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Idiosynkrasien.

In Chikago bin ich nicht gewesen.

Gegen einen Abstecher dorthin sprachen verschiedene Gefühlsmomente. Es ist mir ärgerlich, daran zu denken, und peinlich, darüber zu berichten, aber ich hoffe, durch die Preisgabe meiner sündhaften Gründe der Absolution auch jener teilhaftig zu werden, die eine unleidliche ›Gefühlsangelegenheit‹ für weniger wichtig halten als etwa ein leidliches Gabelfrühstück.

Vor vielen Jahren saß ich in der österreichischen Eisenbahn einem kräftigen, breitschulterigen Mann gegenüber, der seinen Reden nach acht Jahre in Chikago damit zugebracht hatte, dreiundzwanzigtausend und etliche Mastochsen abzuschlachten, bis er sich ein kleines Häuschen, ein Schwein, zwei Ziegen, Gartenland und das Bürgerrecht eines böhmischen Städtchens kaufen und seine alte Liebe heiraten konnte. Mit stiller Wehmut, die eher zu einem Schulmeister als zu einem En-gros-Tiermörder gepaßt hätte, erzählte er von seiner Enttäuschung, als er nach der langen Abwesenheit endlich hatte heimfahren können, um sich mit ›ihr‹ zu vereinen: zwei Kinder, ein Bub und ein Mädl, seien dagewesen und er wisse heute noch nicht, von wem. Aber er hat ›sie‹ doch zum Altar geführt, seine Mascha. Und jetzt zählt die Familie schon acht Köpfe, die zwei ›ohne ihn‹ eingerechnet. Ja, und einmal gab's Zwillinge ...

Ich hatte damals nur Interesse an den dreiundzwanzigtausend Mastochsen finden können und ich ließ mir von dem biederen Schlächter, dessen Gedanken anfänglich nur mit Mühe von dem Maschathema loskamen, ausführlich über seine Chikagoer Tätigkeit berichten. Als sein schwerfälliger Geist die Entfernung zwischen der böhmischen Heimat und dem ihm wieder fremd gewordenen Amerika überwunden hatte und die Anschaulichkeit seiner Erzählung das große Schlachthaus mit den modernen Abmurksvorrichtungen hervorzauberte, geriet der Mann in hellen Eifer, mir seine blutrünstigen Erlebnisse zu erzählen, Geschichten von wild gewordenen Bestien, von einem Ochsen, der nicht sterben wollte, von einem anderen, den knapp vor seinem beschlossenen Tod der Herzschlag traf und von einem dritten, der seine Peiniger umwarf und ihnen davon rannte, in die vornehmsten Straßen der Stadt gelangte und mit dem Lasso eingefangen werden mußte.

Ich glaubte jedes Wort, denn ich war noch ein Knabe. Der Mann mit seinem böhmisch-englischen Akzent log mit Vergnügen und Ausdauer und er hätte die Ochsen gewiß bis in die Staatsämter und Universitäten laufen lassen, wenn er nicht schon vorher hätte aussteigen müssen, um nach Hause zu seinem Schwein, den Ziegen, der Mascha, den vier Kindern ›von ihm‹ und den zwei ›ohne ihn‹ zu kommen.

Aber meine angeregte Phantasie arbeitete weiter: Chikago wurde zu einem einzigen riesigen Schlachthaus, seine Bewohner zu Schlächtergesellen, die Straßen zu Flüssen aus dunklem Ochsenblut, die Schaufenster waren mit Ochsenköpfen, Ochsenschultern und Ochsenfüßen gefüllt und noch nächtelang hörte ich das ohrenbetäubende Gebrüll aus dreiundzwanzigtausend Ochsenkehlen.

Später sah ich Bilder von Chikago. Theater, Schulen, gepflegte Straßen, Wolkenkratzer, Gärten. Eine moderne Großstadt. Aber statt des Lärms der Züge und Autos meinte ich ... immer noch ... das Brüllen aus den Schlachthäusern zu hören.

Ich halte den Aberglauben für einen Mangel an Selbstvertrauen und das Vorurteil für einen Mangel an Bildung ...

Aber ich bin dennoch nicht nach Chikago gefahren.


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