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Le secret d'ennuyer est celui de tout dire.
(Das Geheimnis, zu langweilen, besteht darin, alles zu sagen).
Voltaire.
Eines Tages im Jahre 1760 warf Jean-Jacques Rousseau einen prophetischen Blick in die Zukunft und schrieb die Worte nieder: »Wir gehen raschen Schrittes auf die Revolution zu.« Als die Prophezeiung bekannt wurde, lachte man den Propheten als einen »Narren von Schwarzseher« aus. Wenige Jahre später, 1764, weissagte auch Arouet-Voltaire die Revolution, welche ganz bestimmt im Anzuge sei (» la révolution qui arrivera immanquablement«). In den Salons der Herren und Damen von Welt, wo man mit revolutionären Zündhölzern als mit einem modischen Spielzeug spielte, lächelte man achselzuckend dazu und sagte: » Ce cher patriarche de Ferney hat in seinem Leben so viele gute Witze gemacht, daß man ihm schon einmal einen schlechten verzeihen kann.«
Heutzutage braucht man bei weitem kein Voltaire und kein Rousseau zu sein, sondern nur sehende Augen und hörende Ohren zu besitzen, um vorhersagen zu können, daß an des 19. Jahrhunderts Neige ein Revolutionskrater sich auftun dürfte von einem Umfang, einer Tiefe und einer Ausbruchsgewalt, womit verglichen die Eruption von 1789 bis 1794 in der Anschauung späterer Geschlechter nur wie ein harmloses Feuerwerk erscheinen möchte.
Vorderhand muß man sagen, daß die Schwärmer, die Raketen, die Flammenräder dieses Feuerwerks immerhin Tod und Verderben genug gesprüht haben. So genug, daß man sich daran wohl ein Beispiel nehmen könnte. Selbstverständlich nicht, um sich warnen zu lassen, denn das tun ja die Menschen sehr selten oder nie. Aber doch, damit sich die Leute eine annähernde Vorstellung von dem bildeten, was ihnen oder ihren Kindern bevorsteht, wenn eine nicht ferne Zukunft ihre logischen Schlußfolgerungen aus den Prämissen der Gegenwart ziehen wird.
Daß so, wie die Sachen in Frankreich während des 17. und bis gegen den Ausgang des 18. Jahrhunderts hin sich gestaltet, d. h. mißgestaltet hatten, die Staatsumwälzung eine unumgängliche Notwendigkeit geworden war, darüber kann unter wissenden und redlichen Menschen kein Streit mehr sein. Auch wenn Ludwig XVI. nicht der Schwachkopf gewesen wäre, der er war, auch wenn er von weniger mittelmäßigen Ministern, als z. B. der lächerlich überschätzte Necker einer gewesen ist, beraten worden wäre, hätte er den Ausbruch der ungeheuren Krisis doch nicht hintanzuhalten vermocht. Ein genialer König mit einem Stahlherz und mit einer Eisenhand wäre vielleicht – aber auch nur vielleicht – imstande gewesen, die Lava der Revolution einzudämmen und ihr den Weg vorzuzeichnen. Aber die Eruption des kochenden Vulkans selbst zu verhindern, würde auch ein Nummer-Eins-Mann wie Cromwell unvermögend gewesen sein. Mirabeau, wenn er am Leben geblieben, hätte den Versuch einer Eindämmung und Wegweisung ebenfalls planen und unternehmen, aber sicherlich nicht durchführen können. Er war ja von der Skepsis und von der Liederlichkeit seiner Zeit viel zu sehr durchfressen, als daß ihm etwas gelingen konnte, wozu die riesigste intellektuelle und sittliche Kraft gehörte. Der Volksgraf, wie ihn seine Standesgenossen spöttisch schalten, hatte davon selber das richtige Gefühl und gab ihm Ausdruck in Worten, welche von ebensoviel Selbstgefühl wie Reue zeugten: »Oh, fürwahr, meine früheren Sünden kommen dem Gemeinwesen teuer zu stehen.«
Daß die Grundstimmung der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, von der Mitte desselben an, überall in der zivilisierten Welt eine hochgradig idealistische gewesen ist, weiß jedermann und kann gar keiner Anzweiflung unterstellt werden. Die Philosophie des Zweifels, der Aufklärung, der Toleranz hatte ihr Werk vollbracht. Der Enthusiasmus, den das von Rousseau gepredigte sogenannte »Naturevangelium« den Herzen eingepflanzt hatte, trieb die Menschen zu freiheitlichen Anschauungen, philanthropischen Wünschen und hochfliegenden Hoffnungen. Die guten Idealgläubigen machten sich selber und anderen allen Ernstes weis, man hätte das goldene Zeitalter der Vernunft, Freiheit und Gerechtigkeit schon greifbar nahe vor sich. Schade nur, daß alle die liebenswürdigen Phantasten und Enthusiasten in ihr glänzendes Zukunftsrechenexempel eine Ziffer einzustellen vergaßen: die Wirklichkeit mit ihren rauhen Tatsachen, erzprosaischen Bedürfnissen und gebieterischen Forderungen, die Wirklichkeit mit dem wirklichen Menschen, welcher »aus Gemeinem gemacht ist und die Gewohnheit seine Amme nennt«.
Aus solchen vergeßlichen Enthusiasten und Phantasten bestand schon die Mehrzahl der im Mai 1789 zusammengetretenen französischen Nationalversammlung. Sie war zweifelsohne voll guten, voll besten Willens, diese Mehrzahl. Sie ist auch sehr rüstig gewesen im Niederreißen, und es galt wahrhaftig, gar vieles Abscheuliche, Göttern und Menschen Verhaßte niederzureißen. Aber weil sie nicht mit der nötigen Unterscheidung zu verfahren wußten, brachten es die begeisterten Zerstörer glücklich dahin, das Frankreich des Ancien Régime in ein ungeheures Trümmerfeld zu verwandeln. Auf diesem wollten sie die konstitutionell-parlamentarische Monarchie à l'Anglaise erbauen, allein die Stürme vom 14. Juli und vom 6. Oktober fegten die Fundamente des Kartenhauses fort. Trotzdem bosselte und leimte man dieses zusammen, so gut oder so schlecht es gehen mochte, und erklärte den papierenen Bau im September 1791 für vollendet. In Wahrheit und Wirklichkeit regierte damals in dem anarchisch hin und her wogenden Frankreich schon nicht mehr weder König noch Parlament, sondern vielmehr, und zwar souverän-despotisch, der über die Pöbelrotten von Paris gebietende Jakobinismus.
Am 1. Oktober desselben Jahres 1791 machte die verfassungschaffende Nationalversammlung der gesetzgebenden Platz, das will sagen, die geschulte und gemäßigte Phantasterei der unerfahrenen und maßlosen, der Reformwille dem Revolutionswunsch, der Konstitutionalismus dem Demokratismus, das experimentierende Tasten dem abstrakt-tolldreisten Hasten. Die 745 Gesetzgeber der » Législative« waren eigentlich nur dazu da, ihren Nachfolgern, den Konventsmännern, die Wege zu ebnen und mit Redeblumen zu bestreuen. Es ist geradezu märchenhaft, wie damals die Franzosen mittels gedunsener Phraseologie sich selbst und für eine Weile auch alle anderen Völker belogen und betrogen. Zum Beispiel: Einer der schärfstverständigen Deutschen jener Tage, J. H. Merck, der Freund des jungen Goethe, war im Jahre 1791 nach Paris gekommen und ließ sich ganz widerstandslos von der dort herrschenden Freiheitsphrase mitbenebeln. So ganz, daß er in der tatsächlich schon unter der Pöbelherrschaft stehenden Hauptstadt Frankreichs nichts wahrnahm als »Durst nach Wahrheit, Tugend und Menschengefühl«. Er brannte darauf, sich in den Jakobinerklub aufnehmen zu lassen, von dem er behauptete, er enthielte »alle Menschen von Genie und warmem Herzen«. Ja, er sah in ihm den »Ort, wo der Grundstein zum Wohl der Nation und vielleicht des Universums bereitet wird«. Wenn das einem nüchternen Deutschen begegnete, so braucht man sich doch wohl nicht darüber zu wundern, daß heißblütige Südfranzosen, wie die in der Législative tonangebenden Girondisten gewesen sind, bis zum Delirium von dem Narrenwahn erfüllt waren, Paris müßte sich unschwer in ein perikleisches Athen verwandeln lassen, wenn nur erst der Königsthron umgestürzt wäre und es keinen »Monsieur Veto« und keine »Madame Veto« mehr gäbe.
Nun, die Schönschwätzer der gesetzgebenden Nationalversammlung hatten noch kein volles Jahr lang geschwatzt, als ihr Wunsch in Erfüllung ging. Aber während sie auf der Rednerbühne Blumengirlanden gewunden und mit Frau Roland, ihrer Egeria oder Pythonissa, plutarchisches Pathos ausgetauscht hatten, waren ihnen auf dem Wege nach Utopien andere schon zuvorgekommen. Mittels der Pariser »Kommune« vom 10. August nahm der Jakobinismus offiziell von der Herrschaft über die Hauptstadt und das Land Besitz. Er ließ den Girondismus noch eine Zeitlang fortrednern, dann erwürgte er ihn. Schon zuvor hatte er den Kopf des entthronten Königs »allen Tyrannen des Erdkreises als einen Fehdehandschuh hingeworfen«, wie die im Dantonschen Hyperbelton gehaltene Phrase lautete. Noch in demselben Jahre schickte der als guillotinischer »Schrecken« organisierte und tyrannisierende Jakobinismus die edelste Heldin der Revolution, Charlotte Corday, dann die »Witwe Capet« Marie Antoinette und deren Todfeindin Manon Roland aufs Schafott. Dieses forderte in Paris allein vom Herbste 1793 bis zum Hochsommer 1794 einen täglichen Bluttribut von 10 bis 60 und 70 Köpfen. Begonnen hat » La Terreur« ihre Greuelherrschaft schon mit den grauenhaften Septemberschlächtereien von 1792, von denen heutzutage nur noch die blödeste Unwissenheit behaupten kann, daß sie Frankreich von der fremden Invasion errettet oder wenigstens zu dieser Errettung beigetragen hätten. Systematisiert sodann wurde der »Schrecken«, wie bekannt, durch Robespierre und durch den Lieblingsjünger dieses »Blutmessias«, Saint-Just. Aber der terroristische Diktator war, genau angesehen, nur das Werkzeug der Diktatur des Pöbels von Paris. Natürlich behauptete der Schreckensgreuel fortwährend, auf dem geraden Wege nach dem Utopien allgemeiner Glückseligkeit zu sein, und raste und wütete nur im Namen der neuen heiligen Dreifaltigkeit »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«.
Ein riesigeres Lügenluftschloß als dieses hat es wohl niemals gegeben auf Erden.
Laßt uns zusehen, wie es unterhalb dieses Luftschlosses auf dem Boden der Wirklichkeit aussah, wie es zu- und herging in dieser » sainte ville de la liberté, égalité et fraternité« Paris, deren Bewohner ja doch wohl, sollte man meinen, alle die verheißenen herrlichen Früchte des Utopismus zuerst hätten zu kosten bekommen müssen. In Wahrheit war die Gesamtfrucht des Schreckenssystems nur das allgemeine Elend, und man darf ungescheut sagen, daß » La Terreur« die Hauptstadt Frankreichs in einen ungeheuren moralischen Sumpf verwandelt habe, in einen Sumpf von Verarmung, Roheit, Barbarei und Unzucht, welcher pestilenzische Miasmen aushauchte und auf welchem gemeinster Wucher und eine schamlose Prostitution als giftgeile Sumpfblumen schwammen.
Hierfür wollen wir jetzt den geschichtlichen Beweis der Wahrheit antreten Ich brauche kaum anzumerken, daß ich es bei Erbringung dieses Beweises hier nur auf eine flüchtige Skizze abgesehen habe. Um dem Gegenstande gerecht zu werden, müßte man ein Buch schreiben, und zwar kein kleines. Stoff dazu wäre in Überfülle vorhanden. Verarbeitung hat er – von anderen bekannten Werken über die französische Revolution abgesehen – gefunden in Mercier, Le nouveau Paris, 6 vols. Paris, An VII; E. et J. de Goncourt, Histoire de la société française pendant la révolution. Paris, 1854; Mortimer-Ternaux, Histoire de la Terreur, 8 vols. Paris, 1863 seq.; Taine, Les origines de la France contemporaine, tome II. Paris, 1881-82; Wallon, La Terreur, 2 vols. Paris, 1873; Wallon, Hist. du Tribunale révolutionnaire, 6 vols. Paris, 1880 seq.; A. Schmidt, Pariser Zustände während der Revolutionszeit, 3 Bde. Jena 1874-76; E. Koloff, Das gesellige Leben vor und nach der Schreckenszeit in Paris (in Raumers Histor. Taschenbuch f. 1863, S. 337 fg.)..
Das Paris jener Zeit war noch nicht die riesige Prachtstadt unserer Tage. Um den ganz gewaltigen Unterschied in räumlicher Beziehung wahrzunehmen, braucht man bloß einen Plan der Stadt, wie sie noch zu Ausgang des 18. Jahrhunderts war, neben einen von jetzt zu halten. Die höchst beträchtlichen Erweiterungen, welche Paris in der Zwischenzeit erfahren hat, springen sogleich in die Augen. Ringsum haben dem alten Stadtkörper neue Quartiere sich angegliedert. Mit der Vergrößerung der Stadt hat die Verschönerung Schritt gehalten. Das jetzige Paris mit seinen Straßen und Plätzen, mit seinen Prachtgebäuden und Monumenten, mit seinen Brücken und Kais, mit seinen Kirchen, Theatern und Museen, mit seinen Gärten und Parken, eingerahmt durch eine Umgebung voll von landschaftlichem Reiz und voll von Merkmalen des Reichtums und des guten Geschmacks, darf unbedingt den Anspruch erheben, die schönste aller Großstädte zu sein, und nichts ist begreiflicher als der Stolz, womit alle Franzosen auf ihre Hauptstadt blicken, obwohl die bombastisch-hyperbolischen Preis- und Schmeichelnamen, womit ein Victor Hugo Paris bedacht hat, aus dem Erhabenseinwollenden zumeist tief ins Lächerliche fallen.
Das Paris der Revolutionszeit rechtfertigte noch in bedenklicher Weise seinen altrömischen Namen Lutetia (Kotstadt). Namentlich im Winter, wo die Pariser nicht leichthin »flanieren« gehen konnten, sondern vielmehr mühselig Schmutz und Unflat aller Art durchwaten mußten. Waren doch die Straßen die Ablagerungsstätten für Abfälle und Schmutzhaufen aller Art, und Unrathaufen wechselten da überall, insbesondere an den Straßenecken, mit Kotpfützen ab. Das Pflaster war durchweg schlecht. Weitaus die meisten Straßen waren eng und infolge der beträchtlichen Höhe der Häuser dunkel und feucht. Allerdings gab es auch schon elegante Quartiere mit Palais von reicher Architektur und opulenter Einrichtung, aber auch diesen fehlten noch die Behaglichkeiten modernen Komforts. Die Reinigungsapparate im großen wie im kleinen waren sehr mangelhaft und wurden in Haus und Stadt nur lässig gehandhabt. Daher die zahllosen gleichzeitigen Klagen über die Unsauberkeit von Paris. Zur Sommerzeit hatte man vollauf Ursache, über die Belästigung von seiten der Staubwolken sich zu beschweren, welche über die ungepflasterten Boulevards dahinwirbelten. Auf den Wiesen und in den Baumgängen der Champs-Elysées weideten noch Schafherden. Schlimm ist es bei Nacht gewesen. Die Straßenbeleuchtung mittels Öllampen war so dürftig, daß auf die von den erleuchteten Magazinen und Läden ausströmende Helle gerechnet werden mußte. Da nun aber der hochgelobte »Schrecken« Handel und Wandel, Kauf und Verkauf so ziemlich auf Null herabgebracht hatte, so vermochten die Händler eine Erleuchtung ihrer Läden nicht mehr aufzuwenden und schlossen demnach mit Anbruch der Dunkelheit ihre Geschäftslokale. Auf die Straßen lagerte sich dann eine Finsternis, die aller Welt zur Sorge und zum Ärgernis gereichte, mit Ausnahme natürlich der ungeheuer zahlreichen Sippschaft der Diebe, Räuber, Einbrecher, Mörder und Dirnen, welche Sippschaft es ja sehr bequem fand, im Dunkeln zu munkeln.
Das Salonleben hatte aufgehört. Die aristokratischen Quartiere, deren Bewohnerschaft aufs Land oder in die Fremde geflohen war, wer nur konnte, lagen, wenn die Nacht gekommen, dunkel und öde. Die Pariser vom anständigen Mittelstand sahen sich ihrerseits bei der Teuerung aller Brenn- und Beleuchtungsmaterialien genötigt, schon »mit den Hühnern« zu Bette zu gehen, froh, wenn die Nacht vorüberging, ohne daß mit dem Schreckenswort »Im Namen der Republik!« an die Haustür geklopft wurde, um für die Träger einer Haussuchungs- oder Verhaftungsbotschaft Einlaß zu fordern. Die organisierte Pöbelei verbrachte ihrerseits die Abende in den Theatern, in den Sektionslokalen und in den Klubs. Gerade wie nachmals wieder, 1870-71, so ging es auch 1793-94 am wildesten und wüstesten her in den von Weibern gestifteten und besuchten Klubs. Ja es kam so weit, daß sogar im Jakobinerklub strafende Stimmen gegen das tolle Treiben der Klubbistinnen laut wurden, daß dort die »Anmaßungen besoffener Megären« scharfen Tadel fanden und der Konvent endlich dazu schreiten mußte, die Schließung der Weiberklubs zu befehlen.
Der Anblick von Paris war bei Tage kaum weniger düster als bei Nacht. Wie eine den Atem beklemmende Bleidecke lag der Schrecken auf der Stadt. Wenigstens mußte sich dieses Gefühl einem jeden aufdrängen, der weder von dem terroristischen Wahnsinn mitbefallen war, noch zu den Nutznießern und Ausbeutern dieses Wahnsinns gehörte. Alles sah eintönig finster, schäbig, gezwungen, verzerrt, armselig-komödiantisch aus. In endlos-langweiliger Wiederholung stand die Straßenzeilen entlang an den Häusern geschrieben: » Liberté, égalité, fraternité ou la mort!« überall waren die drei widerwärtigen Wahrzeichen der »einen und unteilbaren Republik«, die Galeerenmütze, die Pike und die Guillotine, auf Mauern und Wände gepinselt. Der Verkehr zu Wagen hatte fast ganz aufgehört; nicht nur die Karossen der einheimischen Aristokratie und der fremden Gesandten waren verschwunden, sondern sogar das Erscheinen von Fiakern ärmlichster Sorte war in der Wolle gefärbten Sansculotten ein Ärgernis. Denn »warum gehen die Aristokraten nicht zu Fuße wie wir anderen ehrlichen Citoyens?« Es konnte demnach unter Umständen – da ja alles und jedes »verdächtig« war – sehr gefährlich werden, ja ins Gefängnis, vor das Revolutionstribunal und von da zum » Rasoir national«, d. h. zur Guillotine führen, wenn man sich eines Mietwagens bediente.
Die Reichen waren eingekerkert, guillotiniert oder emigriert. Mit ihnen war natürlich der Luxus verschwunden, und damit hatte die Nährfähigkeit der mittleren und der unteren Klassen sehr beträchtliche Einbußen erlitten. Alle feinere Gewerbetätigkeit hatte aufgehört, der Handel, vollends der mit Lebensmitteln, war als ein Verbrechen angesehen. Zeitig, schon im Jahre 1793, machten sich Stimmen laut, welche meinten, in einem »freien Staat bedürfe man eigentlich nur der Bauern und Handarbeiter, und demzufolge müßten die Künstler, die Gelehrten, die Kaufleute und die Bankiers samt und sonders geplündert und weggesäubert werden«. Natürlich reichte der Verstand solcher Orakelsprecher des Heiligen Schreckens nicht weit genug, daß sie begriffen hätten, den Handel verpönen und vernichten hieße auch die Arbeit verunmöglichen. Eine unausweichliche, bald zu einer Skorpionengeißel gewordene Folge der Verketzerung der Handelstätigkeit war, daß sich die ehrlichen Leute mehr und mehr davon zurückzogen und insbesondere der Lebensmittelverkehr allmählich ausschließlich in die Hände skrupelloser Gauner und Schurken kam, welche die herrschende Teuerung mit raffiniertem Wucher ausnützten und die armen Pariser bis aufs Blut schunden. Vom Frühjahr 1793 an flog die Skala der Lebensmittelpreise nur so hinauf. Das Steigen war ein wahrhaft ungeheuerliches. So kostete z. B. das Pfund Kalbfleisch im Mai genannten Jahres noch 5 Sous, zu Anfang Juni aber schon 22 Sous. Mit der wucherischen Verteuerung ging die gewissenlose Verfälschung der Nahrungsmittel Hand in Hand. Alle Maßregeln der Schreckensregierung, der Not zu steuern und dem Wucher zu wehren, erwiesen sich als unzulänglich oder als ganz nutzlos. Sie vermochte, ihrer ganzen Natur nach, nur Gewaltsamkeiten aufzuwenden. Sie dekretierte den Zwangkurs des schon vorhandenen Papiergeldes und fabrizierte neue »Assignate« in Massen. Innerhalb eines Jahres, während der Diktatur Robespierres, vom Juni 1793 bis zum Juni 1794 wurden die umlaufenden Assignate um etwa 5 Milliarden vermehrt. So ging es weiter und weiter bis zum Ende des Jahrhunderts, wo eine wahre Schlammflut gänzlich entwerteten Papiergeldes den Boden Frankreichs bedeckte. Wie die Entwertung sich vollzogen, kann die Tatsache zeigen, daß noch am 1. Dezember 1795 in Paris 1 Louisd'or nur 3500 Papierlivres kostete, am 1. Juni 1796 aber schon 23 000 Papierlivres. Das Tüpfelchen auf das i einer verrückten Wirtschaft setzte die Dekretierung des »Maximum«, der Unsinn des Unsinns, welcher gesetzlich vom Oktober 1793 bis zum Ende Juli 1794 währte, wo diese von Staats wegen und gewaltsam bestimmte Preistarifierung der Nahrungsmittel, sowie verschiedener Machwaren, als nicht nur gänzlich unfruchtbar, sondern auch als geradezu schädlich wieder beseitigt werden mußte. Hand in Hand mit der Entwertung des Papiergeldes hatte das Maximum die Teuerung bis zum Unerträglichen gesteigert.
Die schwere Not der Zeit fiel natürlich, wie unter ähnlichen Umständen immer, am wuchtigsten auf die anständigen Leute, deren Ehr- und Schamgefühl nicht so weit herunter war, daß sie sich, wie der Pöbel tat, gänzlich auf die Fürsorge der Regierung verlassen und von den kommunistischen Abfütterungen von Staats oder Kommune wegen auskömmlich profitiert hätten. Um seine Prätorianer, die Pöbelrotten von Paris, bei guter Laune zu erhalten, hatte der Schrecken, in Nachahmung des römischen Cäsarismus, auf Gemeinde- und Staatskosten die Hauptstadt, sozusagen, zu einer kommunistischen Speiseanstalt gemacht. Die Hefe der Bevölkerung stand sich verhältnismäßig ganz gut dabei. Für alle anständigen Menschen aber mußte es eine wahre Marter sein, wenn sie sich gezwungen sahen, an diesem mit ungeheuren, geradezu märchenhaften Kosten und doch nur dürftig und schlecht beschafften Gemeinde- und Staatsalmosen teilzunehmen. Um die ihnen zugeteilte schmale Tagesration zu erhalten, mußten sie vor Tagesanbruch aufstehen und sich vor den Bäcker- und Fleischerläden in die »Queue«, d. h. ans Ende der langen daselbst harrenden Menschenreihe stellen, welche nach der Ordnung der zuerst Gekommenen langsam vorrückte. Wer zu spät kam, hatte zu befürchten, nichts mehr vorzufinden. »Welch ein schmachvoller und herzzerreißender Anblick«, sagt eine unserer Quellen, »die unglücklichen Bewohner der Hauptstadt jeden Tag vor den Türen der Bäcker und Fleischer aufeinander gedrängt und mit ihrer Reihennummer und Bürgerkarte in der Hand wie der Bettler an der Tür einer Herberge oder eines Klosters auf das bißchen Fleisch und Brot warten zu sehen, das die Regierung ihnen verabreichen ließ und womit alle sich begnügen mußten.«
Daß unter solchen Verhältnissen die Verbrechen aller Art außerordentlich zunehmen, daß Leichtfertigkeit und Liederlichkeit zu kolossalem Umfang anschwellen mußten, bedarf keines Nachweises. Diebe, Fälscher, Räuber und Mörder hatten gute Nächte, denn die Polizei war ja vollauf beschäftigt mit der Jagd auf politisch »Verdächtige«, auf angebliche »Verschwörer gegen die Sicherheit der Republik« oder auf solche, die es werden könnten. Unter den grassierenden Lastern stand voran eine tolle Spielwut. Der grauenhaft wuchernden Prostitution suchte der Konvent mit scharfen Dekreten Schranken zu setzen, aber umsonst. Die Theater, die Tanzplätze, die Gärten und Spazierwege wimmelten von Dirnen. Das Verderbnis der Jugend war schrecklich. Vom Oktober 1793 existiert ein Polizeirapport, demzufolge im zum »Revolutionsgarten« umgetauften Tuileriengarten halbwüchsige Jungen und Mädchen zum Skandal für die Vorübergehenden »fast öffentlich den infamsten Ausschweifungen sich überließen«. Das waren die »spartanischen« Tugenden, welche die plutarchische Phrasenmacherei der Konventsredner zuwege gebracht hatte. Noch widerlicher als die zur Schreckenszeit modische Verkopplung der Unmenschlichkeit mit der Freiheitsphrase war die Verquickung der Roheit mit der Frivolität. Welcher fühlende und denkende Mensch sollte nicht empört sein beim Anblick des scheuseligen Bildes von Zuchtlosigkeit, welches der Hof Ludwigs XV. darbot? Aber welcher fühlende und denkende Mensch fühlt sich nicht ebenso angewidert, wenn er das von dem Augen- und Ohrenzeugen und Mithandelnden Mercier gezeichnete und gemalte Bild betrachtet, wie es im Konventsaal zu- und herging während der 25 Stunden, als über Ludwig XVI. das Todeslos geworfen wurde? Dieser Mischmasch von Tribunal, Taverne, Vorstadttheater und Lupanar war vielleicht die grausigste von allen Szenen der Revolution.
Der terroristische Versuch, das Christentum abzutun und dafür eine Art von Heidentum aufzutun, fiel bekanntlich ganz dumm und abgeschmackt aus. Der von Hébert, Chaumette und Mitnarren inszenierte sogenannte »Gottesdienst der Vernunft« war, vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes angesehen, ein unsäglich läppischer Blödsinn, vom Standpunkt der Sittlichkeit betrachtet, ein wüstes Ärgernis. Diese »Göttinnen der Vernunft«, welche man im Sitzungssaale des Konvents odorierte und in Notre-Dame inthronisierte! Pfui! Und dieser Altar im Luxemburggarten, auf welchem in einer Prachturne von Achat das Herz des blutdürstigen Narren Marat als eine kostbare Reliquie aufgestellt war! Dreimal Pfui! Auch der am 8. Juni 1794 im Tuileriengarten spektakelnde Mummenschanz, wobei Robespierre als der Hohepriester des wieder anerkannten und wieder eingesetzten »Höchsten Wesens« von Schreckens Gnaden sich spreizte, war nur eine elende Posse.
Wie wenig alle diese Gaukeleien der Fühl- und Denkweise des französischen Volkes entsprachen, beweist die Tatsache, daß es in Masse zur Übung des Katholizismus zurückkehrte, sobald das Bekenntnis der Katholizität nicht mehr lebensgefährlich war.
Aber die sittlichen Verheerungen, die das terroristisch erzwungene Heidentum in der französischen Gesellschaft und vollends in der parisischen angerichtet hat, sind furchtbar gewesen. Wie noch heute und wie allzeit wurde und wird die Mehrzahl der Menschen in ihrem Tun und Lassen durch die Hoffnung auf den Himmel oder durch die Furcht vor der Hölle bestimmt. Die kenntnis- und urteilslose Menge kann nur mittels der Religion mit der Moral in Beziehung treten und bleiben. Für die bildungslosen Massen waren und sind überall und immer religiöse Vorstellungen der einzige moralische Zaum und Zügel. Nur weltfremde Büchermenschen wissen das nicht, nur faselnde Volksverführer geben sich den Anschein, es nicht zu wissen. Als nun der Schrecken die moralischen Bande religiöser Vorstellungen nicht nur gelockert, sondern geradezu verpönt und verboten hatte, als der christliche Kalender, der christliche Gottesdienst, die christlichen Sonn- und Feiertage, die kirchlichen Taufen, Trauungen und Begräbnisse abgeschafft waren, da traten in Frankreich, vornehmlich aber wiederum in Paris, alsbald die Folgen ein – Folgen von ebenso sittenverderblicher wie grotesk-lächerlicher Art. Die Ehe, dieser Grund- und Eckstein nicht nur aller Sittlichkeit, sondern auch der Zivilisation überhaupt, wurde zu einem leichtfertigen Zusammen- und Auseinanderlaufen, zu einem »reinbürgerlichen Vertrag«, den man mit einer wahrhaft zynischen Formlosigkeit einging und wieder löste. Denn zur Ehescheidung bedurfte es ja nur der Erklärung, daß man nicht mehr zusammenleben möge. An die Stelle der Taufe traten Namenangebungen, in denen sich die theatralische Überspannung der Zeit hochkomisch offenbarte. Es wimmelte von Gracchusen, Brutusen und Katonen, von Aspasien, Kornelien und Arrien. Vollblütige Patrioten gaben ihren Söhnen die Namen »Freiheitsbaum« oder »Rotmütze«, und richtige Sansculotten benannten ihre Töchter »Nationalpike« oder »Guillotine«. Selbst die Majestät des Todes, sonst doch sogar Barbaren heilig, wurde schimpfiert. Von Leichengeleiten keine Rede mehr. Nur mit Not konnte man von den Tyrannen der Kommune die Bewilligung erlangen, die Särge mit einem dreifarbigen Tuche bedecken zu dürfen. Die Friedhöfe mit ihren abscheulichen Massengräbern glichen Kloaken.
Wie allem und jedem, so drückte der Schrecken auch der Tracht, dem Hausrat, der Lebensweise, den Umgangsformen seinen Stempel auf. Die schreckenszeitliche Mode fiel da ins Schäbige und Schmierige, dort ins Alberne und Unsittliche. Die Frauen trieben die republikanische »Antikheit« ihres Anzugs immer weiter und weiter, bis diese Antikheit schließlich zur skandalhaftesten Nudität wurde. Was den Jakobiner und Schreckensmann comme il faut angeht, der trat einher in einer sogenannten »Karmagnole«, d. h. in einem Kamisol oder Wams von grobem, schwarzem Tuch, welches, um recht à la mode zu sein, fadenscheinig und schäbig sein mußte. Dazu gehörten lange Beinkleider von gleichem Stoff, eine blauweißrote Weste, gegürtet mit der Koppel eines gewaltigen Schleppsäbels, item ein möglichst bürstenborstiger Schnurrbart, endlich eine kurzhaarige schwarze »Jakobinerperücke«, auf welcher die rote phrygische Mütze saß mit ungeheuer großer dreifarbiger Kokarde.
Und wie aus dem Anzug, sollte auch aus dem Hausrat und den Wohnungseinrichtungen alles Herkömmliche und Gewohnte verbannt werden. Auch hierbei wurde in lächerlicher Weise antikisiert. Die Handwerker pfuschten Zimmer und Mobiliar zuwege, deren »Antikheit« vorzugsweise in ihrer Unbequemlichkeit bestand. Bald aber lag, wie die Kunst, so auch das Kunsthandwerk brach. Denn wer hatte noch Geld, Künstler und Kunsthandwerker zu bezahlen? Außerdem ging ja die von den Terroristen systematisch organisierte Pöbelherrschaft mit wachsender Wut auf die Vernichtung alles Bestehenden und Vorragenden aus. Ist doch im Schoße des Pariser Gemeinderats, der jakobinischen Kommune, alles Ernstes die Frage zur Debatte gestellt worden, ob es nicht rätlich und nötig wäre, die Türme von Notre-Dame und überhaupt sämtliche Kirchtürme abzutragen, da sie durch ihr unverschämtes in die Höhe Hinaufragen dem Prinzip der Gleichheit Hohn sprächen. Allenthalben und allzeit ist es auch ein kennzeichnendes Merkmal der Pöbelherrschaft gewesen, gegen das Schöne nicht nur gleichgültig und verständnislos sich zu verhalten, sondern es sogar zu hassen. Schönheit und Gemeinheit sind eben Gegensätze, die einander ausschließen. Daraus erklärt es sich, daß die Schreckenssystemler von 1793-94 gegen alle Erscheinungsformen des öffentlichen Wohlstands, gegen allen Schmuck des Daseins, gegen alle Schöpfungen der Kunst förmlich wüteten. In dieser Barbarei kam so recht der Neid der geistigen Inferiorität und Sterilität, der Mittelmäßigkeit und Ohnmacht zum Vorschein, welcher immer und überall das Pöbelregiment stigmatisierte und stigmatisiert.
Auch den sonst so artigen und feinen französischen Umgangsformen zwang die terroristische Pöbelei ihre eigene Roheit und Grobschlächtigkeit auf. Feines Benehmen, höflicher Ton, manierliche Ausdrucksweise machten des Aristokratismus verdächtig. Es sollte nur noch lauter Gleichheitsflegel und Bruderschaftslümmel geben in der einen und unteilbaren Republik. Im November 1793 wurde das allgemeine Duzen von Amts wegen eingeführt und anbefohlen. Butz und Benz, Hans und Hinz, Jörg und Jockel, alle sollten miteinander Smollis sein, was ja schnurstracks gegen die französische Sitte ging, welcher zufolge bekanntlich sogar Eheleute, sowie Eltern und Kinder, einander mit Vous anreden. Jetzt duzte der Knecht seinen Herrn, die Magd ihre Herrin, der Lehrjunge seinen Meister, der Kanzleischreiber den Minister, der Soldat den General – kurz, die Rüpelei war Trumpf.
Nicht minder läppisch ist der Eifer gewesen, womit der Sansculottismus gegen alle Denkmäler und Merkmale des Mittelalters, des Königtums und der Kirchlichkeit anging. Selbst die vier Könige im Kartenspiel wurden ausgemerzt. Die Anwendung der Worte Roi und Royale konnte vor das Revolutionstribunal und demnach zur Guillotine führen. Ein Bürger, welcher so unglücklich war, Le-Roy zu heißen, wurde aufgefordert, diesen fatalen Namen mit einem weniger anstößigen zu vertauschen, und nannte sich daher fortan La-Loi. Einer Bürgerin, welche Reine hieß, gab man zu verstehen, daß dieser Name sehr übel klänge in patriotischen Ohren, und sie vertauschte ihn darum mit dem wohlklingenderen Fraternité-Bonne-Nouvelle. Die Sieurs, Messieurs und gar die Monseigneurs waren natürlich streng verpönt, ebenso die Mademoiselles und die Mesdames; auf dem Boden eines freien Frankreichs sollten nur noch Citoyens und Citoyennes wandeln. Fort auch mit den feudalistischen Worten Palais, Hôtel und Château! Wir brauchen in unserem reindemokratischen Staate nur noch Maison (Haus).
Wollte man zur Schreckenszeit in der Hauptstadt Frankreichs gute Gesellschaft sehen, so konnte man solche nur in den Gefängnissen suchen und finden. Dorthin, wo Tausende von »Verdächtigen«, Männer und Frauen, Greise und Matronen, Jünglinge und Jungfrauen, Tag für Tag des Loses harrten, durch die Guillotine gezehntet zu werden, dorthin hatten sich der französische Esprit und die feinen Verkehrsformen geflüchtet. Dort wurden die Überlieferungen der französischen Heiterkeit, der französischen Plauderkunst, ja, und auch die der französischen Galanterie noch in Ehren gehalten und gepflegt. Es darf nicht verschwiegen werden, daß der Schrecken von kleinlicher Gefangenenquälerei in der Regel nichts wußte und nichts wissen wollte. Innerhalb der Gefängnismauern verstattete er den Eingekerkerten große Freiheit. Damen hielten in den Korridoren ihren Hof, die Speisesäle ertönten von dem Lachen plaudernder Gruppen, man führte Sprichwörter und Vaudevilles auf, und auf den Höfen waren Gesellschaftsspiele im Gange. Griff die Todesfaust in Gestalt der Boten des Revolutionstribunals in das bunte Treiben herein, so schickte man sich mit bester Manier in das Unvermeidliche und verabschiedete sich voneinander, als ob man sich morgen wieder bei einer Vergnügungspartie zusammenfinden würde. Natürlich fehlte es auch an erschütternd tragischen Auftritten nicht, und so war die Tragikomödie der Wirklichkeit, welche in den Gefängnissen sich abspielte, jedenfalls gehaltreicher und interessanter als die Tragikomödie der Fiktion, welche in den 23 Theatern von Paris über die Bretter ging. Auch war dort das Publikum fraglos ein gewählteres als hier, wo der Sansculottismus souverän den Ton angab. Wie bekannt, hat der Schrecken Zeit gefunden, auch als Theaterzensor tätig zu sein und sich als solcher durch seinen der ganzen Vergangenheit gemachten Krieg gehörig lächerlich zu machen. Sintemalen – alles um der lieben Freiheit willen! – schlechterdings nur Stücke aufgeführt werden durften, welche so oder so für widerköniglich oder widerkirchlich galten, und der Vorrat von neueren Dramen dieser Sorte nicht ausreichte, so mußten sich die älteren stümperhafteste Verpfuschung und grausamste Verstümmelung gefallen lassen, bis sie unter die terroristische Schablone paßten. Die französische Klassik erfuhr eine schmachvolle Sansculottierung. So recht zulukafferisch war es auch, daß an den Kostümen der Schauspieler und Schauspielerinnen, gleichviel, in welchen Rollen sie auftraten, die Nationalfarben angebracht sein mußten. Wie mußte doch der französische Geschmack verwildert sein, wenn er es ertrug, daß Molières Tartuffe mit einer tellergroßen dreifarbigen Kokarde am Hut und Racines Phädra mit einem ebensolchen Ding an der Frisur auftrat.
Das Schauspiel der Schauspiele, die eigentliche Haupt- und Staatsaktion war jedoch das Tagewerk der Guillotine, welche zuerst auf dem Grèveplatze »arbeitete«, dann von dort nach dem Revolutionsplatz (heute Place de la Concorde), von da nach dem Marsfeld, von da zur Barrière du Trône und von dort schließlich wieder zum Grèveplatz wanderte. Ihre »schönsten Tage« hat sie, sansculottisch zu reden, auf dem Revolutionsplatz gesehen. Da hat sie ja Ludwig XVI. und Marie Antoinette, die Girondisten und Philipp Egalité, Charlotte Corday und Manon Roland, Bailly und Chénier, Desmoulins und Danton, Robespierre und Saint-Just »weggesäubert«. Bekanntlich ist die von Guillotin, einem Erzphilanthropen, erfundene oder vielmehr wiedererfundene – es gab schon im Mittelalter ein ähnliches Ding – Guillotine zuerst in der Sitzung der Nationalversammlung vom 10. Oktober 1789 als Hinrichtungsmaschine, als »möglichst schmerzlose«, in Vorschlag gebracht worden, ohne jedoch sofort »in ihrem ganzen Wert erkannt zu werden«. Vielmehr hatte die »menschenfreundliche« Erfindung zunächst nur als aristokratisches Spielzeug etliche Bedeutung: modische Damen trugen goldene Miniaturguillotinen als Vorstecknadeln oder als Ohrbommeln. Auch hatte man auf gutgedeckten Tafeln kleine Guillotinen stehen, um Würste oder Geflügel oder Fische damit zu köpfen. In größerem Maßstabe konstruiert, kam die Maschine zuerst auf dem Theater in Anwendung. Im Dezember 1789 wurde nämlich ein neues Ballett, »Die vier Haymonskinder«, in Paris aufgeführt, dessen »Spitze« darin bestand, daß man den vier Haymonskindern auf der Bühne mittels der Guillotine die Köpfe abschlug. Zweifelsohne sind gar manche von denen, welche über diesen »prächtigen Spaß« lachten, unlange darauf alles Ernstes mit der Guillotine bekannt geworden. Im März 1792 beschloß die Gesetzgebende Versammlung die Einführung der Enthauptungsmaschine, und als solche verrichtete sie ihren ersten Dienst am 21. August desselben Jahres, abends 10 Uhr. Der erste, dessen Kopf unter dem Messer der »philanthropischen« Tochter Guillotins » le saut de carpe en avant« tun mußte, war ein armer Teufel von Schreiblehrer, Collanot d'Angremont, der Werberei und Treiberei für den Hof bezichtigt und darum zum Tode verurteilt durch das »Tribunal vom 17. August«, den Vorläufer des Revolutionstribunals. Dieses seinerseits schickte bis zum Sturze Dantons in Paris 375 Personen unter das Fallbeil, aber vom Tode Dantons bis zum Fall Robespierres, also binnen nicht ganz vier Monaten, nicht weniger als 2300.
Man sieht, die Gläubigen der » Sainte-Terreur« durften sich mit einiger Befriedigung sagen: » La Guillotine ne va pas mal.« Auf einem niedrigen, rotangestrichenen Brettergerüst erhob »die Tochter Guillotins« ihre Fangarme, d. h. die zwei rotbemalten Pfähle, zwischen welche das in schiefer Richtung herabfallende Beilmesser eingescharniert war. Tag für Tag wimmelt und wuselt rundum eine neugierige Zuschauermenge jeden Alters und Geschlechts. Die Zeit des Wartens auf die von der »Vorhalle des Todes«, der Conciergerie, heranrollenden Todeskarren vertreibt sie sich nach leichtlebiger Franzosenart mit Scherz und Lachen, während Händler und Händlerinnen sich mit ihren Körben und Tragbrettern durch die Haufen drängen und mit gellendem Geschrei, auch mit allerhand guten oder schlechten Witzen ihre Eß- und Trinkwaren ausrufen und empfehlen. Man könnte glauben, eine schnatternde Herde von Gänserichen und Gänsen vor sich zu haben, wenn das Geschnatter nicht etwas von dem Gemurr und Gebrüll einer Tigerhorde an sich hätte. Auch geben ungeachtet der zahlreich anwesenden Kinder und ungeachtet der leichtfertigen Späße aus Männermund und dem Lachgekreisch von seiten der Weiber die Hunderte, die Tausende von schmierigen Rotmützen ringsher um die Todesbühne der ganzen Szene ein düsteres, unheilverkündendes Aussehen.
Da, horch, ein dumpfes Gerassel, das vom Quai de la Conférence herauftönt und das Herannahen der Todeskarren ankündigt. Die Menge beantwortet dieses Signal mit einem vielstimmigen »Ah!« und »Ha!« befriedigter Erwartung. Sie teilt sich, um der Karrenreihe Platz zu machen. Die rotangestrichenen Fuhrwerke halten eins um das andere am Fuße der Schafotttreppe und entladen sich ihrer Lasten. Das Schnattern und Lachen verstummt. Jeder und jede stellt sich auf die Zehen, reckt den Hals und strengt die Sehnerven an. »Patriotinnen« von Müttern halten ihre kleinen Kinder in die Höhe, damit auch diese möglichst viel von dem Blutspiel profitieren. Einer oder eine der dem Tode Geweihten steigt nach dem andern oder der andern die »acherontische« Treppe hinauf, wobei die terroristische Mode verlangt, daß die Männer mit stolzer Gleichgültigkeit, die Frauen mit anmutiger Gefaßtheit, ja sogar mit etwas Koketterie sich benehmen. Droben nehmen Sanson und seine Knechte das Opfer in Empfang, schnüren ihm die auf dem Rücken gebundenen Arme fester zusammen und schnallen es an das Brett. Dies wird nach vorwärts umgekippt, Sanson berührt die Feder an einem der beiden »Fangarme« der Guillotine, das Beilmesser fällt, ein dumpfes Geknirsch und ein Kopf rollt in den Korb. Ist einer gefallen, wischt einer der Büttelknechte das rauchende Blut zusammen und spritzt Tropfen davon mit seinem roten Besen auf die drunten stehende Menge, welche zur Erwiderung auf diesen greulichen Spaß die roten Mützen schwenkt und Hussa heult. In den kurzen Pausen zwischen den eintönig sich folgenden Fallbeilschlägen schreien drunten die Verkäufer und Verkäuferinnen wieder ihre Kuchen, Früchte und Liköre aus, als dächten sie, der Anblick des Blutes müßte den Appetit der Canaille geschärft haben. Ist der letzte Kopf der » fournée« (etwa: der Ration) des Tages gefallen, so reißen sich entmenschte Weiber, die »Guillotinewäscherinnen« oder »Guillotinefurien«, um die ihnen preisgegebenen roten Oberhemden der Hingeschlachteten, deren Köpfe und Rümpfe die Knechte Sansons in Körbe und Säcke packen, damit dieselben Karren, welche die lebenden Schlachtopfer hergebracht, die toten zum Grabe fahren …
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So war, in flüchtigen Umrissen gezeichnet, das Leben in Paris zur Zeit der Herrschaft des Schreckens. Es hat niemals eine blutigere Satire auf die Freiheit gegeben, als dieses sinnlose und grausame Regiment eine gewesen ist. Dieses Regiment konnte unmöglich etwas anderes zuwege bringen als eine vollständige Zerrüttung aller privatlichen und eine totale Anarchie aller staatlichen Verhältnisse. Schon im April 1793 schrieb einer der kompetentesten Beurteiler und begeistertsten Anhänger der Revolution, Georg Forster, aus Paris: »Alles hier ist blinde, leidenschaftliche Wut und rasender Parteigeist. Wer obenauf schwimmt, sitzt am Ruder, bis ihn der Nächste, der für den Augenblick der Stärkste ist, verdrängt. Wenn man nicht verfolgen, denunzieren und guillotinieren kann, ist man nichts. Du wünschest, daß ich die Geschichte der greuelvollen Zeit schreiben möchte? Ich kann es nicht. Oh, seit ich weiß, daß keine Tugend in der Revolution ist, ekelt sie mich an. Ich konnte, fern von idealischen Träumereien, mit unvollkommenen Menschen zum Ziele gehen, unterwegs fallen und wieder aufstehen und weitergehen; aber mit Teufeln, mit herzlosen Teufeln, wie sie hier sind, ist es nur eine Sünde an der Menschheit, an der heiligen Muttererde und an dem Lichte der Sonne.«
Die große Lehre der Schreckenszeit ist diese: Es war eine unausweichliche Notwendigkeit, daß die Franzosen an der im Namen der Freiheit ruchlos geübten Tyrannei sich verekeln mußten. So sehr, daß sie, wie bekannt, ganz bereit und willig waren, jeden beliebigen Despotismus sich gefallen zu lassen, wenn er ihnen nur wiederum die Sicherheit von Blut und Gut, die Möglichkeit der Kultur, der Arbeit und des Erwerbes verbürgte. Das war durchaus naturgemäß. Denn vor allem will und muß der Mensch leben, leben können, und eine angebliche Freiheit, welche die Grundbedingungen menschlicher Existenz vernichtet, ist ein Unding und ein Unsinn. Daher hat kein Staatsideal, sei es von dieser oder jener Partei ausgeheckt, von obenher oder von untenauf gewollt, irgendwie Aussicht auf dauerhafte Verwirklichung, wenn es das Privatrecht und folglich auch die Privatexistenz mißachtet und antastet. Denn mächtiger, unendlich viel mächtiger als Ideen, Ideale und Idole zusammengenommen, ist im Menschen der Trieb, sich zu erhalten und sich fortzupflanzen. Die Leute, die Völker wollen leben, möglichst bequem und genüßlich leben sogar, bevor sie sich um dieses oder jenes Staatsideal, um Monarchie oder Republik, um Absolutismus oder Parlamentarismus, um Aristokratie oder Demokratie bekümmern, und wer ihnen die Möglichkeit ihrer Existenz, und gar vollends einer bequemen und genüßlichen Existenz garantiert oder auch nur zu garantieren scheint, der hat sie, dem folgen, dem gehorchen sie. Diese, wenn man will, allerdings »brutale« Tatsache gibt die deutliche Erklärung, warum und wie die Franzosen nach der blutigen Gewalt- und Schreckensherrschaft des Konvents oder vielmehr der Tyrannen des Konvents und nach der unsteten, unfähigen, feilen und liederlichen Regierung des Direktoriums ihren Nacken so rasch, so bereitwillig, mit solcher Beeiferung unter das eiserne Joch gebeugt haben, das ein kühner und glücklicher Soldat ihnen auferlegte.
Summa: Die Überspannung und Übertreibung des Freiheitsprinzips wirkt immer und überall selbstzerstörerisch, d. h. die Freiheit wird dadurch notwendig zur Tyrannei, welche auf der schiefen Ebene der Willkür unaufhaltsam zur Anarchie hinunterrutscht. Diese rast und rumort dann eine Weile, d. h. gerade so lange bis die Menschen, des unerträglichen physischen und moralischen Elends überdrüssig, jeden, aber auch jeden als Helfer und Heiland begrüßen, der die Fähigkeit, den Willen und die Kraft hat, sie von dem Unerträglichen zu befreien, und darum und dann sehen wir Völker, welche vor kurzem noch den Freiheitsbaum umtanzt hatten, » ruere in servitium novum« (in eine neue Knechtschaft stürzen). Das ist auch eine jener vielen alten Geschichten, welche immer neu bleiben.