozedur, bei der Urteilssprechung und noch auf dem Schafott ganz der Art sich benommen, als ob er überzeugt wäre, das alles wäre nur eine Komödie und könnte etwas anderes gar nicht sein. Er hatte noch gelacht, als er statt der zuversichtlich erwarteten Begnadigung den tödlichen Beilschlag empfing.

Seine Mitschuldigen, 28 Unteroffiziere und Soldaten, wurden zum Spießrutenlaufen, zu sibirischer Zwangsarbeit und dergleichen Russischem mehr verurteilt. Den Mördern Iwans VI., Wlassjew und Tschekin, wurden Beförderungen zuteil und lebenslängliche Pensionen zugebilligt.

Somit war nach allen Seiten hin der »Gerechtigkeit« genug getan.

6.

» Cherchez la femme!« (Sucht die Frau!) oder wie die andere Lesart lautet, » Où est la femme?« (Wo ist die Frau?) ist ein Satz, dessen Findung man bekanntlich dem König Jakob I. von Großbritannien zugeschrieben hat. Wenn mit Grund, so wäre das unbedingt das gescheiteste Wort, welches dieser stammelnde und geifernde Tropf von König jemals über seine Lippen brachte. Denn fürwahr bei allen unklaren, verwickelten, geheimnisvollen Geschichten tut man gut, vor allem der »Frau« nachzufragen, weil eben im hintersten Hintergrund solcher Geschichten immer das »Ewig-Weibliche« oder wenigstens ein Stück davon zu suchen und auch wohl zu finden war, ist und sein wird.

In unserem Falle heißt das Ewig-Weibliche selbstverständlich Katharina II.

Die bekannte kriminalistische Frage: » Cui bono?« (Wem nützt es?) ist hier gar nicht zu umgehen. Wem gereichte der Tod Iwans VI. zum Vorteil? Der herrschenden Zarin. Daß sie in dem Gefangenen der Schlüsselburg einen Prätendenten gesehen, der unter Umständen für sie gefährlich, sehr gefährlich werden könnte, ist ja schon dadurch erwiesen, daß sie den von der Zarin Elisabeth ausgestellten Mordbefehl erneuert hatte. Aber Katharina war »eigentlich« nicht grausam, lispelt mit süßer Stimme die alleruntertänigste Zofe Hofhistoriographie. Wirklich nicht grausam, diese Frau, die sich keinen Augenblick besann, ganze Völker zu Boden treten zu lassen, wenn es galt, die Eingebungen ihrer grenzenlosen Ehr- und Herrschsucht zu befriedigen? Wirklich nicht grausam, diese Frau, welche hunderttausende und wieder hunderttausende russischer Kronbauern zu Leibeigenen machte, um diese »Seelen« an ihre Liebhaber verschenken zu können? Wirklich nicht grausam, dieses Weib, das am Tage, nachdem ihre Spießgesellen ihren rechtmäßigen Herrn und Gemahl gräßlich ermordet hatten, mit blasphemischem Hohn manifestierte: »Dieser unerwartete Todesfall ist als eine Wirkung der göttlichen Vorsehung anzusehen« –?

Das steht fest, Katharina II. machte sich aus dem Leben des armen Iwan nicht mehr und nicht weniger als aus dem Leben einer Fliege. Sie würde demzufolge nicht einen Augenblick gezaudert haben, dieses Leben, falls es ihr irgendwie gefährlich schien, zu vernichten. Es entsprach auch nur jenem Zug kätzischer Falschheit und Heuchelei, der schwefelfarbig durch ihr ganzes Wesen ging, wenn die Semiramis des Nordens dafür sorgte, daß in das über Mirowitsch gesprochene Urteil ein Satz hineinkam, der besagte, er, Mirowitsch, wäre eigentlich der Mörder Iwans, da durch sein Beginnen Wlassjew und Tschekin zur Tötung des Gefangenen veranlaßt worden seien.

Das mancherlei Auffällige, das, wie wir sahen, im Verlaufe dieses Versuchs einer russischen Kerkerrevolution vorgekommen, hat schon frühzeitig zur Aufwerfung der Frage geführt: War Mirowitsch angestiftet und von wem? Bis zur Stunde jedoch ist es unmöglich geblieben, diese Frage mit Bestimmtheit zu beantworten, und es wird wahrscheinlich für immer unmöglich bleiben. An Vermutungen hat es freilich nicht gefehlt. Schlosser, der übrigens in seiner kurzen Darstellung der Schlüsselburger Katastrophe sehr ungenau ist, sagt nur, Iwan sei »wahrscheinlich« auf Befehl Katharinas umgebracht worden. Herrmann meint, »man sehe nicht ab, wie Mirowitsch bis zum letzten Augenblick so zuversichtlich auf Begnadigung rechnen konnte«, falls er aus eigenem Antrieb sein verzweifeltes Spiel gespielt hätte – und fügt hinzu: »Der alte Großkanzler Bestuschew hielt Panin für den Anordner der Vollstreckung des kaiserlichen Willens.« Damit wäre also gesagt, Mirowitsch sei nur ein Werkzeug Panins gewesen, der den Wunsch Katharinas, von dem Schlüsselburger Kerkergespenst erlöst zu werden, hätte zur Tat machen wollen. Bernhardi hält es der Erwähnung für wert, daß es Leute gegeben, die die Anstiftung des Mirowitsch zu seinem Unternehmen auf die Fürstin Daschkow zurückführten, welche »leidenschaftliche Frau nicht ruhen, sich nicht darein ergeben konnte, daß sie keine weitere Bedeutung im Leben haben sollte«. Sodann führt Bernhardi die Behauptung des alten Helbig an, Katharina selber sei es gewesen, die, um sich Iwans zu entledigen, den Mirowitsch zu seinem Befreiungsversuch habe verleiten und anleiten lassen, und zwar durch jenen Geheimrat Teplow, welcher, einer der Mörder Peters III., fraglos der verworfenste Mensch in Rußland und »allerdings dieser wie jeder Untat fähig war«. Nachdem der Mohr Mirowitsch seine Schuldigkeit getan, habe man ihn, um das Geheimnis mit ihm zu begraben, prozessieren, verurteilen und köpfen, aber bis zum Moment der Köpfung auf Begnadigung hoffen lassen. Dieser Annahme neigt sich auch Barthold zu, läßt aber vorsichtig die fromme Phrase fliegen: »Den rätselhaften Zusammenhang weiß der Allmächtige allein.« Soviel wir bis jetzt wissen, sind Katharina, Panin, die Daschkow und Teplow hingegangen, ohne das Geheimnis, angenommen, es handle sich um ein solches – zu enthüllen, und wir müssen uns also wohl oder übel mit den vorhandenen aktenmäßigen Nachweisen begnügen.

Trotz der starkgefühlten Unzulänglichkeit derselben läßt sich viel daraus lernen. Die traurige Historie vom ermordeten Schattenzaren Iwan macht ja eine charakteristische Episode in der Geschichte jener abenteuerlichen Weiberherrschaften aus, welche in Rußland vom Tode Peters des Großen mit zwei nur kurzen Unterbrechungen – Peter II. und Peter III. – bis zur Thronbesteigung Pauls I. gewährt haben. Diese wüsten Weiberherrschaften, welche alle Greuel asiatischer Barbarei mit der raffinierten Frevelhaftigkeit der europäischen Kabinettspolitik des 18. Jahrhunderts verbanden, haben jene Kolossalschuld von Versündigungen an der Menschheit und an dem eigenen Volk angehäuft, deren Wucherzinsen Zar Alexander II. vergeblich mit der Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft zu bezahlen versuchte. » Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi« (Jeglichen Wahnwitz der Könige haben die Griechen zu büßen). Ach, der Vers des römischen Poeten war und ist allzeit eine traurige geschichtliche Wirklichkeit. Was immer die russischen Zaren und Zaritzen gesündigt haben, das russische Volk büßte es. Alle die Zuflüsse, die zur erschreckenden Zerrüttung der russischen Gesellschaft zusammenrannen, lassen sich zu den Schlammpfützen zurückverfolgen, die vor über hundert Jahren aus zarischen und zaritzischen Lastern und Verbrechen sich gebildet hatten. Die Katharinen, Annen und Elisabethen waren in ihrer Art schon richtige Nihilistinnen. Denn sie achteten alle Satzungen des Rechtes, der Sitte, der Ehre und der Menschlichkeit pro nihilo (für nichts), rüttelten also frevelhaft an jedem Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft. Jetzt sind die Folgen da. Die Anhänger einer materialistisch-mechanischen Auffassung, Betrachtung und Darstellung der Geschichte mögen nach Rußland hinhorchen. Dort werden sie, falls sie nicht ganz taub sind, den Schritt der Nemesis vernehmen oder auch, wenn sie lieber wollen, die drastisch-tatsächliche Glossierung von jenem Ausspruch des russischen Dichters, Dekabristen und Märtyrers Ryléjew:

»Gott in der Weltgeschichte heißt Vergeltung!
Die läßt in Halme schießen Frevelsaat.«


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