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An den Fällen des Niagara.

Die Nordamerikaner haben die Wasserfälle des Niagara für die größten der Welt erklärt.

Dies geschah gewiß nicht, um den Ruhm der bedeutend größeren Fälle des in Brasilien beheimateten Iguassú zu beeinträchtigen, sondern einfach deshalb, weil alle Nordamerikaner fest davon überzeugt sind, daß schon der liebe Gott bei Erschaffung der Erde ihren nördlichen Kontinent mit den herrlichsten Schätzen, über die er verfügte, ausgerüstet hat – also auch mit dem schönsten und größten Wasserfall.

So ist der Niagara zu Weltruhm gelangt, der südamerikanische Bruder dagegen fast unbekannt geblieben.

Leider hat der liebe Gott keine Rücksicht auf die künftigen Grenzen genommen. Vielleicht bekannte er sich zur Monroedoktrin und schuf deshalb auch Kanada für die braven Yankees und nicht für die bösen Engländer.

Jedenfalls ist die Tatsache ärgerlich, daß die beiden Niagarafälle nicht ganz zu U. S. A. gehören, sondern die Grenze durch den kanadischen Fall verläuft, an dem somit die Vereinigten Staaten nur ›beteiligt‹ sind.

Doch hat die Vorsehung ihr Versäumnis wenigstens zum Teil wieder nachgeholt und dem Anspruchsberechtigten den größeren Gewinnanteil gesichert, indem sie ihm die Idee eingab, gewaltige Wassermengen in seinen Turbinen verschwinden zu lassen.

Von den verschont gebliebenen stürzen sich die unionistisch orientierten über eine oben fast gradlinig abschließende Wand, die kanadischen dagegen in stumpfer Winkelstellung zu ihr über einen bogenförmigen Felsriesen in die gähnende Tiefe.

Dort vereinigen sich die feindlichen Brüder und nehmen auch die verlorenen Kinder wieder auf, die das Heim eine Zeitlang verlassen hatten, um allzu leichtem Verdienst nachzugehen.

 

»Niagara« – »Donner der Gewässer« nannten die Indianer die großartigen Katarakte. Wie viele Opfergeschenke mögen wohl durch die Jahrhunderte den zürnenden Flußgöttern gläubig dargebracht worden sein – und wie lange wird es dauern, bis die aufgeklärten Weißen ihnen allen unrechtmäßigen Tribut wieder abgenommen haben!

Mir hätten die Fälle in den indianischen Zeiten mehr Freude bereitet. Ich hätte statt im Dampfboot (mit Brillen vor den Augen, in wasserdichte Kapuze und Gummistiefel gehüllt) nackt im Einbaum an den Hexenkessel heranfahren können. Und die tätowierten Rothäute hätten stilgemäßere Statisten abgegeben als die geschminkten Bleichgesichter aus Neuyork und Umgebung.

Leider besteht für mich ein unmittelbarer Anlaß zu solchen Zeitfluchtgedanken.

Gleich als ich an Bord des kleinen Aussichtsdampfers kam, fiel die Frau mir auf: mittelgroß, mit schönen Beinen und schlanken Hüften. Einige Locken aus dem bubihaft gestutzten, ungewöhnlich üppigen, tiefschwarzen Haar waren in die Stirn gekämmt. Große, dunkelblaue Augen blickten lächelnd auf den Kavalier, einen kleinen, dicken, bejahrten und darum stets höflichen Mann, der eben bemüht war, die Kapuze des Mantels über seinen großen Kopf zu ziehen.

Aber weder die schönen Augen der jungen Frau, noch der liebenswürdig lächelnde Mund vermochten zu fesseln, denn ihr Gesicht wirkte wie das Bild eines großen Künstlers – von einem Dilettanten freventlich übermalt.

Kräftiges Karmesinrot lag auf den Wangen, Nasenspitze und Kinn schimmerten schneeig weiß, die Brauen leuchteten marineblau und zwischen dem Haar glänzte die Stirn lichtocker.

Sinnlos wie dieses, jetzt von dem schwarzen, klebrigen Stoff des Regenmantels und der Kapuze umrahmte Gemälde war auch der Dialog des Paares, als wir uns den Fällen näherten:

»Isn't nice?« fragte die Lady.

»Yes. Very nice,« antwortete der Gentleman.

Nach kurzer Pause:

»Isn't ...?« fragte sie.

»Yes, it is ...« antwortete er.

Nach längerer Pause:

»Isn't ...«

»Yes.«

In den köstlichsten Situationen wie in den erhabensten Augenblicken immer dieselbe naive Frage und immer die gleiche stupide Antwort. Keine starke Freude, kein echtes Erstaunen. Deshalb weder bang-frohes Stammeln, noch stumme Andacht. Keine tiefere Empfindung; nur: »Das also ist der Niagara; man muß ihn gesehen haben.« Kein stärkerer Eindruck, als: »It was very nice.«

Und, natürlich, einige Dutzend Photos: die Fälle von oben, von unten, von den Seiten; das Hotel, in dem man gewohnt, die Restaurants, in denen man gespeist hat; und – man selbst, wie man angesichts der Fälle, den Blick ins Objektiv, in heroischer Haltung eine Zigarette raucht.

Das »very nice«-Paar verfügte über zwei Kameras und reichliche Filmvorräte, sodaß es nicht in Verlegenheit kam, die Pausen des Dialogs tätig auszufüllen. –

Als das Schiff aus dem Sprühregen zurückkehrte, war ich von dem Erlebnis der stürzenden, zerstäubenden Wassermassen, darin die Sonne glitzernde Fäden wob, erfüllt und noch ganz im Banne des Wunders. Ich würde das Photographenpärchen gewiß vergessen haben, wenn mir nicht plötzlich, während ich mich von meiner triefenden Hülle befreite, ein Anblick von nicht wiederzugebender grotesker Komik das eben empfangene Geschenk geraubt hätte.

Der rundliche Kavalier hatte seiner Dame aus den Überkleidern geholfen und nahm ihr nun die Schutzbrille von den Augen – – da zeigte sich – – – ein wüstes Durcheinander von Farben, eine Malerpalette, auf die herab wie ein Pinsel eine blonde Haarlocke hing ...

Das war leider der nachhaltigste Eindruck von meiner Niagarafahrt und auch die »feenhafte« nächtliche Scheinwerferbeleuchtung konnte ihn nicht mehr verwischen.


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