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Der Indianer und sein Huhn.

Siebzig Kilometer weit führt die schmalspurige Transportbahn von der kleinen Schiffstation am Fluß Paraguay ins buschige Kampland des Chaco. Sie holt für die Extraktfabrik das wertvolle tanninhaltige Quebrachoholz aus den Urwäldern. Und weil immer ein paar Leute mitreisen, die im Kaufladen der Ortschaft, dem »almazén«, ihre Produkte verkaufen und Einkäufe besorgen wollen, ist ein primitiver, offener Personenwagen an den Zug angekuppelt.

Ich komme zu Pferd von einer entfernten Estancia, nur von einem zwölfjährigen Jungen begleitet, der meinen Gepäcksack vor sich auf den Sattel seines Maulesels geschnallt hat.

Unterwegs konnte ich mir nicht versagen, ein paar Fasane zu schießen, um für die nächste Mahlzeit vorzusorgen. Dies blieb nicht ohne Folgen, denn als ich, mit etlichen schönen Exemplaren an den Sattelriemen, durch den letzten der Endstation vorgelagerten Busch reite, höre ich die Lokomotive pfeifen – und trotz eines scharfen Galopps erreiche ich den Zug nicht mehr.

Nun heißt es, zwischen den Schienen, über Brücken hinweg, die nur aus zwei Traversen bestehen, auf welchen die Schwellen lagern, ihn bei der nächsten, zehn Kilometer entfernten Haltestelle einzuholen; denn täglich verkehrt nur ein Zug; und wenngleich ein Tag Verspätung in diesem Lande der »pacientia« nicht viel bedeutet, karge ich doch, als rechter »gringo«, noch immer mit der für den Einheimischen fast wertlosen Zeit.

Hocherfreut kann ich schon aus größerer Entfernung feststellen, daß der Train bei »Kilometer sechzig« noch verschoben wird. Ich mache von den Sporen Gebrauch, ohne den gefährlichen Löchern zwischen den Schwellen Beachtung zu schenken.

Plötzlich scheut mein Pferd. Der Ruck wirft mich fast aus dem Sattel. Doch ich bemerke weder eine gefährliche Brücke, noch ein heimtückisches Loch – sondern einen jungen, fast nackten Indianer, der zwischen den Schienen kauert und einem Huhn, das kratzt und wild mit den Flügeln schlägt, eine Schnur um die widerspenstigen Füße wickelt.

Erschrocken blickt er mich an und mein Gewehr – aber bald verzieht sich sein Gesicht zu freundlichem Grinsen und er nimmt seine Beschäftigung wieder auf.

Ich nicke dem Burschen zu und galoppiere vorbei, damit ich den Zug nicht auch in der nächsten Station versäume.

Natürlich komme ich viel zu früh. Das Bahnpersonal sitzt noch mateschlürfend rangordnungslos auf einem mächtigen Baumstamm, der seitlich von einem Wagen herabstürzte und nicht wieder hinauf zu bekommen war. Ich bin ärgerlich, denn bei dem scharfen Ritt verlor ich meine Fasane, bis auf einen. Den schenke ich dem Zugsführer; weil ich mich schäme, mit einem Fasan als Jagdbeute zu reisen – in einer Gegend, in der auf diese schmackhaften Vögel meist nur dann geschossen wird, wenn mit einem Schuß zwei Stück erlegt werden können.

Nun übergebe ich das Roß dem Knaben, der mir nachgaloppiert ist, und klettere auf den Wagen, auf dem schon mehrere Mischlingsweiber mit gefüllten Körben und Säcken, zigarrenrauchend und in ihrem indianischen Idiom plauschend, Platz genommen haben und auf die Abfahrt des Zuges geduldig warten.

Sie alle haben nicht die geringste Eile. Ein Tag ist schön wie der andere. In den Gärten wachsen Maniok und die süße Kartoffel, Bananen und Zuckerrohr, Orangen und Kürbisse fast ohne Pflege. Die Ernte erstreckt sich über das ganze Jahr.

Das Leben dieser Menschen verläuft kalenderhaft regelmäßig. Sechsmal Wochentag, einmal Sonntag. Wenn es dunkel wird, gehen sie schlafen; und sobald es Tag wird, stehen sie auf.

Der Junge reitet die Strecke, die ich galoppierend genommen, gemächlich zurück. Er hat eine von den Zigarren, die ich ihm schenkte, entzündet und ist glücklich.

In mir regt sich unverkennbar der Neid. –

Die Sonne brennt mit mittägiger Glut. Jeder füllt seine Flasche aus dem Wasserfaß, das neben den Schienen steht. Das Wasser stammt aus dem nächsten Tümpel. Es ist gelb wie deutscher Wein und mundet dem Durstigen beinahe wie dieser.

Die Lokomotive pfeift. In diesem Augenblick nähert sich der Indianer langsam dem Zug. Er hält das Huhn auf landesübliche Art bei den Füßen, sodaß der Kopf nach unten baumelt.

Offenbar will er mitreisen; aber er hegt keine Befürchtungen, den Zug zu versäumen. Ohne merkbare Eile klettert er auf einen mit leeren Kisten beladenen Waggon vor dem offiziellen Personenwagen, denn die Gesellschaft in diesem ist ihm gewiß zu vornehm.

Vorsichtig legt er das gefesselte Huhn auf eine der Kisten, neben welcher er sich niederläßt. Seine Bewegungen sind lässig, aber graziös und fast weibisch. Das Haar fällt in dünnen schwarzen Strähnen über die Stirn und rückwärts bis zum Halse. Die Augen sind dunkel, klein und etwas geschlitzt. Nur ein kurzer Schurz bedeckt den schlanken, beinahe zarten Körper.

Es ist ein Männerleib, wie ihn Leonardo da Vinci zu malen wußte: Männlich nur durch das Geschlecht, dem er zugehört.

Als der Indianer meiner gewahr wird, lächelt er zutraulich. Sein Blick sucht schnell mein Gewehr – und bleibt, als er es findet, lange an ihm haften.

Es ist die große Sehnsucht jedes Wilden; die einzige Errungenschaft der Technik, nach der ihn gelüstet. Doch nur selten glückt es ihm, in den Besitz einer Schußwaffe zu gelangen; denn er hat kein Geld. Das wenige, das er aus dem Verkauf von Fellen oder durch gelegentliche Arbeit löst, gibt er sofort für Tabak und Cana aus. Sein Sparsinn ist nicht entwickelt, seine Rechenkunst nicht groß: seine Sprache kennt nur vier Zahlen; die fünfte heißt: Hand. Vier Hände ergeben das Höchstmaß seiner Arithmetik.

Darum bleibt eine Büchse beinahe unerreichbar für ihn, fast allgemein muß sich der Indianer auch heute noch mit Axt und Pfeil begnügen.

Langsam setzt sich der Zug in Bewegung. Einige Burschen springen noch auf. Es sind Gauchos; schlanke, braune Kerle. Sie allerdings sitzen im Personenwagen, denn sie sind die Herren in diesem Lande.

Herren – und doch ärmer als jeder europäische Bauernknecht. Aber sie wissen's nicht anders ...

Es ist rührend zu sehen, wie der Indianer nun, seit wir fahren, nur mehr auf sein Huhn achtet. Immer wieder prüft er, ob die Fessel hält; hebt das Huhn hoch, wiegt es in den Händen und legt es sorgsam wieder hin.

Er meint es sicher gut mit dem Tier. Manchmal streicht er ihm mit seiner großen, aber nicht unschönen Hand leicht über den schwarz befiederten Rücken. Dann erschrickt das Huhn und duckt sich – es glaubt wohl, die schwere Hand wolle es töten.

Doch daran denkt der Indianer nicht. Zwei volle Tagereisen sind nötig, um in die Ortschaft zu gelangen. Heute fährt der Zug nur bis »Kilometer vierzig«. Dort müssen wir nächtigen. Wenn das Huhn heute getötet wird, stinkt morgen der Braten. Wir sind hart an der südlichen Grenze der Tropen.

Darum muß es die lange Reise lebend überdauern; unbarmherzig gefesselt. Ich staune über die Zähigkeit dieses Hühnerlebens.

Den Indianer beschäftigt nur sein Huhn, seit er es in der Nähe irgend eines Ranchos gestohlen hat. Er wird es gut verkaufen können, denn es ist jung und fett. Und man bekommt in dem Almacén ein paar Tabakblätter um den Erlös; oder, vielleicht, einige Gläschen Cana.

Solche Kostbarkeiten sind wohl wert, daß man zwei Tage lang auf ein Huhn aufpaßt; und die längste Reise wird kurzweilig, wenn man angenehme Begleitung hat – und sei es auch bloß die eines Hühnchens. – –

Nach einigen Stunden haben wir die zwanzig Kilometer bis zur heutigen Endstation zurückgelegt.

 

Um die Mittagsstunde des nächsten Tages finden sich die Passagiere wieder auf dem Bahnsteig zusammen und erwarten geduldig das Eintreffen des Anschlußzuges. Die Station ist nur durch das Vorhandensein des unentbehrlichen Wasserfasses kenntlich gemacht.

Auch der Indianer befindet sich unter den Wartenden. Die erste Klasse des »Hotels«, in dem ich die Nacht verbrachte, bestand aus zwei Zimmern mit niedrigen Pritschen, die auf dem holprigen Erdboden standen. Ich war der einzige Gast. Aber auch unter den Gästen der zweiten Hotelklasse, die in einem engen Raum zusammengepfercht lagen, hatte ich den Indianer nicht bemerkt.

Demnach mußte er im Freien geschlafen haben, wie er es gewohnt war, unempfindlich gegen die Stiche der Moskitos und die Bisse der Beißmücken. Ich hatte mich während der Nacht zwar unter meinem »mosquitero« verschanzt, aber mein Gesicht und die Hände sind dennoch angeschwollen und meine Füße mit vielen kleinen Wunden bedeckt, die heftig schmerzen. Die rotbraune Haut seines Körpers dagegen ist vollkommen glatt und rein.

Der Indianer sitzt vornübergebeugt auf einer leeren Benzinkanne und hütet das gefesselte Huhn. Dieses scheint sich in das Unvermeidliche gefügt zu haben oder es ist von der Hitze erschlafft, denn es liegt schlafend in dem Schoß seines Herrn.

Nun kennen wir uns schon: der Sohn der Wildnis und ich, der Fremde, der »gringo«. Ich reiche ihm eine Zigarre. Aber – wie mißtrauisch und schlau ist der Mann! Sieht er, daß ich meine Kamera bereit halte? Warum zögert er sonst, die Zigarre anzunehmen?

Und wirklich: erst als ich ihm mit einem Blick auf den Apparat und eine verneinende Handbewegung zu verstehen gebe, daß ich seine Freundschaft nicht erkaufen will, um ihn nachher zu verzaubern – dann erst nimmt er mein Geschenk entgegen. –

Mit stundenlanger Verspätung fährt der inzwischen eingetroffene Zug endlich wieder ab. – Wieder sitze ich neben den Mestizen im überdachten Wagen. Der Indianer hockt auf einem hochgetürmten Holzstoß und bewacht sein Huhn.

Die Sonne brennt höllisch heiß und ihren versengenden Atem mildern auch der Schatten und die Zugluft nur schwach. Aber unbedeckten Hauptes hält der Naturmensch dem Sonnenbrande stand, mit dem tiefschwarzen glatten langen Haar als einzigen, natürlichen Kopfschutz.

Über die buschreiche Ebene geht die Fahrt. Heute entwickelt der schwer beladene Zug eine Geschwindigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Die Stöße und Püffe des schlecht gefederten Wagens übertragen sich auf die fröhlich aufkreischenden Fahrgäste, und wenn eine kleine Entgleisung den Zug auf der Strecke gelegentlich zum Halten zwingt, wirft der unerwartete Ruck alle durcheinander.

Als wir einen Palmenhain von gewaltiger Ausdehnung durchqueren, lacht der Schaffner, mit dem ich mich in ein Gespräch in spanischem Kauderwelsch eingelassen habe, plötzlich auf: Ein laut gackerndes Huhn flattert mit heftigen Flügelschlägen schwerfällig an unserem Wagen vorbei ... Ich kann noch sehen, daß es den Boden glücklich erreicht und wie vom Fuchs gehetzt, teils laufend, teils flatternd in das hohe dürre Gras flüchtet.

Da wird auch schon der Indianer sichtbar. Mit einem mächtigen Satz springt er aus dem schnell fahrenden Zuge und verschwindet hinter dem Huhn im Grase.

Ich denke: Er wird es einfangen und morgen weiterfahren.

Aber alles zukünftige Geschehen pflegt sich in diesem Lande grundsätzlich jeder Voraussicht und Berechnung zu entziehen ... In der nächsten, etliche Kilometer entfernten Station haben wir wieder einen längeren Aufenthalt, durch das Heißlaufen eines Lagers verursacht. Und ehe noch das Abfahrtssignal ertönt, erscheint der Indianer mit seinem armen Huhn. Seelenruhig und mit wunderbarer Selbstverständlichkeit nimmt er seinen Platz auf dem Holz wieder ein; aber das Huhn läßt er nun bis ans Ende der Fahrt nicht mehr aus den Augen.


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