Joseph Victor von Scheffel
Ekkehard
Joseph Victor von Scheffel

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Folgenden Tages ging's in festlichem Zuge talab. Der alte Senn hatte sein feinstes Linnen angetan und sah vergnügt drein wie ein Patriarch; die rundliche Lederkappe auf dem Haupt, den schönsten Melknapf über der linken Schulter schritt er voraus und sang den Kuhreigen jugendhell und tapfer, ihm folgten Benedictas Ziegen, die Plänkler der großen Heerschar, die Hirtin mit ihnen, die letzten Alpenrosen mit schon vergilbten Blättern ins dunkle Gelock geflochten. Jetzt kam die schwarzgefleckte große Susanna, die Königin der Herde, als Zeichen des Vorrangs die schwere Glocke um den Hals; ehrbar und stolz war ihr Gang, und wenn eine der Nachfolgenden ihr vorauszuschreiten wagte, so warf sie ihr einen verächtlichen hornstoßdrohenden Blick zu, daß die Anmaßende erschrocken zurückwich. Schwerfällig schritten die anderen bergab. Ade, du schmackhaftes Alpengras, du fröhlich Widerkäuen! dachte manch ein fettgeworden Kühlein und knickte sich im Vorbeistreifen noch die letzten Blumen am Pfade.

Der Stier trug den einfüßigen Melkstuhl zwischen den Hörnern, auf des Gewaltigen Rücken saß der Handbub verkehrt und hielt die ausgestreckten Finger beider Hände an seine nicht allzufein geformte Nase und rief zu den Berggipfeln hinauf: Der Sommer ist gegangen und hat den Herbst gebracht, jetzt wünschen wir einand eine gute, gute Nacht; ihr stille schneeige Herren, lebt wohl itzt allerseit, ich wünsch' euch wohl zu schlafen die ganze Winterszeit! Ein Schlitten mit der Sennhütte Geschirr und Ausrüstung schloß den Zug.

Und Sennen und Herde und Ziegen verschwanden im Tannenwald, verhallend tönte Hirtensang und Schellengeläut aus der Ferne, dann ward's still und einsam wie in jener Abendstunde, da Ekkehard zuerst vor dem Kreuz des Wildkirchleins gekniet war. Er trat in seine Klause. Es war ihm in seinem stillen Bergleben klar geworden, daß die Einsamkeit nur eine Schule fürs Leben ist, nicht das Leben selbst, und daß wertlos verderben muß, wer in der grimmen Welt immerdar nur müßig in sich hineinschauen will.

Es hilft nicht, sprach er, auch ich muß wieder zu Tale. Der Schnee weht zu kalt und ich bin zu jung, kann kein Einsiedel bleiben.

Fahr wohl, du hoher Säntis, der treu um mich gewacht,
Fahr wohl, du grüne Alpe, die mich gesund gemacht!
Hab' Dank für deine Spenden, du heil'ge Einsamkeit,
Vorbei der alte Kummer – vorbei das alte Leid.
Geläutert ward das Herze, und Blumen wuchsen drin:
Zu neuem Kampf gelustig steht nach der Welt mein Sinn.
Der Jüngling lag in Träumen, dann kam die dunkle Nacht;
In scharfer Luft der Berge ist jetzt der Mann erwacht!

Er griff seine Reisetasche und legte seine wenige Habe drein. Sein Teuerstes, das Waltharilied, sorgsam verhüllt, tat er oben drauf; ein Lächeln umspielte sein Antlitz, wie er noch etliche Gerätschaften umherstehen sah. Auf dem Felsrand stund die halbausgeschriebene Flasche mit Schreibsaft, die griff er und warf sie hinaus in die Tiefe, daß sie in glitzernde Splitter zerschmettert ward. Die dreieckige Harfe lehnte wehmütig an der Rasenbank vor der Höhle. Du sollst zurückbleiben und dem, der nach mir kommt, seine stillen Stunden versüßen, sprach er. Aber kling ihm nicht matt und nicht süß, sonst mög' es aus den Tropfsteinen in deine Saiten träufeln, daß sie einrosten, und der Sturm von den Gletschern drüber fahren, daß sie bersten!

Ich hab ausgesungen.

Er hängte die Harfe an einen Nagel.

In währender Klausnerzeit hatte er sich einen starken Bogen geschnitzt, Köcher und Pfeile waren noch aus Gottschalks Nachlaß droben, die nahm er jetzt als gut Gewaffen zur Hand, – gerüstet, im Wolfsmantel stand er vor der Klause und tat noch einen langen, langen Blick nach der Stätte glücklicher Sommerfrische und hinüber zu den vielteuren Gipfeln und hinunter, wo aus dem Tannendunkel der Seealpsee meergrün aufglänzte. Es war so schön wie immer. Der Mauerspecht, der die gleiche Bergritze zu seiner Behausung erkoren, flog ihm traulich auf die Schulter und pickte ihm mit hämmerndem Schnabel die Wangen, dann schwang er sein schwarzrot Gefieder hinauf in die blauen Lüfte, als woll' er dem hohen Säntis des Einsiedels Abzug vermelden.

Aber Ekkehard stieß seinen Speer auf und wandelte den gewohnten, schwindelnden Pfad hinunter. An der Felswand zum Äscher hielt er noch einmal und winkte hinauf zu seiner Siedelei und tat einen Jodelruf, daß es am Kamor erklang und am hohen Kasten und rollender Widerhall an der Maarwiese vorbei zog bis in die fernsten Winkel des Gebirges. Der kann's! sprach ein heimkehrender Hirt unten im Tal zu seinem Gefährten.

Schier wie ein Geisbub! sagte der andere, als Ekkehard jenseits der Felswand verschwand.

– – Der aufgehende Tag hatte schon etlichemal seine Strahlen auf das Wildkirchlein geworfen, das traurig einem verlassenen Nest gleich ins Tal hinunterschaute. Der Bergbruder kam nimmer zurück.

Am Bodensee rüstete man zur Weinlese. An einem milden Abend saß Frau Hadwig im Gärtlein ihrer Burg, die treue Praxedis zur Seite. Die Griechin hatte unerquickliche Zeiten. Ihre Gebieterin war verstimmt, mißzufrieden, unzugänglich. Auch heute wollte ein Gespräch nicht gelingen. Es war ein schlimmer Gedächtnistag.

Heut ist's ein Jahr, hub Praxedis scheinbar gleichgültig an, daß wir über den Bodensee fuhren und beim heiligen Gallus ansprachen. Die Herzogin schwieg. – Es ist viel geschehen seitdem, wollte Praxedis beifügen – das Wort verhauchte auf den Lippen.

Wißt Ihr auch, gnädige Herrin, was die Leute von Ekkehard sagen? fuhr sie nach geraumer Weile fort.

Frau Hadwig schaute auf. Es zuckte um ihre Lippen. Was sagen die Leute? sprach sie gleichgültig.

Herr Spazzo hat neulich den Abt von Reichenau getroffen, erzählte Praxedis, der sagte: Wisset Ihr auch etwas Neues? Den Alpen ist Heil widerfahren, das Joch des Säntis ertönt von Lyraklang und Dichtergezwitscher, ein neuer Homer hat sich droben eingenistet, und wenn er wüßte, in welchen Höhlen die Musen hausen so könnt' er ihren Reigen anführen wie ein cynthischer Apollo... Insuper et alpes philosophantur, sub quibus jugum Sambutinum Rihpertus lyrico possidet sono, et si nosset antra musarum, esset et talis, ut Cynthius Apollo. Aus einem Brief des Mönches Ermenrich von Reichenau, bei I. v. Arx, a. a. O. p. 14. Und wie Herr Spazzo kopfschüttelnd erwiderte: Was geht das mich an? da sprach der Abt: Es ist Euer Ekkehard, aus der Klosterschule von Sankt Gallen hat's die Fama zu uns getragen. Herr Spazzo hat lachend dazu gesagt: Wie kann der singen, der nicht einmal erzählen kann?

Die Herzogin war aufgestanden. Schweig! sprach sie, ich will nichts davon wissen. Praxedis kannte das Zeichen ihrer Hand und ging betrübt von dannen.

Frau Hadwigs Herz aber dachte anders, als ihre Zunge sprach. Sie trat an des Gärtleins Mauerwehr und schaute hinüber nach den helvetischen Bergen. Dämmerung war eingebrochen, schwerfällige lange stahlgraue Wolkenstreifen standen unbeweglich über dem Abendrot, wie darauf genagelt, das zitterte und flammte wehmütig drunter vor. Im Rinnen und Zerrinnen des letzten Tagesstrahls ward auch ihr Denken weich. Ihr Auge blieb drüben auf dem Säntis haften, – es war ihr, als hätte sie eine Erscheinung, als täte sich der Himmel auf und seine Engel kämen durch die Lüfte gefahren und senkten sich hernieder zu jenen Höhen und brächten einen Mann getragen im wohlbekannten Mönchsgewand – und der Mann war blaß und tot und ein Lichtglanz, schön und lauter, umschwebte das luftige Geleit...

Aber Ekkehard war nicht gestorben.

Ein zischender leiser Ton schreckte die Herzogin auf, ihr Auge streifte an dem Felsabhang vorüber, über den einst der Gefangene entronnen, eine dunkle Gestalt entschwand im Schatten, ein Pfeil kam über Frau Hadwigs Haupt geflogen und sank langsam zu ihren Füßen nieder.

Sie hob das wundersame Geschoß auf. Nicht Feindeshand hatte es dem Bogen entschnellt, feine Blätter Pergamentes waren um den Schaft gewunden, die Spitze umhüllt mit einem Kränzlein von Wiesenblumen. Sie löste die Blätter und kannte die Schrift.

Es war das Waltharilied. Auf dem ersten Blatt stund mit blaßroten Buchstaben geschrieben: Der Herzogin von Schwaben ein Abschiedsgruß! und dabei stund der Spruch des Apostels Paulus: Selig der Mann, der die Prüfung bestanden!

Da neigte die stolze Frau ihr Haupt und weinte bitterlich. –

 

Hier endet unsere Geschichte.

Ekkehard zog in die weite Welt, er hat den hohen Twiel nimmer gesehen, auch sein Kloster Sankt Gallen nicht. Er hatte sich zwar überlegt, ob er nicht bußfertig wieder eintreten wolle, wie er von den Alpen niedersteigend den bekannten Mauern nahe gekommen war. Aber es fiel ihm ein Sprichwort seines alten Alpmeisters ein: wenn einer lang Senn war, wird er nimmer gern Handbub – und er ging vorbei. Man hat später am Hofe der sächsischen Kaiser viel von einem Ekkehard gehört, der ein stolzer, trotziger, in sich gekehrter Mann gewesen, bei frommem Gemüt von tiefer Verachtung der Welt beseelt, aber lebensfrisch und gewandt, in jeglicher Kunst erfahren. Er war des Kaisers Kanzler, erzog dessen jugendlichen Sohn, sein Rat galt viel in des Reichs Geschäften. In kurzem, schreibt ein Geschichtschreiber von ihm, erschien er ihnen als ein so Hervorragender, daß es durch aller Mund ging, sein warte noch die höchste Würde der Kirche.

Die Kaiserin Adelheid wandte ihm ihre volle Hochachtung zu.Assumptus est interea in aulam Ottonum patris et filii... Ekkehardus, ut capellae semper immanens doctrinae adolescentis regis nec non et summis dexter esset consiliis. Ibique in brevi tantus apparuit, ut in ore omnium esset, summum eum aliquem exspectare pontificatum. Nam et Adelheida regina illum, nunc sancta, per se diligebat. Ekkeh. IV. casus S. Galli c. 10. bei Pertz, II. 126. Er war auch einer der Hauptursächer, daß der übermütige Dänenkönig Knut mit Heeresmacht überzogen ward.

Es ist unbekannt, ob dies derselbe Ekkehard war, von dem unsere Geschichte erzählte.

Andere haben auch behauptet, es seien mehrere des Namens Ekkehard im Kloster Sankt Gallen gewesen, und der den Walthari dichtete, sei nicht der nämliche, der die Herzogin Hadwig des Lateins unterwies. Aber wer der Geschichte, die wir jetzt glücklich zu Ende geführt, aufmerksam folgte, weiß das besser. – Von den weiteren Schicksalen der übrigen, die unsere Erzählung in buntem Wechsel der Gestalten vor des Lesers Auge gestellt hat, ist wenig zu berichten.

Die Herzogin Hadwig vermählte sich nicht wieder und erreichte in frommem Witwenstand ein hohes Alter. Sie stiftete später ein bescheidenes Kloster auf dem hohen Twiel und vergabte ihm ihre Güter in alemannischen Landen. Über Ekkehard durfte in ihrer Gegenwart nie mehr gesprochen werden; aber das Waltharilied ward fleißig von ihr gelesen und war ihre stete Trösteinsamkeit; nach einer unverbürgten Aussage der Mönche von Reichenau soll sie es sogar fast ganz auswendig gewußt haben.

Praxedis diente ihrer Herrin noch etliche Jahre getreu, aber mählich und mählich stieg eine unbezwingliche Sehnsucht nach ihrer sonnigen farbenprächtigen Heimat in ihr auf, und sie behauptete, die schwäbische Luft nimmer ertragen zu können. Reich beschenkt ward sie von der Herzogin verabschiedet; Herr Spazzo, der Kämmerer, gab ihr ein ritterlich ehrsam Geleite bis gen Venetia. Eine griechische Galeere trug die immer noch anmutige Jungfrau von der Stadt des heiligen Marcus gen Byzantium. Die Erzählungen, die sie dort machte vom Bodensee und den wilden treuen Barbarenseelen.. barbarum ferocia ad ferrea corda. Nithard, lib. I. 1. an seinen Ufern, wurden von sämtlichen Kammerfrauen am griechischen Kaiserhof mit bedenklichem Kopfschütteln aufgenommen, als spräche sie von einem verzauberten Meer und einem Lande der Fabel.

Moengal, der Alte, sorgte noch eine geraume Zeit für das Seelenheil seiner Pfarrkinder. Als die Hunnen wieder mir räuberischem Einfall drohten, beschäftigte er sich lange mit einem Plan zu ihrem Empfang. Er schlug vor, auf dem Blachfeld etliche hundert tiefe Fallgruben zu graben, sie mit Baumzweigen und Farrenkraut zu überdecken und hinter ihnen in Schlachtordnung den ansprengenden Feind zu erwarten, auf daß Roß und Reiter in jähem Sturz zu Schanden würden. Die schlimmen Gäste ließen sich aber nicht wieder im Hegau blicken und ersparten dem Leutpriester das Vergnügen, ihnen mit wuchtigen Keulenschlägen die Schädel zu zertrümmern. Ein sanfter Tod ereilte den alten Weidmann, als er gerade von einer wohlgelungenen Falkenjagd auszuruhen gedachte.

Auf seinem Grab im Schatten der grauen Pfarrkirche wuchs eine Stechpalme, die ward so knorrig und groß, wie man früher keine gesehen, daß die Leute sagten, es müsse ein Ableger von ihres Pfarrherrn braver Keule Cambutta sein.

Audifax, der Ziegenhirt, lernte die Goldschmiedkunst und zog hinüber nach Konstanz an des Bischofs Sitz und schuf viel schöne Arbeiten. Er führte die Gefährtin seines Abenteuers als angetrautes Ehgemahl heim, die Herzogin war der Taufpate ihres ersten Söhnleins.

Burkard, der Klosterschüler, ward ein gefeierter Abt des sanktgallischen GotteshausesDomnus Purchardus abbas, elegantissimum sanctae ecclesiae Speculum. Annales San Gallenses majores bei Pertz, Mon. I. 82. und verfertigte bei feierlichen Anlässen noch manches Dutzend gelehrter lateinischer Verse, mit denen jedoch, dank der zerstörenden Unbill der Zeit, die Nachwelt verschont geblieben ist.

... Und alle sind längst Staub und Asche, die Jahrhunderte sind in raschem Flug über die Stätten weggebraust, wo ihre Geschicke sich abspannen, und neue Geschichten haben die alten in Vergessenheit gebracht.

Der hohe Twiel hat noch vieles erleben müssen in Kriegs- und Friedensläuften; zu manch einem tapferen Reiterstücklein ward aus seinen Toren geritten und manch ein gefangener Mann trauerte in seinen Gewölben, bis auch der stolzen Feste ihr Stündlein schlug und an einem schönen Maientag der Berg in seinem Innersten zusammenschütterte und von Feindeshand gesprengt Turm und Mauer in die Lüfte flog.

Jetzo ist's still auf jenem Gipfel, die Ziegen weiden friedlich unter den riesigen Trümmerstücken, – aber über dem glänzenden Bodensee grüßt der Säntis aus blauer Ferne so anmutig und groß herüber wie vor viel hundert Jahren, und es ist immer noch ein vergnüglich Geschäft, ins schwellende Gras gelagert eine Umschau zu halten über das weite Land.

Und der dies Büchlein niedergeschrieben, ist selber manch einen guten Frühlingsabend droben gesessen, ein einsamer fremder Gast, und die Krähen und Dohlen flatterten höhnisch um ihn herum, als wollten sie ihn verspotten, daß er so allein sei, und haben nicht gemerkt, daß eine bunte und ehrenwerte Gesellschaft um ihn versammelt war, denn in den Trümmern des Gemäuers standen die Gestalten, die der Leser im Verlauf unserer Geschichte kennen gelernt, und erzählten ihm alles, wie es sich zugetragen, haarscharf und genau, und winkten ihm freundlich, daß er's aufzeichne und ihnen zu neuem Dasein verhelfe im Gedächtnis einer spätlebenden eisenbahndurchsausten Gegenwart.

Und wenn es ihm gelungen ist, auch dir, vielteurer Leser, der du geduldig ausgehalten bis hieher, ein anschaulich Bild zu entwerfen von jener fernen abgeklungenen Zeit, so ist er für seine Mühe und einiges Kopfweh reichlich entschädigt. Gehab dich wohl und bleib ihm fürder gewogen!


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