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Veranlaßt durch das Werk »Deutschland im 18. Jahrhundert«, von Karl Biedermann. 2 Teile in 4 Bänden, 1. Teil. Bd. 1 und 2 in 2. Auflage. Leipzig, J. J. Weber 1880.
Das liebe Heilige Römische Reich
Wie hält's nur noch zusammen?
Frosch im Faust.
Vor siebenundzwanzig Jahren hab' ich den ersten Teil dieses Buches unmittelbar nach seinem Erscheinen einer ausführlichen Anzeige unterzogen. Heute, nach Vollendung des trefflichen Werkes im Jahre 1880, komm' ich darauf zurück mit der Bemerkung, daß, wenn der Abschluß desselben bedauerlich lange sich verzögerte, Biedermanns kulturgeschichtliche Leistung nur um so mehr berechtigt ist, die Devise zu tragen: »Was lange währt, wird gut.«
Dazumal, als 1854 der erste Teil herausgekommen, war eine böse Zeit. Die Menschen von heute und gestern haben keine Vorstellung davon, was wir anderen, die wir den »Völkerfrühling« von 1848 mitgelebt, empfinden, erfahren und leiden mußten, als alle die holden Täuschungen und schmerzlichen Enttäuschungen des »tollen« Jahres in die stupide und brutale Rückwärtserei der ersten 1850er Jahre aufgegangen waren. Während wir nur allzu ausgiebige Gelegenheit hatten, die Wahrheit der berühmten Danteschen Terzine:
Wie scharfgesalzen fremdes Brot doch schmeckt,
Erfährst du – und wie über fremde Stiegen
Das Auf und Ab so bittern Kummer weckt –
bitter zu erproben, war daheim in Deutschland das deutsche Vaterland wiederum, ganz wie zur Zeit der Kamptz und Tztschoppe, zu einem Verbrechen geworden. Aber ihre ganze Tücke wagten die Werkzeuge der Reaktion dort erst dann zu entfalten, als drüben, jenseits des Rheins, der meineidige Sohn einer notorischen Nicht-Lukretia mit den Banditenfäusten seiner Spießgesellen La Belle France im Dunkel einer Dezembernacht an der Kehle gepackt und die Halberwürgte zu Boden geworfen hatte.
Ich erinnere mich, daß ich in meine deutsche Seele hinein mich schämte, als ich erfuhr, König Friedrich Wilhelm IV. hätte hoch aufgejubelt, als er die Botschaft von dem schandbaren Frevel empfangen. Ja, furchtbarer noch als das Verbrechen des Elenden, der mit Hilfe des Auswurfes von Frankreich seine Schmach hinter jener Blutdampfwolke der Boulevardschlächterei vom 4. Dezember 1851 zu verstecken suchte, war der Beifall, den mit verschwindend wenigen Ausnahmen das ganze offizielle und offiziöse Europa, vom Papst und von der Königin Viktoria bis zum Duodezdespötlein von Flachsenfingen und bis zum schmierigsten Reptil des Staatsanzeigers von Krähwinkel herab, diesem Verbrechen zollte. Daß alle Gauner, Spieler und Schwindler, alle vornehmen und geringen Spione und Spioninnen, Kupplerinnen und Hetären, alle feilen Skribenten und alles andere Menschenspülicht dem aus der Dreieinigkeit von Meineid, Raub und Mord geborenen Bastardzäsar zujauchzten, war ganz in der Ordnung. Dieses Geschmeiß hatte ja die richtige Vorauswitterung, das Second Empire werde eine riesige Pfütze von Verderbnis und Fäulnis sein, eine richtige » cour de miracles« der Escroquerie, der Völlerei und Unzucht, der Jecker-Bons und Goldbarren-Lotterien, der scham- und scheulosen Saturnalien und Lupanarien. Ich war damals, obwohl vom Schwabenalter nicht allzuweit mehr entfernt, noch so jung, daß ich mich über die Niederträchtigkeit der Menschen verwunderte, entrüstete und betrübte. Das hab' ich mir, seit ich hinter die Kulissen und in die Ankleidezimmer der Bühne, auf der die menschliche Tragikomödie spielt, blicken gelernt, gründlich abgewöhnt, und darum sehe ich nur noch mit einer aus Mitleid und Ironie gemischten Empfindung auf das wüste Armutszeugnis zurück, das die europäische Gesellschaft sich ausstellte, indem sie nahezu zwanzig Jahre lang vor einem nachgemachten Bonaparte scharwenzelte, kniete und räucherte. Vielleicht wähnte sie, es gereiche ihr zur Entschuldigung, daß sie annis 1814 und 1815 ja nur die echten Bonapartes mit dem Interdikt belegt hatte.
Uns anderen, für welche solche Selbsterniedrigung undenkbar, blieb nichts übrig, als nach Möglichkeit aus der schmerz- und trauervollen Gegenwart hinwegzuflüchten. Damals versenkte ich mich in die Vergangenheit meines Volkes und schrieb jene Bücher, denen, wie ich ja wohl ohne eitle Selbstberühmung sagen darf, meine Landsleute daheim und in der Fremde seit dreißig Jahren eine mein Verdienst weit übersteigende Liebe und Treue zugewandt und bewahrt haben. Solche Beschäftigung mit Gewesenem half über die Schwere des Seienden hinweg. Sie hatte auch das Tröstliche, die Überzeugung beizubringen, die Lebenskraft unseres Volkes, das so viele derartige Entwicklungsleiden überstanden hatte, müßte unverwüstlich sein – die Überzeugung, die Deutschen, welche einer so jammervollen politischen Geschichte zum Trotz eine große Kulturnation geworden, müßten auch noch eine Zukunft als Machtnation haben. Auch das Studium des ersten Teils von Biedermanns Buch vermochte diesen Glauben nicht zu erschüttern. Denn wenn die genaue, deutliche, quellenmäßige Darstellung, die der Verfasser von den politischen und sozialen Zuständen unseres Landes im 18. Jahrhundert gab, das ganze Jammersal dieser Zustände aufdeckte, so mußte der Anblick derselben jeden Sehenden überführen, daß es im 19. Jahrhundert denn doch besser, bedeutend besser geworden sei.
Und heute, wo ich das glücklich zum Abschluß gebrachte Biedermannsche Werk wiederum zur Hand nehme, um, soweit meine Stimme reicht, die Aufmerksamkeit patriotisch denkender Männer und deutschfühlender Frauen darauf zu lenken, wie ist es heute?
Nicht, wie es sein sollte und wohl auch sein könnte, aber jedenfalls besser als im Jahre 1854. Eine Vision, daß binnen 17 Jahren das wieder aufgerichtete Deutsche Reich ausgerufen werden würde, ausgerufen nach kolossalen gegen die Franzosen geführten Siegesschlägen, ausgerufen im Prunkschlosse jenes französischen Sultans, der der grimmigste Feind und erbarmungsloseste Schädiger unseres Volkes gewesen war, diese Vision war damals sogar als solche, als Traum und Ahnung rein unmöglich gewesen. Wer so kurz nach 1849, dem Jahre des Fluches, so kurz nach 1850 und 1851, den Jahren der Schmach, so etwas hätte prophezeien wollen, wäre mit Recht als der Narr der Narren verlacht worden.
Allerdings sind wir heute noch weitab vom Ziele. Was 1866 und mehr noch 1871 in Stunden versäumt worden, wird in Jahrzehnten nicht hereinzubringen sein. Die Reichsverfassung ist nur ein trauriger Notbehelf, ein Lotter- und Schlotterwerk. Der dynastischen Selbstsucht wie der partikularistischen Borniertheit sind die beklagenswertesten Einräumungen gemacht worden – Einräumungen, welche, wie ja leicht vorauszusehen war, keineswegs Dankbarkeit erzeugt haben. Die Karte des Deutschen Reiches zeigt noch immer ein Dutzend Farben zu viel. Und sodann dieser schreiende Widerspruch zwischen der Gewährung des allgemeinen Stimmrechts und der heftigen Verwerfung des Parlamentarismus, welcher doch – mag im übrigen sein Wert oder Unwert sein, wie er wollte – die unumgängliche Schlußfolgerung aus jener Prämisse ist! Man kann dem deutschen Volk doch nicht zumuten, lauter Ja nickende Pagoden in den Reichstag zu schicken, und wenn die Schreibsklaven Klagelieder über das Parteiwesen singen, so vergessen wir darum doch nicht, daß Parteien die Lungen sind, womit freie Staaten atmen. Aber gibt es nicht auch tuberkulöse Lungen? Gewiß, das gibt es, und es mag schon sein, daß an diesem oder jenem rechten oder linken Flügel der in Rede stehenden Lungen da oder dort ein häßliches Tuberkel sitzt. Allein trotzdem wird das parlamentaristische Experiment gemacht werden müssen, es wäre denn, daß man zum nackten, aber wenigstens ehrlichen und aufrichtigen Absolutismus zurückkehren wollte, was ja in Deutschland und vorab in Preußen weiter keine oder kaum nennenswerte Schwierigkeiten hätte. Mit dem grundverlogenen, schamlos unsittlichen und noch dazu albernen und lächerlichen Scheinkonstitutionalismus – abscheulicher Bandwurm von Wort! – geht es nicht mehr. Die Möglichkeit, das konstitutionell-parlamentarische Regiment könne ein aufrichtiges und ehrliches sein, vorausgesetzt – was freilich eine ungeheuer kecke Voraussetzung ist –, muß es anderseits als absurd bezeichnet werden, hinter diesem Regiment das Schreckgespenst der Revolution auftauchen zu lassen. Wir Deutsche sind ja Reflexionsmenschen, Grübler, Tiftler, wir haben nicht das Zeug zum Revolutionmachen und denken auch gar nicht daran, falls man so freundlich ist, uns auch nur halbwegs bei guter Laune zu erhalten. Uns fehlt ja die elementare Leidenschaft, die initiatorische Sprungfertigkeit. Wir müssen, um überhaupt voranzukommen, Schritt für Schritt vorwärts gehen, und daß und wie wir trotzdem vorwärts gegangen, wird jedem klar werden, welcher vergleichen will, wie unser Land vor hundert Jahren war und wie es jetzt ist.
Auf den folgenden Blättern will ich, immer an der Hand Biedermanns versuchen, geneigte Leser und ernste Leserinnen in das Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts zurückzuführen – selbstverständlich auf nach Möglichkeit gekürzten Wegen. Es ist dies, will mir scheinen, die beste Art und Weise, einer so schwierigen und so gewissenhaft getanen Arbeit gerecht zu werden – einer Arbeit, deren Frucht fraglos eine Zierde der deutschen Kulturhistorik ausmacht. Der Verfasser hat sich keine Mühe und keinen Zeitaufwand verdrießen lassen, um das ungeheure Material zusammenzubringen, welches der Aufbau seines Werkes erforderte. Schon an die Sichtung, Ordnung und Zurhandstellung dieses Materials mußten Jahre gewendet werden. Die Kulturgeschichtschreibung darf sich bekanntlich nicht damit begnügen, die Oberfläche der Erscheinungen zu veranschaulichen und zu kennzeichnen. Sie muß überall den treibenden Kräften in die Tiefe nachgehen. Sie hat den tausenderlei Motiven, welche zur Schaffung des Gesamtbildes eines Volksdaseins zu dieser oder jener bestimmten Zeit zusammenwirken, geduldig nachzuspüren, auf Pfaden, welche zumeist mühsamer zu begehen sind, als die Wege, welche durch wohlgeordnete Archive führen oder gar durch jene Rot-, Gelb-, Grün- und Blaubücher, die gegenwärtig so großes Ansehen genießen und in die, beiläufig bemerkt, doch nur hineinkommt, was einem zur Zeit herrschenden Minister hineinzutun beliebt und wie es hineinzutun ihm »opportun« scheint. Um jene kleinen, unscheinbaren und doch hochbedeutsamen Züge beizubringen, welche die Gesellschaft dieser oder jener Periode oft besser charakterisieren als breitspurig einhertretende Allerweltstatsachen, muß der Kulturhistoriker häufig ganze Steppen bedruckten Papiers durchwandern. Auch unser Verfasser hat dieser Pflicht sich unterzogen, und die geschickte Art, wie er solche Züge zu finden und zu verwenden wußte, bildet gerade einen der vielen Vorzüge seines Werkes. Auch der Mängel ermangelt es nicht, wie denn überhaupt nur der hochgradige Professorendünkel und eine schon stark in den Größenwahn spielende Doktorenhochnäsigkeit sich einbilden mögen, »fehlerlose Ungeheuer« von Büchern hervorbringen zu können. Für das, was als der Hauptmangel des Werkes zu bezeichnen sein dürfte, nämlich das Mißverhältnis des zweiten, des literarhistorischen Teils zum ersten, zum sozialhistorischen, kann der Verfasser freilich die gewichtigste Entschuldigung anführen, daß ja zu der Zeit, von der er handelt, die Deutschen, wenigstens in ihren bedeutendsten Lebensäußerungen, ein vorzugsweise literarisches Volk gewesen seien.
Wie selbstverständlich, hebt unser Verfasser seine Untersuchung und Darstellung damit an, daß er von dem territorialen Umfang, dem Bevölkerungsbestand und der staatlichen Einteilung Deutschlands im 18. Jahrhundert handelt. Hier mußte auf den traurigen Westfälischen Frieden zurückgegangen und eine ganze Reihe von Einbußen an Land und Leuten verzeichnet werden. Wie war doch vom späteren Mittelalter an die deutsche Nation an Macht und Machtbewußtsein herabgekommen! Sie, im früheren Mittelalter die wirkliche und einzige Großmacht Europas, hatte sich, im 18. Jahrhundert angelangt, nach und nach Livland, Kurland, Pommern und Rügen, die Niederlande und die Schweiz, Elsaß und Lothringen entreißen lassen. Und dabei führten die Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« stets den Titel: »Allzeit Mehrer des Reichs« – mehr noch eine bittere Satire als ein kurialstilistischer Schnörkel.
Die Bevölkerung wohnte in 2300 Städten, 3000 Marktflecken, nahezu 100 000 Dörfern und Weilern und auf ungefähr 40 000 Edel- und Bauernhöfen. Ihre Gesamtzahl kann nicht genau bestimmt werden. Das Fazit der Wahrscheinlichkeitsberechnung schwankt zwischen 26 und 30 Millionen. Zur Markierung der staatlichen Ein- oder vielmehr Verteilung dieser Bevölkerung würden alle Regenbogenfarben in hundertfacher Variation nicht ausreichen. Das Gebiet, das innerhalb und außerhalb der zehn Reichskreise lag, machte zusammen eine ungeheuerliche Kuriositätenkammer voll von politischen Mißbildungen aus. Da war z. B. der »schwäbische« Kreis, welcher das heutige Württemberg, das heute bayrische Schwaben und die damalige Markgrafschaft Baden umfaßte. Abgesehen davon, daß durch diesen Kreis die sogenannten »vorderösterreichischen« Landschaften sich hinschlängelten, war er verteilt unter 97 Herren, worunter 4 geistliche Fürsten (der Bischof von Augsburg, der Bischof von Konstanz, der Fürstabt von Kempten und der Propst von Ellwangen), 14 weltliche Fürsten (Herzog von Württemberg, Markgraf von Baden, Fürsten von Öttingen, Fürstenberg, Hohenzollern), ferner 23 Prälaten, 25 Grafen und Freiherrn, endlich 31 Reichsstädte – anderwärts gab es auch »Reichsdörfer«. Unter diesen »Staaten« des Schwabenlandes gab es welche von ganzen 1600 oder 1300, ja von 1000 Einwohnern. Aber die kleinen litten am Größenwahn nicht weniger als die größeren. An den öffentlichen Gebäuden des Reichsstädtchens Nördlingen las man die stolze, römerhafte Inschrift: » Senatus populusque Nordlingensis« und der Stadtschreiber des Reichsstädtleins Bopfingen führte den Titel »Kanzler« so gut wie der von Nürnberg, Augsburg oder Ulm. An der Buntscheckigkeit innerhalb der Rahmen der zehn Reichskreise war es aber noch nicht genug, denn in diese Kreise waren als »reichsunmittelbar« noch hineingesprenkelt 30 »Herrschaften«, 5 »gewerkschaftliche« Orte, 5 Reichsdörfer und zwischen 1400 und 1500 »reichsritterschaftliche« Güter. Alles zusammen eine wahrhaft Fischartsche Staatenklitterung! Und diese Hanswurstjacke von Reich hatte nicht etwa nur eine lächerliche, sondern auch eine traurige Seite, eine sehr traurige. Denn, wohlverstanden, die Inhaber der Spottgeburten von Miniaturstaaten handhabten »die meisten Souveränitätsrechte mit derselben Unbeschränktheit wie die großen ›Reichsstände‹, sie hemmten den Verkehr ebenso durch Zölle, Handelsverbote und Gewerbemonopole wie ihre mächtigeren Nachbarn, die Fürsten und Kurfürsten; sie erhoben dieselben Ansprüche auf den Gehorsam ihrer ›Landesuntertanen‹, auf Steuern und Dienste von seiten derselben, und selbst das höchste und landesherrliche Attribut, das Recht über Leben und Tod, stand ihnen oft zu, wie die vielen an den Sitzen reichsritterlicher Herrschaft aufgerichteten Galgen, die Wahrzeichen dieses hochgehaltenen Souveranitätsrechts, bezeugten«. Dieser Umstand, d. h. das Recht des »Blutbanns« in den Händen zahlloser Zaunkönige ist, nebenbei gesagt, eine der Hauptursachen gewesen, daß in deutschen Landen der Greuel des Hexenprozesses ärger gerast hat als anderwärts. Der Hexenprozeß war keineswegs nur eine gräßliche Schrulle theologischer und juristischer Stirnverbretterung, sondern auch, namentlich im 16. und 17. Jahrhundert, ein sehr einträgliches »landesherrliches« Geschäft. Ganz in der Ordnung also, daß jeder Staat und jedes Stätchen, jede Stadt und jedes Städtchen im unendlich zersplitterten Deutschen Reiche bis herab zum »reichsunmittelbaren« Krautjunkerhof ihr regelrechtes Hexenbrennen haben wollten.
Über dem Wirrsal von Ländern und Leuten, über dem größer-, mittel-, kleiner- und kleinstaatlichen Gewimmel und Gewusel schwebte die Reichsverfassung. Nicht wie der Geist über dem Wasser, sondern wie ein Spinnengewebe über Moder. Die mittelalterliche Reichsherrlichkeit war schon mit Friedrich dem Rotbart zu Ende gegangen. Daß dann nach dem Untergang der staufischen Dynastie und der »schrecklichen kaiserlosen« Zeit ein machtloser schweizerischer Graf auf den deutschen Königsstuhl berufen wurde, ist ein unermeßliches Unglück für unser Land gewesen. Denn das deutsche Königtum oder die römische Kaiserschaft war ja fürder nur noch die Handhabe zur Gründung einer Hausmacht für die neue Dynastie. Die deutsche Geschichte war, wie auch Biedermann sie richtig faßt, allzeit, schon von den Tagen Armins und Marbods her, ein unausgesetzter Kampf zwischen dem zentripetalen und dem zentrifugalen Prinzip, zwischen dem nationalen Einheitsdrang und der partikularistischen Selbstsucht, zwischen Monarchie und Anarchie, welche letztere sich als Aristokratie aufspielte. Während drüben in Frankreich das Königtum, indem es im Bunde mit den Städtebürgerschaften die Aristokratie zu Boden trat, die nationale Einheit begründete und festigte, war hüben in Deutschland das Kaisertum der Habsburger selber der ausgesprochene Partikularismus. Kaiser Maximilian I. hat es frank und frei herausgesagt: »Ich bin vor allem Österreich verpflichtet.« Natürlich ahmten dann alle die Zaunkönige das partikularistische Gebaren des habsburgischen Doppeladlers nach, soweit immer ihre Mittel es ihnen erlaubten. Die Reichsregimentsmaschine, vom Anfang an unglücklich konstruiert, wurde nachgerade zu einem wahren Monstrum von Ungefügigkeit und Kompliziertheit. Setzte man das ungeheuerliche Ding in Bewegung, so hob ein furchtbares Gepolter und Geprüfte an, aber die einzelnen Teile, die Räder, Walzen, Stifte, Stränge, Kurbeln und Gewichte der Maschine arbeiteten nicht zusammen, sondern zumeist gegeneinander. Sooft irgendwie ein Verzicht auf partikularistische Interessen oder auch nur auf Absonderlichkeiten gefordert wurde, erhob sich das Geschrei von »Teutscher Stände Libertät«, wie die amtliche Formel lautete. Dahinter barg sich die polakisch-anarchische Wirtschaft der deutschen Fürstenpolitik. Diese Wirtschaft erhielt ihre sozusagen staats- und völkerrechtliche Bestätigung und Weihung durch die sogenannte Reformation und durch den vom Ausland, vorab von Frankreich, diktierten Westfälischen Frieden, nach jener beispiellosen dreißigjährigen Kriegsfurie, welche unser unglückliches Land zu einer Wüstenei gemacht und dessen Bevölkerung von etwa 18 Millionen auf 4 herabgebracht hatte. Daß nicht allein die Ohnmacht der Reichsgewalt, sondern auch das klägliche Sinken des Nationalgeistes im 17. und 18. Jahrhundert eine Folge der rohselbstsüchtigen Fürstenpolitik gewesen, kann gar keinem Zweifel unterstellt werden. Wie sich schließlich die staatsrechtlichen Begriffe völlig verwirrt, ja in das gerade Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung verkehrt hatten, dafür liefert einen grellen Beweis folgende Tatsache: Friedrich der Große brauchte, auf die herrschende Anschauung gestützt, keinen Anstand zu nehmen, den von ihm im Jahre 1785 gestifteten Fürstenbund, der doch nichts bezweckte, als die »Libertät« der deutschen Dynasten gegen die befürchteten »Übergriffe« der kaiserlichen Gewalt zu schirmen, im Lichte eines verfassungsmäßigen Bündnisses, eines volkstümlichen und gemeinnützigen Unternehmens darzustellen, ja sogar noch weiter zu gehen, d. h. förmlich an die auswärtigen Mächte zu appellieren und deren Besorgnisse vor einem monarchisch festgeeinten und folglich starken Deutschland wachzurufen. Das ist, meine ich, ein kennzeichnend hohenzollersches Seitenstück zu dem vorhin angezogenen habsburgischen Ausspruch.
Daß unter solchen Umständen die Reichsverwaltung eine elende sein mußte, ist klar. In alle Einzelheiten derselben hier einzugehen, hieße Papier und Druckerschwärze verschwenden. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, dessen Kaiser als solcher eine Jahreseinnahme von ganzen 8000, sage achttausend Talern hatte, war zum Spottlachen Europas geworden. Hauptsächlich infolge der Jammerseligkeit des Reichskriegswesens. Das Reichsheer war, sogar bei Ausschreibung eines dreifachen sogenannten »Simplum« (120 000 Mann), tatsächlich nicht selten kaum 20 000 Mann stark. Und das waren noch dazu Leute, die mit den Rekruten Falstaffs eine bedenkliche Ähnlichkeit hatten. Und wie waren sie geübt, d. h. nicht geübt, was hatten sie für Offiziere, wie waren sie gerüstet und bewaffnet! Es ist bekannt, daß z. B. in der Schlacht von Roßbach von 100 »Schießprügeln« der Reichstruppen nicht 20 losgegangen sind. Dieselbe grenzenlose Verrottung wie im Heerwesen auch in der Reichspolizei, in der Reichsjustiz, in der Reichsfinanzerei, in allem und jedem. Schon zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges hatte der schwedische Minister Oxenstierna der deutschen Reichsverfassung den Namen » Confusio« geschaffen. Jetzt, im 18. Jahrhundert, war die Konfusion zu einem Chaos geworden. In diesem Chaos wühlten und ruinierten die österreichische Partei und die preußische Partei wider einander. Undeutsch waren beide ganz und gar. Beide verschworen sich, jene an Frankreich, diese an Rußland gelehnt, mit dem Ausland zur Vernichtung der nationalen Macht nicht nur, sondern auch des nationalen Bewußtseins. Der Wiener Hof ließ durch einen seiner Publizisten erklären, »Österreich müsse entweder an der Spitze Deutschlands stehen oder aber es müsse und werde Deutschlands Feind sein«. Der Berliner Aufklärer Nicolai seinerseits bezeichnte die Idee eines deutschen Nationalgeistes als ein »politisches Unding« und schalt das Bestreben, die Gemüter für eine solche Idee zu erwärmen, einen »hämischen Parteizweck«. Der Wiener Hof errichtete gegen den neuerwachten und schöpferisch aufstrebenden deutschen Geist eine chinesische Mauer der Abwehr, und Friedrich der Große erfand die » nation prussienne«.
Angewidert von der trostlosen Wirklichkeit, in der sich ihnen nur das ekelhafte Schauspiel einer allgemeinen Auflösung darbot, bestiegen unsere Besten, die Lessing, Kant, Herder, Goethe, Schiller, den Luftballon der Humanitären Illusion, um ins Wölkenkuckucksheim der Weltbllrgerlichkeit emporzusteigen. Die von dort herab gegebenen Orakel muten uns heute doch ganz eigen und keineswegs sympathisch an. Wenn Lessing sich berühmte: »Ich habe von der Liebe zum Vaterlande keinen Begriff und sie scheint mir höchstens eine heroische Schwachheit zu sein, die ich gern entbehre« – oder wenn Schiller an Jacobi schrieb: »Wir wollen dem Leibe nach Bürger unserer Zeit sein, weil es nicht anders sein kann; sonst aber und dem Geiste nach ist es das Vorrecht und die Pflicht des Philosophen wie des Dichters, zu keinem Volke und zu keiner Zeit zu gehören, sondern im eigentlichen Sinne des Wortes der Zeitgenosse aller Zeiten zu sein« – oder endlich wenn Goethe seinem Volke den nationalen Beruf und eine nationale Zukunft mittels des Xenions:
»Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens;
Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus –«
geradezu absprach, ja, sozusagen, verbot, so waren das um so traurigere Verirrungen der Wolkenkuckucksheimerei, als das »reine, freie und schöne Menschentum« der Griechen, auf welches man die Deutschen fortwährend verwies, eigentlich doch nur eine Lüge gewesen. Denn, wenn es jemals ein rassenhaftes, auf Stamm und Blut pochendes, von Nationalgefühl und Nationalstolz ganz erfülltes Volk gegeben hat, so waren das gerade die Griechen, die sich so wenig um »Menschenbruderschaft«, »Weltbürgertum« und dergleichen Flunkereien mehr kümmerten, daß sie ausschließlich nur sich selber für Menschen, alle übrigen Völker aber für »Barbaren« hielten. Unsere Klassiker hatten sich eben ein Ideal von Griechentum zurechtgemacht und ritten so beharrlich darauf herum, wie in unseren Tagen Heinrich der Aweiundsiebzigste von Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein auf seinem berühmten Prinzip In einem Erlaß Heinrichs LXXII. vom 12. Oktober 1844 heißt es: »Seit 20 Jahren reite ich auf einem Prinzip herum …« Der Herausgeber..
Schiller freilich, weil er von allen den meisten historischen Sinn besaß, bekam die Reiterei schließlich satt. Ihm ging, als er sah, daß und wie Bonaparte das kosmopolitische Nebelbild zur brutalen Tatsache eines Weltdespotismus machen wollte und teilweise wirklich machte, die Erkenntnis auf, daß man allerdings zu einem Volke gehören müßte, um ein rechter und ganzer Mensch sein zu können, und so hat er denn schon in der »Jungfrau von Orleans«, großartiger aber noch und eindringlicher im »Teil« die Idee des Vaterlandes, das Gefühl des Volkstums und der Nationalität verherrlicht. Goethe dagegen ist sein Leben lang »Weltbürger« geblieben, und daraus mag sich auch seine klägliche Haltung im Jahre 1813 erklären, welche nur die Goethepfaffen verzeihlich finden können. Den ersten Mann seiner Nation kümmerte es wenig oder gar nicht, daß seines Vaterlandes Sein oder Nichtsein auf dem Spiele stand. Er beschäftigte sich lieber mit China als mit Deutschland, und wenn er sich später auf »allerhöchsten« Befehlswunsch »alleruntertänigst« herbeiließ, zur Siegesfeier sein von allegorischem Frost starrendes Festspiel »Des Epimenides Erwachen« anzufertigen, so vermochte er damit nicht das Wort gutzumachen, das er, der blinde Bewunderer des Todfeindes und Zwingherrn des deutschen Volkes, im April 1813 zu Dresden im Hause Körners zu Stein und zu Arndt gesprochen: »Schüttelt nur eure Ketten! Der Mann (Napoleon) ist euch zu groß! Ihr werdet sie nicht zerbrechen.« Sie wurden aber doch zerbrochen, weil es zum Glück in unserm Lande Hunderttausende von Männern gab, die von deutschem Rechte und deutscher Pflicht einer fremden Zwingherrschaft gegenüber andere, ganz andere Vorstellungen hatten als der »deutscheste« Dichter.
Das Reichselend vervielfältigte sich in den einzelnen Staaten und Stätchen ins Unendliche. Suchte doch jeder Despot und jedes Despötlein im Deutschen Reiche seine Bestimmung und seine Ehre darin, es nach Kräften und über seine, d. h. über seines unglücklichen Landes oder Ländchens Kräfte dem sklavisch nachgeahmten Meister- und Musterdespoten von Versailles nachzutun. Das » L'état c'est Moi!« (Der Staat bin Ich!) wurde unzählige Male ganz plump ins Deutsche übersetzt. Die »Landesherren« waren das, was sie hießen, im verwegensten Sinne des Wortes. Dieses System des brutalen Despotismus hat Biedermann bündig und treffend gekennzeichnet: »Es gab im Staate nur Herren und Untertanen, nur einen absolut gebietenden und unwiderstehlichen Willen und eine rechtlose Schar blindlings gehorchender und duldender Sklaven; auf der einen Seite eine kleine Minderheit Begünstigter – den Fürsten und seine Umgebung –, welchen alle natürlichen Güterquellen des Landes und alle mühsam errungenen Früchte der Volksarbeit zum ausschweifendsten Genusse offen lagen, und auf der anderen Seite die Masse des Volkes, berufen und verpflichtet, für die Befriedigung der Gelüste jener Minorität zu arbeiten, zu zahlen, Lasten zu tragen und Not zu leiden.«
Wie allbekannt, ist um die Mitte des 18. Jahrhunderts an die Stelle dieses brutalen Despotismus der sogenannte aufgeklärte oder sublimierte getreten. Er floß zunächst aus der Einsicht, daß man, um die Schafschur ergiebiger zu machen, doch einigermaßen für die Schafe von Untertanen Sorge tragen müßte. Dazu kam der Einfluß der »Philosophie des Jahrhunderts«, welche aufklärerische und humanitäre Ideen mählich in Schwung und Mode zu bringen begann. Typische Figuren und Beispielgeber des aufgeklärten Despotismus waren, wie jeder weiß, Friedrich II. und Joseph II. Despoten sind beide gewesen, aber eben »sublimierte«. Der von Preußen sagte: »Der Fürst ist für die Gesellschaft, was der Kopf für den Körper ist: er muß sehen, denken, handeln für die ganze Gemeinschaft, um ihr alle Vorteile, deren sie fähig ist, zu verschaffen. Will man, daß die Monarchie den Sieg behalte über die Republik, so muß der Monarch tätig und unbescholten sein und alle Kräfte zusammennehmen, um seinen Pflichten zu genügen.« Der von Österreich erklärte: »Ein Reich, das ich regiere, muß nach meinen Grundsätzen beherrscht, Vorurteil, Fanatismus, Parteilichkeit, Sklaverei des Geistes unterdrückt und jeder meiner Untertanen in den Genuß seiner angeborenen Freiheit gesetzt werden.« Man sieht, von dem »Der Staat bin Ich!« des vierzehnten Ludwig bis zu der Friedrichschen und Josephschen Auffassung der Herrscherstellung und Herrscherpflicht war ein ungeheurer Sprung. Aber bei genauerem Zusehen erkennt man unschwer, daß auch Friedrichs und Josephs Staats- und Regentenideal über die Fläche der rationellen Schafzucht nicht emporragte. Immerhin ist Joseph wie der menschlichere Mensch so auch der freisinnigere Mann von beiden gewesen. Man vergleiche nur ihre Vorschriften über die Handhabung der Pressepolizei. Biedermann durfte mit Recht sagen: »Joseph hat während seiner kaum zehnjährigen Regierung mehr für die Presse getan als Friedrich während einer beinahe fünfmal so langen Zeit, nicht bloß in Anbetracht des viel gedrückteren Zustandes, in welchem er die Presse fand, sondern auch in bezug auf die Freiheit, die er ihr gewährte.« Der »Philosoph von Sanssouci« verstand es als der kühle Kopf, der er war, ganz vortrefflich, seinen stets wachsamen und eifersüchtigen Despotismus, der keinerlei Selbständigkeit des Denkens und Wollens neben sich duldete, hinter liberalen Phrasen zu verbergen. Joseph, der mit Bezugnahme auf die Dynastie, aus welcher er stammte, mit viel besserem Grund als Friedrich der »Einzige« zu heißen verdiente, trug ein großes und heißes Herz in der Brust. Natürlich hat es Friedrich weiter gebracht als Joseph: der Kopf bringt es ja stets weiter als das Herz.
Das von den beiden großen aufgeklärten Despoten gegebene Beispiel fand Nachahmung bei den kleinen. Doch wäre es ein Irrtum, wollte man glauben, daß den aufklärerischen und freisinnigen Verheißungen und Redensarten, welche dazumal in deutschen Landen von den Thronen und Thrönlein herabschwirrten, durchweg Erfüllungen und Taten entsprochen hätten. Gar manchem Landesherrn kam es auch schon zu mühselig vor, die aufklärerische Phraseologie zu handhaben, und sie und ihre sämtlichen Beamten fuhren daher fort, im althergebrachten Rüpelstil zu »herrschen« und zu amten. In der Mehrzahl der deutschen Staaten und Stätchen war es bis zum Ende des Jahrhunderts mit dem Verwaltungs-, Justiz- und Finanzwesen aller »Aufklärung« oder Scheinaufklärung zum Trotz geradezu kläglich bestellt. Am traurigsten und zugleich am burleskesten ging es aber in den kleineren und kleinsten Sultanaten her. Des bekannten Ritters von Lang »Memoiren« sind eine wahre Fundgrube von hierher gehörigen charakteristisch-lächerlichen Zügen. Der Geschäftsschlendrian war überall märchenhaft, am märchenhaftesten in Österreich, obwohl es allenthalben von Beamten aller Grade und Schattierungen wimmelte. Die Verderbtheit, Parteilichkeit und Bestechlichkeit der Beamtenwelt, von unten bis oben galten für selbstverständlich. Das Sprichwort: »Schmieren und salben hilft allenthalben« – wurde ganz scham- und scheulos praktiziert. Die lümmelhaftesten Beamten züchtete Bayern. Die Sprache dieser Herren war ein genaues Abbild der Ausdrucksweise des »leutseligen« Kurfürsten, späteren Königs Max, welcher bekanntlich stets mit seinem Lieblingswort »Scheißkerle« um sich warf. Die aus dem Mittelalter herabgekommenen landständischen Verfassungen waren vom fürstlichen Absolutismus entweder ganz weggefegt oder doch zu einem jämmerlichen Possenspiel herabgebracht. Wo etwa die Landstände noch einige Bedeutung sich bewahrt hatten, wie z. B. im Herzogtum Württemberg, waren sie doch nur eine wahre Spottgeburt von Volksvertretung und kaum etwas anderes als eine milchende Kuh für eine gierige Vetter- und Basenschaft.
Wenn nun also das Regiment der Landesherren durchgängig das Gepräge persönlicher Willkür trug, so darf man nicht vergessen, daß dies am Ende aller Enden nur möglich war, weil die Untertanen nichts anderes wußten und wollten. Man vergegenwärtige sich nur die öffentliche Meinung, wie sie vor hundert Jahren in der deutschen Publizistik zur Ausprägung kam. Da begegnen uns überall die absonderlichsten Schwankungen und Schwenkungen, die uns klarmachen, wie ungeheuer schwer es unseren Vorfahren wurde, erst als Menschen und dann als Staatsbürger sich fühlen zu lernen. Das Sklavenbewußtsein der deutschen Philisterwelt hatte sich so breit und tief eingewurzelt, daß selbst verhältnismäßig vorgeschrittene Publizisten und Autoren wie Schlözer, Möser, Weckherlin, Moser, Wieland keineswegs auch nur halb, geschweige ganz davon loszukommen vermochten. Schlözer vertrat nachdrücklich die Lehre von der Alleinweisheit der Regenten und erklärte es für eine »lächerliche Einbildung«, die Ansichten einer Behörde beurteilen oder berichtigen zu wollen. Weckherlin nannte die Amerikaner, welche sich von England unabhängig machen wollten, »Rasende«. Moser hieß jede Antastung der Lehre von dem göttlichen Rechte der Fürsten einen »Frevel«. Wieland sah eine »Widersinnigkeit« darin, wenn man den Völkern das Recht der Beurteilung von Regierungsmaßnahmen zuerkennen wollte. Allerdings haben dieselben Wortführer anderwärts auch wieder ganz anders sich ausgelassen, aber gerade das zeigt uns die Prinzip- und Haltlosigkeit der deutschen Presse von damals, das unsichere Umhertappen und Herumtasten der öffentlichen Meinung. Mitunter verfiel diese aus dem Sprechen in kindisches Lallen. So in jenem Artikel der »Berliner Monatschrift« von 1787, der »den Fürsten einen anderen Weg zur Unsterblichkeit« auftat, indem er ihnen hochernsthaft anriet, ihre Völker durch allmähliche Erziehung zur Selbstregierung für die Republik vorzubereiten und, wenn dieses getan wäre, ihren Gewalten freiwillig zu entsagen und republikanische Verfassungen zu proklamieren.
Derartige Phantasterei kennzeichnet, zusammengehalten mit der Knechtschaffenheit des deutschen Volksgeistes von damals, die grelle Gegensätzlichkeit einer Zeit, die man die Epoche der Kontraste nennen könnte. Man denke nur, daß wenige Jahre, nachdem ein deutscher Autor geäußert: »Schwerlich wird jemals ein Genie aufstehen, dessen Befehle unseren Gehorsam ermüden könnten« – und ein anderer, Sturz, in seiner Abhandlung »Uber den Vaterlandsstolz« wehmütig gesagt hatte: »Träume nicht von Freiheit, solange wir auf jeden Wink wie Cäsars Knechte ausrufen:
›Gegen das Leben der Brüder, ja gegen die eigene Mutter
Wenn er's befiehlt, wir führen den Streich, ob die Hand sich auch sträube‹« –
Schiller seine »Räuber« und Kant seine »Kritik der reinen Vernunft« veröffentlichte. Aber freilich, solche und ähnliche Offenbarungen des wiedererwachten deutschen Genius berührten einstweilen die Volksmassen gar nicht. Diese schleppten ihr mühseliges und beladenes Dasein auf den gewohnten Leidenswegen weiter, zugleich im Zwange der Monarchie und im Banne der Hierarchie. Was diese und ihren betriebsamen Einfluß auf das Volksdasein angeht, so hatten, schwäbisch zu reden, die römische und die lutherische nebeneinander feil, d. h. keine hatte der anderen etwas vorzuwerfen. Ebensowenig die Jesuiterei da und die Pietisterei dort. Die theologische Verbohrtheit der ungeheuren Mehrheit der Deutschen hatte seit der Reformation nicht ab-, sondern gewaltig zugenommen.
Bei Gelegenheit der Erörterung dieser Verhältnisse berührt Biedermann mit sanfter Hand die Frage nach der Einwirkung von seiten der Reformation und des Reformators par excellence auf den öffentlichen Geist und die politische Anschauung und Gesinnung unseres Volkes. Ich meinesteils, dem die Unfehlbarkeit des Papstes von Wittenberg und die Infallibilität des Papstes von Rom von jeher gleich hoch, d. h. gleich niedrig stand, will dieses Problem mit etwas rauherem Griff anfassen und eine ganze Reihe von »inopportunen«, ja dem sogenannten »protestantischen Bewußtsein« höchst unbequemen Fragen hier wiederholen, welche ich schon anderwärts vor einem Menschenalter gestellt. Welche Bewandtnis hatte es denn eigentlich mit der durch Luther vollbrachten »religiösen Befreiung« unseres Volkes? Besteht die »Befreiung« eines Volkes etwa darin, daß man ihm das »hölzerne Joch des Papsttums« abnimmt und dafür das »eiserne des Bibelbuchstabens« auflegt? Waren die Tausende von lutherischen Päpstlein toleranter als der römische Papst? War die lutherische Bonzenschaft der freien Forschung geneigter als die katholische? War nicht Luther seinen Nachfolgern mit dem Beispiel flegelhafter Unduldsamkeit vorangegangen? Hat die lutherische Dogmatik den Forderungen der Vernunft und Wissenschaft mehr Rechnung getragen als die römische? Hat das Luthertum das deutsche Volk humanisiert? War das furchtbarste Brandmal der christlichen Welt, der Hexenprozeß, dem protestantischen Deutschland etwa weniger stark auf- und eingedrückt als dem katholischen? Hat nicht Luther, lange vor dem preußischen Minister Rochow, den »beschränkten Untertanenverstand« erfunden, und war diese Erfindung mit der kirchlichen Zerspaltung der Nation nicht etwas zu teuer erkauft? Haben deutsche Fürsten wirklich nur aus rein religiösem Drange das Luthertum angenommen? Hat Luther seine »Reformation« nicht auf Gnade und Ungnade der fürstlichen Gewalt überliefert? Hat er, seine Reformation um jeden Preis zu sichern, den partikularistischen und zentrifugalen Territorialherrn nicht die bedeutendsten Einräumungen gemacht? Hat er, ohne allen politischen Sinn, Verstand und Takt, nicht überall für die Fürsten und gegen das Volk Partei genommen? Wer hat gegen die armen Bauern, welche die »evangelische Freiheit« nicht allein abstraktdogmatisch, sondern auch konkret-politisch und sozial verstanden wissen wollten und durch grausamsten Junker- und Pfaffendruck zur Empörung getrieben worden waren, so wutschäumend gehetzt wie Luther? Hat er in der satten Herzlosigkeit eines wohlgenährten Professors der Theologie nicht gepredigt: »Der gemeine Mann muß mit Bürden beladen sein, sonst wird er zu mutwillig«? Hat er seine Gefälligkeit gegen die hohen Herrschaften nicht bis zur förmlichen Gutheißung einer fürstlichen Bigamie getrieben?
Wer aber will hergehen und vertuschen oder gar leugnen, daß die lutherische Geistlichkeit, in sklavischer Nachahmung ihres Meisters, zur politischen Verknechtung unseres Volkes das Menschenmögliche getan hat? Ausnahmen gab es, jawohl, aber diese bestätigten auch hier, wie überall, nur die Regel. Die Väter der Gesellschaft Jesu waren mit Grund berühmt um ihrer Kunst willen, den menschlichen Trieb und Drang nach Freiheit mit den Wurzeln auszureißen, jede selbständige Willensregung im Menschen zu vernichten und die Persönlichkeiten zu unbedingt gehorsamen Werkzeugen der herrschenden Autoritäten zu formen, welche ja hinwiederum nur Marionetten an den von ihnen, den Jesuiten, gelenkten Drähten waren. Dieser Ruhm ließ die lutherischen »Diener am Worte« nicht schlafen. Sie wollten an Servilismus niemand nachstehen, insbesondere ihren Schaufelhüte tragenden Todfeinden nicht, und um sich als die auszuweisen, welche sie waren, schrieb der lutherische Prälat Pfaff in Tübingen um 1750 eigens ein Buch, worin er den historischen Beweis antrat und führte, daß vor allen übrigen Kirchen der lutherischen die Palme der Knechtschaffenheit zukäme. Noch 1790 ließ ein lutherischer Geistlicher, Ewald geheißen, eine Schrift ausgehen, welche die Lehre vom unbedingten Untertanengehorsam predigte. Herder hat daher wohl nicht ohne einen strafenden Seitenblick auf seine zeitgenössischen Amtsbrüder im vierten Teil seiner »Ideen zur Geschichte der Menschheit« den Satz geschrieben: »Fast immer waren Geistliche die, deren sich die Könige zur Gründung ihrer despotischen Macht bedienten; wenn sie mit Geschenken und Vorteilen abgefunden waren, so durften andere wohl aufgeopfert werden.« Redlich wetteiferte übrigens mit der Geistlichkeit beider Konfessionen in sklavischer Niedertracht das zünftige Gelehrtentum des 18. Jahrhunderts. Ich erinnere nur an die grotesken und grausamen Korporalsspäße, welche die Faßmann, Gundling und Morgenstern am Hofe Friedrich Wilhelms I. mit sich treiben ließen. Dann daran, wie die Professorenschaft der Universität Leipzig mitsamt dem »großen« Gottsched vor August dem Starken, diesem Land- und Leuteverderber, der nur in der Gewissenlosigkeit und in der Ausschweifung stark war, im Unflat der Speichelleckerei förmlich sich wälzte, den wüsten Sultan lobpreisend als »das Kleinod dieser Welt«, als ein »von Gott selber dargestelltes Wunderwerk«. Später noch hat der Schweizer Johann von Müller gezeigt, was ein berühmter Gelehrter in diesem Fache zu leisten vermag. Denn dieser chamäleonische Virtuos der Charakterlosigkeit, welcher in seinen Büchern die Strenge taciteischen Stils affektierte, schämte sich nicht, schnell nacheinander oder gar gleichzeitig wie Friedrich den Großen so auch den seelenverkäuferischen Landgrafen von Hessen-Kassel, wie Napoleon so auch den »Morgen-Wieder-Luschtik«-Jérôme zu beweihräuchern.
Die Abschnitte, in denen Biedermann von der »Volkskraft im Dienste der herrschenden Kreise« handelt und bis in alle Einzelheiten hinein das Militär-, Finanz- und Steuerwesen der deutschen Staaten erörtert, dürfen als ein Muster fleißiger und umsichtiger Quellenschöpfung aufgestellt werden. Hier tritt uns drastisch vor Augen, wie mit dem Schweiß und Blut des Volkes umgegangen worden ist in der »lieben, guten, alten, frommen Zeit«. Ein folgendes Kapitel schildert die Arbeit des Volkes, die landwirtschaftliche und gewerbliche Tätigkeit, Handel und Wandel, das Geld- und Kreditwesen, die Verkehrsmittel und Verkehrshindernisse.
Alles zusammengenommen, erhalten wir den Eindruck, daß die deutschen Bevölkerungen im 18. Jahrhundert sozusagen mit Blöcken an den Füßen und mit Ketten an den Armen arbeiten mußten. Denn gerade auf dem volkswirtschaftlichen Gebiete brach die »Aufklärung« nur sehr langsam sich Bahn. Es standen ihr ja nicht allein die Unwissenheit und das Vorurteil, die träge Gewöhnung, das gedankenlose Kleben am Hergebrachten entgegen, sondern auch die zahllosen Scharen von wirklichen oder eingebildeten Privatinteressen. Wenn man die heute kaum noch vorstellbaren und glaublichen Hemmnisse und Hindernisse aller Art bedenkt, welche dazumal der Ackerbau, das Handwerk, die Fabrikation, der Handel und Verkehr von einem Ende Deutschlands bis zum andern auf Schritt und Tritt zu befahren, zu respektieren, zu beseitigen oder wenigstens zu umgehen hatten, die auch nach aufgehobener Leibeigenschaft tatsächlich noch lange fortdauernde bäuerliche Unfreiheit, den stupiden Zunftzwang, die zahllosen Zollschranken, die Elendigkeit der Straßen und aller Verkehrsmittel, die Schlepperei und Unzuverlässigkeit der bürgerlichen Rechtspflege, das Gauner- und Räuberwesen – ja, wenn man das alles bedenkt, so muß man von hoher Achtung erfüllt werden vor der Unerschöpflichkeit unserer Volkskraft und vor der Unermüdlichkeit deutscher Arbeitslust. Nur die Ergebnisse einer unter den beregten Umständen doppelt erstaunlichen Arbeit, Entsagung und Ausdauer unseres Volkes machen es begreiflich, wie die ungeheuren Summen, welche die bis zur Tollheit gesteigerten Verschwendungen der meisten Höfe kosteten, aufgetrieben werden konnten. Mochte jedoch das Volk noch so sehr sich anstrengen und abmühen, das, was es hervorbringen und was man ihm ab- und auspressen konnte, reichte doch zur Bestreitung der Prasserei und Schwelgerei, der Wollüste und Narrheiten der an der Bankettafel des Lebens Sitzenden bei weitem nicht aus. Man machte daher riesige Schulden zur Belastung künftiger Geschlechter, und das gegenwärtige Geschlecht machte man zur Ware eines schwunghaft betriebenen Seelenverkaufs und Menschenfleischhandels. Das ist ein sehr gewinnreiches Geschäft deutscher Landesväter von Gottes Gnaden gewesen. Denn nur allein während des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes sind in die Kassen fürstlicher Menschenhändler für an die Engländer verkaufte Landeskinder diese Summen geflossen: nach Hessen-Kassel 2 600 000 Pfd. Sterling, nach Braunschweig 780 000, nach Hannover 448 000, nach Hanau 335 150, nach Ansbach 305 400, nach Waldeck 122 670, an verschiedene Miniaturdespoten 525 400 – Summa: 5 126 620 Pfunde, d. i. 34 177 466 Taler. Der halbverhaltene Schmerzensschrei in Schubarts »Kaplied« und das Zähneknirschen in der Selbstbiographie Seumes, den ja der Kasseler Großhändler mit Menschenfleisch an die Engländer verkauft hatte, das war alles, was das deutsche Volk solcher namenlosen Schändlichkeit entgegenzusetzen wußte.
Ein gutes Stück deutscher Volksgeschichte im 18. Jahrhundert steckt in der Betrachtung der Bevölkerungs- und Besitzverhältnisse, der materiellen Unterlagen des Lebenswandels der verschiedenen Volksklassen, der Arbeitslöhne und Lebensmittelpreise. Auf diesen Gebieten hat aber die Beibringung der Nachweise für den Kulturhistoriker große, nur teilweise zu überwindende Schwierigkeiten, weil eine Wissenschaft der Statistik damals noch gar nicht existierte. Um so dankenswerter ist das immerhin reiche Mosaikbild, das Biedermann hier aus Hunderten mit Bienenfleiß benutzten Quellen zusammengestellt hat. Der Anblick desselben muß in dem Betrachter sehr gemischte Empfindungen Hervorrufen. Die unerquicklichen überwiegen, doch läßt sich nicht bestreiten, daß auf den intellektuellen wie auf den materiellen Kulturgebieten fast durchweg in deutschen Landen ein ausdauerndes Streben sichtbar wird, die Nation aus dem tiefen Verfall, in den sie während des 17. Jahrhunderts geraten war, herauszuarbeiten und emporzuheben. Auf volkswirtschaftlichem Gebiet begegnen uns da die ersten schüchternen Versuche modernen Industriebetriebs. Dieser, sowie der schon kühner ausgreifende Handel, sie hatten auf der einen Seite mit dem überlieferten mittelalterlichen Gilden-, Innungs- und Monopolsystem schwer zu ringen, auf der andern mit dem bald zum starren Prohibitivismus ausgebildeten »Merkantilsystem«, das, auch nachdem seine Zeit längst vorüber, selbst von Regenten wie Friedrich II. und Joseph II. noch immer aufrechterhalten wurde. Sehr deutlich wahrnehmbar sodann ist der stark ausgeprägte Gegensatz von Nord- und Süddeutschland. Dort richten sich Arbeit und Genuß des Daseins mehr auf den glänzenden Schein, hier mehr auf das wohlige Sein. Es ist ja recht kennzeichnend, daß in München an feineren Lebensmitteln ebensoviel verzehrt wurde wie in dem dreimal größeren Berlin, und daß in Dresden das Sprichwort umging: »Man sieht den Leuten nicht in den Magen, wohl aber auf den Kragen.« Als einer der bösartigsten Krebsschäden Deutschlands erweist sich die Menge der Residenzstädte, weil diese sowohl Pflanzstätten des Servilismus als auch der Liederlichkeit und der maskierten Bettelhaftigkeit sind. Eine reisende Engländerin, der wir viele sittengeschichtliche Nachweise verdanken, die scharfsinnige und gescheite Lady Montague, bezeichnte als ein gemeinsames Charaktermerkmal deutscher Residenzen eine »gewisse schäbige Eleganz und aufgeputzte Armut«. Mylady, welche in der Drastik ihrer Schilderungen mitunter sehr weit ging, verglich diese Städte mit geschminkten und frisierten » whores« (Straßendirnen), welche mit Bändern in den Haaren und Silberschnallen auf den Schuhen, aber in zerrissenen Hemden und Unterröcken einhergingen.
Unserm Verfasser in die Einzelheiten seines inhaltsreichen Kapitels über »Fürsten, Höfe und Adel im 18. Jahrhundert« nachzugehen, kann ich mich um so weniger für verpflichtet halten, als ich selber dieses Thema anderwärts wiederholt einer einläßlichen Behandlung unterzogen habe Deutsche Kultur- und Sittengeschichte. 8. Aufl. S. 427 fg. – Geschichte der deutschen Frauenwelt, 4. Aufl. Band II, S. 173 fg. – Blücher, seine Zeit und sein Leben, 2. Aufl. Bd.I, S. 87fg.. Biedermann zieht die Summe seiner bezüglichen Darstellung also: »Der Taumel der Genußsucht, der Verschwendung, der Abkehrung von der volkstümlichen Sitte und der Nachahmung fremder Torheiten und Laster, der nach und nach fast alle deutschen Höfe in seinen Wirbel hineinriß, hat über ein volles Jahrhundert angedauert. Die Mittelklassen hatten schon längst durch eigene Kraft, trotz des von oben gegebenen Beispiels, die Herrschaft des Auslandes in Kunst und Wissenschaft und zum Teil auch in den Sitten wieder abgeschüttelt und ein neues, geistig kräftigeres und sittlich reineres Leben begonnen, als noch immer ein großer« – der Autor hätte kecklich sagen dürfen: der weitaus größte – »Teil der Fürsten und des Adels in der merkwürdigen Abhängigkeit von fremder Sprache und Sitte und in dem Schlendrian einer geistlosen und steifen oder üppigen Art leichtfertiger Lebensweise beharrte. In derselben Zeit, wo Klopstocks Dichtungen und Gellerts edle Moralvorschriften die Herzen der Deutschen entflammten und erwärmten, wo Lessings unerbittliche Kritik die Geister wachrief, wo in einem allgemeinen Gären und Drängen sich eine neue großartige Epoche der nationalen Literatur ankündigte, wo ein Möser den Ernst der deutschen Sitte zu erneuern, ein Moser den erstorbenen Nationalgeist wieder zu erwecken bemüht waren – in dieser Zeit fehlte es dennoch nicht an deutschen Fürsten, welche die alte tolle Wirtschaft mit der vollen Schamlosigkeit wie zuvor, ja zum Teil mit gesteigerter Frivolität fortsetzten, während andere nur halb und zögernd oder gezwungen durch die Macht der Verhältnisse ihren ausschweifenden Neigungen zu Prunk und Verschwendung und ihrer vornehmen Abgeschlossenheit vom Volke entsagten und nur eine geringe Zahl aus wirklich aufrichtiger Gesinnung und in verständiger Erfassung der veränderten Zeitverhältnisse einen besseren Weg betrat.« Es wäre gar nicht schwer, die erste der drei bezeichneten Kategorien mittels Auftuung einer reichausgestatteten Galerie zu illustrieren, welche wahre Prachtexemplare von Prassern und Pressern, Jagdwüterichen und Bauernschindern, Saufbolden und Wüstlingen, ja sogar von Betrügern und Fälschern aufzeigen würde.
Es ist eine allbekannte kulturgeschichtliche Tatsache, daß der herrliche Aufschwung, den der deutsche Genius von der Mitte des 18. Jahrhunderts an in Poesie und Musik, wie in den Wissenschaften nahm, Ursprung, Antrieb, Förderung und Verständnis zunächst durchaus nur den bürgerlichen Kreisen zu verdanken hatte. Die vornehmen Leute waren ja in Deutschland dazumal der Heimat so entfremdet, so verausländert, daß sie nicht einmal an die Möglichkeit einer vaterländischen Literatur und Kunst glaubten. Allen voran in solchem Unglauben stand Friedrich der Große, welcher »Fremdling im Heimischen« so durch und durch verfranzost war, daß er lieber einen jämmerlich unwissenden französischen Mönch als den Gotthold Ephraim Lessing zu seinem Bibliothekar haben wollte und die national-literarischen Taten Klopstocks, Wielands und Lessings, die genialen Jugendwürfe Goethes und Schillers nicht beachten oder gar verachten zu dürfen wähnte. Joseph II. war allerdings deutscher gesinnt und hätte sich bei längerem Leben den Einflüssen unserer großen Literaturepoche sicherlich nicht entzogen, allein in jüngeren Jahren verhinderte seine sehr mangelhafte Geschmacksbildung eine nähere Beziehung zu den Trägern der großen literarischen Bewegung und ihren Schöpfungen. Immerhin jedoch war Joseph der bewundernde Gönner Mozarts und der Gründer des deutschen Burgtheaters. Im übrigen war es ja ganz gut, ja ein großes Glück für unsere Literatur, daß sie nicht an Höfen, sondern im Bürgertum groß wuchs. Sonst hätte Schiller nicht sein stolzberechtigtes Wort von dem » selbst erschaffenen Wert« der deutschen Muse singen und sagen können. Es gibt auch Menschen – und ich bekenne gern, einer von ihnen zu sein –, welche meinen, in diesem und jenem Werke Goethes wehe schon zuviel, viel zuviel Hofluft.
In die deutsche Wissenschaft brachte zuerst Leibniz ein neues Regen und Bewegen, ein originales Leben und selbständiges Streben. Dieser Mann war es, der den deutschen Gedanken zuerst die philosophischen Schwingen entfalten lehrte. Er hat für seine Zeit mutatis mutandis etwa die Bedeutung, welche später Alexander von Humboldt für die seinige besaß. Als Charakter stand aber der Freund der »philosophischen« Königin Sophie Charlotte entschieden höher als der Höfling Friedrich Wilhelms IV., welchen Höfling seine Gegner nicht ohne Grund die »enzyklopädische Katze« gescholten haben. Mit universalem Blick und Wissen ausgestattet, wirkte Leibniz wie auf die idealen so auch auf die realen Wissenschaften anregend, bahnbrechend, wegzeigend und pfadfindend. Seine vielseitige Tätigkeit hat überall der späteren »Aufklärung« vorgearbeitet.
Die Volksmassen wandelten oder klebten vielmehr in ausgefahrenen und nichts weniger als reinlichen kirchlichen Geleisen. Die katholische Kirche, durch den Jesuitismus disziplinarisch gestrammt, behauptete seit dem Westfälischen Frieden im Deutschen Reiche nicht nur ihre Gebiete und durfte sich nicht nur vieler einzelner, insbesondere in fürstlichen und anderen vornehmen Kreisen gemachter Eroberungen rühmen, sondern sie besaß auch Kraft und Ansehen genug, um eine Zurückführung der Protestanten überhaupt in den Schoß der »Alleinseligmachenden« wiederholt zu planen. Die inneren Zustände des deutschen Katholizismus entsprachen freilich diesem Machtbewußtsein und dieser stolzen Haltung nach außen keineswegs. Man muß die Entartung des Gottesdienstes in krassen Fetischismus, die tollen Praktiken des Afterglaubens, die grotesken Bußwerke, die Verwilderung der Wallfahrerei, die prälatische Üppigkeit, die weltpriesterliche und mönchische Zuchtlosigkeit, wie das alles in den Rheinlanden, in Bayern und Österreich grassierte, im einzelnen kennen, um sich eine Vorstellung von dem Augiasstall machen zu können, den der arme Kaiser Joseph teils unmittelbar, teils mittelbar zu reinigen unternahm: zu diesem Riesenwerk leider lange nicht Herakles genug.
Wenn der Katholizismus wenigstens mit Grandezza segnete oder fluchte, so keifte und belferte der Protestantismus kleinlich und schäbig. Das Luthertum und der Kalvinismus waren gleichmäßig dogmatisch verknöchert, schleppten sich in geistlosem Formelkram dahin und verwandten allen »Eifer«, den sie überhaupt noch aufzubringen vermochten, darauf, einander gegenseitig schlechtzumachen. Es war daher für beide ein wahres Glück, daß der von Spener gestiftete und von Francke entwickelte Pietismus in den deutschen Protestantismus ein neues Ferment brachte, obwohl die stierstirnige Orthodoxie wütend dagegen anging. Der Pietismus enthielt zweifelsohne in seinen Anfängen und in seinen ersten Entwicklungsstadien Keime der Reform und des Vorschritts. Denn er opponierte ja dem armselig beschränkten, unfruchtbaren und unduldsamen Dogmatismus, wollte der Religion ihr eigentliches Heim, das Gemüt, wieder auftun und setzte das Wesen des Christentums in die erbarmende und werktätige Liebe. Aber freilich hatte er wie alles Menschliche auch seine Kehrseite und enthielt Keime grober Verirrungen, weil er, dem Phantom einer apostolischen Christlichkeit nachjagend, die Wirklichkeit als etwas schlechthin Bedeutungsloses, ja absolut Verwerfliches faßte, die Himmelssehnsucht zum Grundmotiv alles menschlichen Fühlens und Tuns gemacht wissen wollte und dadurch die Gemüter in eine Nebelei und Tiftelei verstrickte, welche mit der Welt, wie sie nun einmal ist, in die härtesten Kollisionen geraten mußte. Aus diesen Kollisionen entsprang dann der pietistische Dünkel, welcher keiner Kirche an Ausschließlichkeit und Hochmut der Alleinseligmacherei nachstand, und ferner jene bodenlose subjektive Willkür, die, wenn sie sich einmal in den eingebildeten »Stand der Gnade« hineingeschwindelt hatte, über alle positiven Gesetze, namentlich auch über die der Sittlichkeit, weit sich hinwegsetzen zu dürfen wähnte. Schon frühzeitig geriet demzufolge die pietistische »Erweckung« auf die bedenklichsten Irrwege, und die »Erweckten« erwiesen sich nur allzu häufig als Wölfe in Schafpelzen. Die Geschichte des Pietismus wimmelt, bis auf unsere Tage herab, von grellen Ausschreitungen, in denen die sektiererische Hoffart bis zum Größenwahnwitz sich steigert und die frechste Unzucht kaum noch das Feigenblatt der Heuchelei vorhält. Ich vermisse bei Biedermann konkrete Beispiele solcher Verirrungen, welche Beispiele wirksamere Schlageindrücke hervorbringen als die gründlichsten Charakterisierungen. Namentlich hätte unser Verfasser, wie ich glaube, an jenem ungeheuerlichen, geradezu märchenhaften und doch von Schritt zu Schritt aktenmäßig bezeugten Skandal, den, als einen Beweis von der frühzeitigen Verderbnis des Pietismus, die sogenannte »Buttlarsche Rotte« der »Mutter Eva«, schon im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts aufgeführt hat, nicht achtlos vorübergehen sollen. Um so weniger, als diese religionsgeschichtliche Episode auch auf andere Verhältnisse im Deutschen Reiche, z. B. auf das Polizei- und Justizunwesen, sehr belehrende Streiflichter wirft Ich habe in meinem Buch »Größenwahn«, vier Kapitel aus der Geschichte menschlicher Narrheit (1876), S. 15fg., unter der Aufschrift »Mutter Eva« diese Episode dargestellt, streng auf Grund der Akten, welche Thomasius in seiner Zeitschrift »Vernünftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Gedanken und Erinnerungen«, Bd. III (Halle 1725), S. 208fg. veröffentlichte. Als ein Seitenstück aus dem 19. Jahrhundert gab ich in demselben Buch, S. 137fg., ebenfalls in streng aktenmässiger Darstellung die Historie einer Heilandin unter der Aufschrift »Die Gekreuzigte«..
Es war hohe Zeit, daß in die orthodoxen Pagoden wie in die pietistischen Tabernakel, in die geistleeren Auditorien stupidgelehrter Pedanterie wie in die barbareivollen Gerichtssäle und ihre finsteren Folterkammern mit der Fackel der Aufklärung kühn hineingeleuchtet wurde. Als ein Hauptfackelträger stand Christian Thomasius auf, einer der besten Männer, die jemals auf deutscher Erde die gute, alte und ewigjunge Sache der Vernunft gegen Dummheit, Wahn und Knechtung verfochten haben. Das ist so ein Lichtbringer, so ein Rufer im Streit gewesen, der den Reformkampf des modernen Geistes gegen die mittelalterliche Romantik da wieder aufnahm, wo ihn die Reformer des 16. Jahrhunderts fallen gelassen hatten. Thomasius wurde abgelöst durch Christian Wolfs, dessen Arbeit als Lehrer und Schriftsteller die Grundsätze der Leibnizschen Philosophie zu einem nationalen Bildungsmittel machte. Von da an ergoß sich der breite Strom des »Rationalismus« immer unaufhaltsamer über alle Gebiete des deutschen Geisteslebens. Es ist ja wahr, da und dort war er seicht, dieser Strom, sehr seicht; aber anderwärts war er um so tiefer und flutete um so majestätischer einher, Hunderte, Tausende von Irrtümern, Wahngebilden, Vorurteilen und Ungerechtigkeiten wegfegend. Niemand wird leugnen wollen, daß die »Aufklärung«, eben als das helle Licht, welches sie war, auch starke Schatten warf; aber kein wissender und redlicher Mann wird seine Bewunderung und seinen Dank einer Kulturerscheinung versagen, welche zu ihrer höchsten national-literarischen Ausgestaltung den »Nathan« Lessings, zum vollendetsten wissenschaftlichen Ausdruck die »Kritik der reinen Vernunft« Kants und zu ihrer edelsten sittlichen Losung desselben Weisen von Königsberg »Kategorischen Imperativ« hatte. Das nie genug zu preisende Gesamtergebnis der aufklärerischen Tendenz und Arbeit in unserm Lande war, daß es die Deutschen von der despotischen Herrschaft des einseitig-theologischen Geistes befreite, unter welche sie infolge der von seiten der Reformatoren gewollten und erstrebten Verbibelung gefallen waren.
Die literarische Fehde, welche die Schweizer mit Gottsched führten, machte der langen Periode der Nachahmung in Deutschland keineswegs schon ein Ende. Im Grunde wollten ja die Bodmer und Breitinger nur, daß der Nachahmungsapparat, nachdem er so lange im alten Rom, in Italien, in Spanien, in Frankreich herumgeschleppt worden, jetzt nach England getragen werde. Aber diese Fehde half doch den Boden bereiten, auf dem etwas später die großartige, durchschlagende, befreiende und grundlegende Kritik Lessings sich erheben konnte. Diese Kritik war so recht ein Merkmal des allgemeinen Regens und Bewegens, das sich mit dem Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im ganzen Sein und Gebaren unseres Bürgertums kundgab und deutlich ahnen ließ, das deutsche Leben schicke sich an, aus seiner Enge, Kleinlichkeit und Verzettelung herauszutreten. Damals begann jene große Epoche des Idealglaubens und der Begeisterung für das Schöne in allen seinen Erscheinungsformen, wie eine solche so bald nicht wiederkehren wird. Uns, die wir in dem eisernen Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitteninne stehen, muß, falls wir überhaupt noch für Dinge empfänglich, die nicht im Kurszettel notiert und nicht an der Börse »gefragt« sind, eine tiefe Rührung überkommen, wenn wir wahrnehmen, wie unsere anspruchslosen, in den bescheidensten Verhältnissen und Daseinsformen zufrieden und glücklich sich fühlenden Vorfahren leicht und freudig in die »heiteren Regionen, wo die reinen Formen wohnen«, wo die Ideale leuchten und die Güter thronen, emporzuschwärmen vermochten. Gewiß lief bei solcher Schwärmerei viel Unersprießliches und Törichtes mit unter, aber wie sehr haben wir von der »Angst des Irdischen« niedergedrückten Nachfahren trotzdem Ursache, jene idealgläubigen Schwärmer zu beneiden!
Zwei nationalliterarische Taten markierten den Aufgang unserer großen Literaturperiode: Gellerts Fabelbuch und Klopstocks Messias. Jenes war darum epochemachend, weil es nach langer Zeit zum erstenmal wieder den gesamten Mittelstand ergriff und zur literarischen Bewegung in lebhafte Beziehung setzte; dieser, verbunden mit der Klopstockschen Odendichtung, regte die Seelen der Jugend in ihren Tiefen auf, lehrte die Deutschen wiederum den Klang und Sinn des Wortes Vaterland verstehen und lieben, schuf Begeisterung für unsere Sprache, für treue Freundschaft und reine Liebe. Namentlich in letztbezeichneter Richtung ist Klopstocks Poesie von allergrößter Bedeutung gewesen. Denn es läßt sich ja deutlich Nachweisen, daß sie zur Veredlung des Verhaltens der beiden Geschlechter zueinander nicht wenig, sondern viel beigetragen hat. Als Widerpart oder vielmehr als ein Ergänzer Klopstocks trat Wieland auf, welcher mittels seines geistvoll-schalkhaften, graziös-leichtlebigen Dichtens unserer einheimischen Literatur die Teilnahme auch der vornehmen Leute gewann und diese dadurch allmählich aus dem Banne der Verfranzosung löste. Aus dem gärenden Gewühl der »Originalgenialität«, aus dem brausenden Sturm und Drang der »Kraftgenies«, deren Anschauungen und Strebungen Goethe mit seinem Götz, seinem Werther und den Anfängen von Faust, Schiller mit seinen Räubern, mit dem Fiesco und mit Kabale und Liebe ihren Jugendtribut gezollt hatten, stieg, da durch das Läuterungsfeuer der Lessing-Winckelmannschen Ästhetik, dort durch das der Kantschen Philosophie hindurchgegangen, das Doppelglanzgestirn der Goethe-Schillerschen Klassik am deutschen Kulturhimmel empor. Bevor das Jahrhundert dem Ende sich zuneigte, gab es unserm Volk und der Menschheit die Iphigenie und Hermann und Dorothea, den Don Karlos und den Wallenstein, die Goethe-Schillersche Balladen- und Romanzendichtung, die Gefühlslyrik des einen und die Gedankenlyrik des andern der zwei großen Freunde – hochherrliche Gaben, denen, ich wage es zu hoffen, noch der Zukunft fernste Geschlechter, solange deutsche Herzen schlagen und deutsche Sprachlaute tönen auf dem Erdenrund, ihre Bewunderung und ihre Liebe entgegenbringen werden.