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Meine Kabine lag am Promenadendeck. Dies bringt Vorteile und Nachteile mit sich. Der größte Vorteil ist die leichte Erreichbarkeit der Behausung. Als Nachteil empfand ich insbesondere die nächtlichen Störungen durch promenierende Pärchen, die ihre Konversation möglichst laut zu führen pflegten, damit niemand Mißtrauen gegen die Art ihrer Unterhaltung fassen sollte. Auch meine Mittagsruhe wurde häufig in der unerhörtesten Weise gestört. Ein junges Mädchen, deren Deckstuhl während der ganzen Dauer der Überfahrt nahe meiner Kabine stand, begleitete ihren Gesang mit der Guitarre und mit übermenschlicher Ausdauer. Ihre Stimme stand in schroffem Gegensatz zu einem sehr erträglichen Äußeren. Das brünette Fräulein hatte ein zartes Gesicht, weiß wie Schnee, und ein paar große Braunaugen waren darin, in die man sich hätte verlieben mögen. Aber der Gesang war entsetzlich; und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie nach dem zweiten Frühstück zu singen und spielen pflegte, immer genau zwei Stunden lang, hassenswert. Zur Ungerechtigkeit neigend wie gewiß jeder, der täglich aus seiner gewohnten Mittagsruhe aufgestört wird, haßte ich schließlich nicht bloß die greuliche Stimme, sondern auch die Sängerin, die mit ihr begabt war.
Die junge Dame gehört nicht zu meinen angenehmen Reiseerinnerungen, aber es ist nötig, daß ich den Vorfall erwähne, da ich die Nachteile einer Kabine, die an das Promenadedeck grenzt, nicht verheimlichen will. Ich bin nicht boshaft genug, anderen Grünhörnern ebenso schlimme Erfahrungen zu gönnen.
Nur ein einziges Mal war ich als Inhaber einer Promenadedeckkabine unfreiwilliger Ohrenzeuge einer interessanten Unterhaltung und ich will mich bemühen, diese ohne alle Zutaten und Fortlassungen, kurzum: ohne lügenhafte Entstellung, oder, vornehmer ausgedrückt: mit Ausschaltung der eigenen Phantasie, wiederzugeben.
Ich vernehme zwei Stimmen; die laute, hohe eines jungen Mannes, der von Beruf verbummelter Student ist und nun in der sicheren Erwartung, daß die Vereinigten Staaten an ihm ihre helle Freude erleben werden, siegesgewiß hinüber fährt (offensichtlich mit gepumptem Gelde); und die zweite eines nordamerikanischen Kaufmannes, vierzig Jahre alt, verheiratet, Bankkontoinhaber usw.
»... Vergessen Sie nicht: einhundertzehn Millionen Einwohner! Unermeßliche Naturschätze! Phantastischer Reichtum!«
»Das alles wäscht sie nicht rein. Es ist und bleibt geraubtes Land! Von Rechts wegen gehört es den Indianern.«
»Welchen Indianern?«
»Den Ureinwohnern; jenen wenigen, die der weiße Mann noch nicht umgebracht hat!«
»Sie verdanken Ihr Wissen, beziehungsweise: Ihr Unwissen offensichtlich ... Ist Ihnen bekannt, daß Karl May niemals selbst in Amerika gewesen ist?«
»Jawohl, jawohl; aber wollen Sie etwa leugnen, daß ...«
»... daß den armen Rothäuten schweres Unrecht widerfahren ist? Das ist Karl May, der in euren europäischen Köpfen umspukt. Bedenken Sie doch: Wo die indianische Rasse einst ein paar hundert jammervolle Dörfer besaß, ist ein Staat aufgebaut worden, der seinesgleichen in der Welt nicht hat. Über hundert Millionen Menschen weißer Rasse haben dort eine neue und sichere Existenz gefunden! Selbstverständlich sind die Ureinwohner auf entlegenes Gebiet zurückgedrängt worden – sofern sie es nicht vorgezogen haben, mit uns zu arbeiten.«
»Als Sklaven!«
»Solange sie frei waren, führten sie ein armseliges Leben und zerrieben sich in endlosem Kleinkrieg. Heute stehen ihnen alle Möglichkeiten des Fortkommens offen und für jene, die von ihren Bräuchen nicht lassen wollen, sorgt der Staat in der großzügigsten Weise.«
»Um sich reinzuwaschen!«
»Die Regierung hat diesen Indianern ein Territorium zugewiesen, groß genug, um so viele zu fassen, wie jemals im Bereich der Union gelebt haben!«
»Sozusagen einen Tierpark, den jeder mit dem Auto aufsuchen darf, um sein Herz an dem Wohltätigkeitssinn der glorreichen Republik zu laben!«
»Sie sind sehr ungerecht. – Haben Sie schon einmal einen Indianer gesehen?«
»Wie sollte ich? Sie?«
»Meine Geschäfte lassen mir keine Zeit für solche Exkursionen.«
»Auch würde ein Ausflug in den Yellowstonepark Ihr Wissen nicht wesentlich vertiefen. Aber Südamerika ...«
»Ja, dort ... ganze Länder sind noch indianisch. Deshalb sind sie auch in der Kultur ...«
»Sprechen Sie nicht von Kultur, mein Herr! Beleidigen Sie nicht ein Heiligtum, das weder durch Geld noch durch andere Machtmittel von unserem verarmten Kontinent über das große Wasser zu exportieren ist. Sagen Sie: Zivilisation!«
»Darin sind wir Amerikaner euch allerdings weit voraus. Und was die Kultur anbelangt ...«
»Bitte – nichts von ...«
»... was die Kultur anbelangt, junger Mann, da wollen wir vorerst 'mal zwischen Kulturwerten, die leicht transportabel und solchen, die schwer transportabel sind, unterscheiden.«
»Transportabel??«
»Zum Beispiel: Gemälde alter Meister ...«
»Ich bin im Bilde. Sie wollen Ihre Museen und Bibliotheken mit europäischen Geistesprodukten füllen, die Sie als Meistbietende zu erwerben in die Lage kommen dürften.«
»... bereits gekommen sind. Besichtigen Sie unsere Museen in Neuyork! Die Akademie in Philadelphia! Die Bibliothek in Washington! Und Boston – – Sie werden verblüfft sein!! Außerdem lassen wir uns alljährlich etliche zehntausend aus dem jungen, tüchtigen europäischen Nachwuchs kommen – Männer wie Sie, die ihre Kultur mitzubringen pflegen.«
»Sie führen sozusagen die Kulturträger ein? Sehr vernünftig! Aber wie gedenken Sie die »schwer transportable« Kultur – worunter Sie wahrscheinlich den historischen Boden, die von der einstigen Größe Europas zeugenden Ruinen verstehen, überhaupt alle Erreger unseres eigentlichen Kulturmilieus ...«
»Wenn wirklich ein Narr auf die unglückselige Idee verfallen sollte, solchen Kulturdünger nach Amerika importieren zu wollen, müßte sofort ein Einfuhrverbot erlassen werden!«
»Sie sind Yankee ...«
»Gewiß, ich bin Yankee – und ebenso stolz auf unsere Vergangenheit, wie Sie, junger Mann, auf Ihre schwer transportable ...«
»Sprechen Sie nicht von ...!«
Das Ende des Dialogs entging mir; denn eben begann das garstige Mädchen zu singen und musizieren. Ich schloß das Fenster sehr geräuschvoll, warf mich auf mein Bett und zog die Decke trotzig über den Kopf. Aber noch in meinen Schlummer hinein krähte die grausame Stimme vor meiner Kabine das Lied:
»It 's a long way to Tipperary –
It 's a long way to go –
It 's a long way to Tipperary –
You are the sweetest girl I know – – –«