Joseph Victor von Scheffel
Ekkehard
Joseph Victor von Scheffel

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Neunzehntes Kapitel

Burkard, der Klosterschüler

Rudimann, der Kellermeister, war kein falscher Rechner. Eine Rolle Pergament in einem Lachsrachen muß Neugier erregen. Während Herr Spazzo den Reichenauer Klosterwein getrunken, war seine Gebieterin mit Praxedis im stillen Kabinett an Entzifferung der Gunzoschen Schrift gesessen; die Schülerinnen Ekkehards hatten des Lateinischen genug gelernt, um die Hauptsachen zu verstehen; was grammatisch unklar blieb, errieten sie, was nicht zu erraten war, setzten sie nach eigenem Gutdünken zusammen.

Praxedis war empört. Ist denn die Nation der Gelehrten überall wie in Byzanzium? sprach sie. Erst die Mücke zum Elefanten gemacht und dann einen Feldzug gegen das selbstgeschaffene Ungetüm begonnen! Das Reichenauer Geschenk schmeckt essigsauer. – Sie verzog den lieblichen Mund wie damals, da sie Wiborads Holzäpfel kosten mußte.

Frau Hadwig war sonderbar bewegt. Ein unheimlich Gefühl sagte ihr, daß in Gunzos Blättern ein Geist sein Wesen treibe, der nicht vom Guten, aber sie gönnte Ekkehard die Demütigung.

Ich glaube, er hat die Zurechtweisung verdient, sprach sie.

Da sprang Praxedis auf. Unser braver Lehrer verdient manche Zurechtweisung, rief sie, aber das sollte unsere Sache sein. Wenn wir ihm seine blöde Schwerfälligkeit wegschulmeistern, tun wir ein gutes Werk. Aber wenn einer mit dem Balken im Aug' dem andern den Splitter vorwirft, das ist zu arg. Die bösen Mönche haben das nur angebracht, um ihn anzuschwärzen. Darf ich's zum Fenster hinauswerfen, gnädige Herrin?

Wir haben Euch weder um Ekkehards Erziehung noch um Werfung eines Gastgeschenks zum Fenster hinaus ersucht, sprach die Herzogin bitter. Praxedis schwieg.

Die Herzogin konnte sich von der eleganten Schmähschrift lange nicht trennen. Ihre Gedanken waren dem blonden Mönch nicht mehr zugewendet wie damals, als er sie über den Hof des heimischen Klosters trug. Im Augenblick überschwenglichen Gefühls nicht verstanden werden, ist gleich der Verschmähung, der Stachel weicht nicht wieder. Wenn sie ihn jetzt erschaute, pochte das Herz nicht in höherem Schlag; oft war's Mitleid, was ihre Blick ihm noch zuführte, aber nicht jenes süße Mitleid, aus dem die Liebe aufsprießt wie aus kühlem Grunde die Lilie – es barg einen bösen Keim von Geringschätzung in sich.

Durch Gunzos Schmähschrift ward auch das Wissen, das die Frauen seither hoch an ihm gehalten, in Staub gezogen, was blieb noch Gutes? Das stille Weben und Träumen seiner Seele verstand die Herzogin nicht, zarte Scheu ist in anderer Augen Torheit. Daß er in der Frühe ausgegangen, das hohe Lied zu lesen, war zu spät; er hätte das im vorigen Herbst tun sollen...

Der Abend dunkelte.

Ist Ekkehard heimgekehrt? fragte die Herzogin.

Nein, sprach Praxedis, Herr Spazzo auch nicht.

Dann nimm den Leuchter, befahl Frau Hadwig, und trage die Pergamentblätter auf Ekkehards Turmstube. Er darf nicht ununterrichtet bleiben von seiner Mitbrüder Werken.

Die Griechin gehorchte, aber unfroh. In der Turmstube droben war schwüle Hitze. Ungeordnet lagen Bücher und Gerätschaften umher. Auf dem Eichentisch war das Evangelium des Matthäus aufgeschlagen: »Am Geburtsfest des Herodes aber tanzte der Herodias Tochter vor der Gesellschaft, und sie gefiel dem Herodes, daß er ihr mit einem Eidschwur verhieß zu geben, um was sie bitten wollte, und sie sprach: Gib mir auf einer Schüssel den Kopf Johannes des Täufers!...«

Die priesterliche Stola, Ekkehards Weihnachtsgeschenk von der Herzogin, lag daneben, die goldgewirkten Fransen hingen über das Fläschlein mit Jordanwasser, das ihm der alte Thieto einst mitgegeben.

Da schob Praxedis alles zurück und legte Gunzos Epistel auf den Tisch; es tat ihr leid, wie sie alles geordnet. Beim Fortgehen wandte sie sich, tat das Fenster auf, riß ein Zweiglein von dem üppig am Turm sich emporschlingenden Efeugerank und warf's drüber hin.

Ekkehard war spät heimgekommen. Er hatte den wunden Cappan gepflegt; noch größere Arbeit war es ihm, des Hunnen langes Ehegemahl zu trösten. Nachdem das erste Wehgeheul verstummt und ihre Tränen getrocknet, war bis nach Sonnenuntergang ihre Rede nur ein einziger großer Fluch auf den Klostermeier, und wenn sie ihren starken Arm gen Himmel hob und von Augauskratzen und Bilsenkraut in die Ohren gießen und Zähneeinschlagen sprach, und ihre braunen Zöpfe wildbedrohlich im Winde flatterten, so bedurfte es eindringlichen Zuspruchs, sie zu beruhigen. Doch war's gelungen.

In der Stille der Nacht las Ekkehard die Blätter, die ihm die Griechin in seine Stube gelegt. Seine Hand spielte mit einer wilden Rose, die er heimgehend im Tannenwald gepflückt, während sein Auge die geharnischten Angriffe des welschen Gelehrten aufnahm.

Woher mag es kommen, dachte er und sog den Duft der Blume ein, daß so vieles der Tinte Entsprossenes seinen Ursprung nicht verleugnen kann? Alle Tinte kommt vom Gallapfel und aller Gallapfel vom bösen Wespenstich...

Mit heiterem Antlitz legte er schließlich die gelben Pergamentblätter weg. Eine gute Arbeit – eine recht fleißige gute Arbeit – o der Wiedehopf ist auch eine wichtige Person unter dem fliegenden Getier! Aber die Nachtigall hat kein Ohr für seinen Gesang... Er schlief ausgezeichnet gut nach seiner Lesung.

Wie er des andern Morgens von der Burgkapelle zurückschritt über den Hof, traf er auf Praxedis.

Wie geht's Euch, Hunnentäufer? sprach sie leicht, ich bin ernstlich um Euch besorgt. Es hat mir geträumt, ein großer brauner Meerkrebs sei den Rhein herauf geschwommen und aus dem Rhein in den Bodensee, und vom Bodensee sei er auf unsere Burg gekrochen und hätt' schneidige Scheren und hätt' Euch drein geklemmt und scharf ins Fleisch geschnitten. Der Seekrebs heißt Gunzo. Habt Ihr noch viel so gute Freunde?

Ekkehard lächelte.

Ich mißfalle manchem Mann, der mir auch nicht gefallen kann, sprach er. Wer an rußige Kessel anstößt, kann leichtlich schwarz werden.

Scheint Euch aber ganz gleichgültig zu sein – sprach Praxedis. Ihr solltet Euch schon heut auf eine Antwort besinnen. Siedet den Krebs rot ab, dann beißt er nimmer.

Die Antwort, erwiderte Ekkehard, hat ein anderer für mich gegeben. Wer zu seinem Bruder spricht: Rakka! wird des hohen Rates schuldig sein, und wer sagt: du Narr! wird des höllischen Feuers schuldig sein.

Ihr seid recht fromm und mild, sagte Praxedis, aber sehet zu, wie weit Ihr damit in der Welt kommt. Wer sich seiner Haut nicht wehret, dem wird sie abgezogen. Auch den schlechten Feind sollt Ihr nicht gering anschlagen. Sieben Wespen zusammen stechen ein Roß tot.

Die Griechin hatte recht. Stumme Verachtung unwürdigen Angreifers gilt allzuleicht für Schwäche. Aber es war Ekkehards Natur so.

Praxedis trat einen Schritt auf ihn zu, daß er betroffen zurückwich. Soll ich Euch noch einen guten Rat geben, Ehrwürdigster, sprach sie. Er nickte schweigend.

Ihr schreitet wieder viel zu ernst einher; es möchte einer glauben, Ihr wollet mit Sonne und Mond Kegel schieben, wenn Ihr des Weges kommt. 's ist heißer Sommer jetzt, die Kapuze macht Euch schwül. Lasset Euch ein linnen Gewand beschaffen und meinetwegen auch den Schloßbrunnen übers Haupt rieseln, aber seid fröhlich und guter Dinge. Die Herrin möchte sonst recht gleichgültig für Euch werden.

Ekkehard wollte ihr die Hand reichen; es deuchte ihm zuweilen, als sei Praxedis sein guter Engel. Da kam langsamen Hufschlages Herr Spazzo in den Burghof eingeritten. Sein Haupt senkte sich dem Sattelknopf entgegen, bleiernes Lächeln war über das müde Antlitz gegossen, halb schlief er.

Euer Gesicht hat sich namhaft verändert seit gestern, rief ihm Praxedis zu. Warum fliegen keine Funken mehr unter Faladas Huf?

Er schaute mit stieren Augen zu ihr herab. Es flimmerte vor seinem Blick.

Bringt Ihr auch ein erklecklich Schmerzensgeld mit, Herr Kämmerer?

Schmerzensgeld? für wen? fragte Herr Spazzo stumpf.

Für den armen Cappan! Ich glaube, Ihr habt eine Hand voll Mohnkörner gegessen, daß Ihr nimmer wisset, warum Ihr ausgeritten...

Mohnkörner? sprach Herr Spazzo mit dem gleichen Ausdruck, Mohnkörner? Nein. Aber Meersburger, roten Meersburger, ungefügigen hundertschlündig 

dô huob er ûf unde tranc                
ein hundert slundigen trunc;
er sprach »daz machet mich junc«.
der Weinschwelg v. 197.
zu trinkenden roten Meersburger! ja!

Er stieg schwerfällig vom Roß und zog sich in seine Gemächer zurück. Der Bericht über seiner Sendung Erfolg blieb unerstattet. Praxedis schaute dem Kämmerer nach, sie begriff den Grund seiner bleischweren Gemütstimmung nicht ganz.

Habt Ihr noch nie davon erzählen gehört, daß einem gesetzten Manne Gras, Blumen und Klee und aller Kräuter Meisterschaft, die Würze und aller Steine Kraft, der Wald und alle Vögelein – nicht so zur Erquickung frommen als ein alter Wein? sprach Ekkehard zur Ergänzung. Aber schon der jüdische Prophetenknabe sprach zum König Darius, da die Kriegsleute und Amtmänner aus Morgenland um den Thron standen und stritten, wer der stärkste sei: der Wein ist der stärkste, der überwältigt die Männer, die ihn trinken, und fährt ihre Gemüter in Irrtum.

Praxedis hatte sich weggewendet und stand an den Zinnen der Mauerbrüstung.

Seht einmal hinunter, Sonne der Wissenschaft, sprach sie zu Ekkehard, was kommt dort für ein sauber geistlich Männlein gewandelt?

Ekkehard beugte sich über die Mauer und schaute an der senkrecht aufstrebenden Felswand hinab. Zwischen den Stauden am Burgweg wandelte ein braunlockiger Knabe; er trug ein Mönchsröcklein, das bis an die Knöchel reichte, Sandalen am nackten Fuß, einen ledernen Ranzen auf dem Rücken, den eisenbeschlagenen Wanderstab in der Hand. Ekkehard kannte ihn noch nicht.

Nach einer Weile stand er am Burgtor.

Er hielt die Hand vor die Augen und schaute in das weite schöne Land hinaus. Dann trat er in den Hof und ging gemessenen Schrittes auf Ekkehard zu.

Es war Burkard, der Klosterschüler, Ekkehards Schwestersohn, der von Konstanz herüberkam, seinem jungen Oheim einen Ferienbesuch abzustatten.

Er machte ein feierlich Gesicht und sprach den Begrüßungsspruch, als hätte er ihn auswendig gelernt.

Ekkehard küßte den wohlerzogenen Schüler, der in den fünfzehn Jahren seines Lebens noch keinen einzigen dummen Streich begangen. Burkard richtete Grüße von Sankt Gallen aus und brachte eine Epistel Meister Ratperts, der sich behufs vergleichender Studien von Ekkehard Auskunft erbat, in welcherlei Fassung und Wortlaut er gewisse schwierige Stellen im Virgilius zu übersetzen pflege. Heil, Gedeihen und Fortschritt in der Erkenntnis!.. Salutem et profectum in doctrina! Brief Meister Ruodperts von St. Gallen bei Wackernagel, altdeutsches Lesebuch p. 138. lautete des Briefes Abschiedsgruß.

Ekkehard begann ein langes Fragen nach seinen dortigen Brüdern. Aber Praxedis fiel ihm in die Rede.

Lasset doch den frommen jungen Mann ausruhen. Trockene Zunge erzählt nicht gern. Komm mit mir, Männlein, du sollst uns ein lieberer Besuch sein als der böse Rudimann von der Reichenau.

Vater Rudimann? sprach der Knabe, den kenne ich auch.

Woher? fragte Ekkehard.

Er ist vor wenig Tagen bei uns gewesen und hat dem Abt ein großes Schreiben überbracht und eine Schrift; es soll vieles über Euch drin stehen, liebwerter Ohm, und nicht lauter Schönes.

Hört! sprach Praxedis.

... und wie er Abschied genommen, ist er nur bis zur Kirche gegangen; dort hat er gebetet, bis daß es dunkel war. Er muß aber alle Gänge und Schliche im Kloster kennen, wie die Glocke die Schlafstunde angeläutet, ist er heimlich und auf den Zehen ins große Dormitorium geschlichen, um zu lauschen, was die Brüder vor Einschlafen über Euch und über das, was in seiner Schrift stand, zusammen sprechen würden. Die Nachtkerze hat trüb geflackert, daß er im Verborgenen niedersetzen konnte. Aber um Mitternacht ist der Vater Notker Pfefferkorn gekommen, der hat die Runde gemacht, nachzuschauen, ob jeder seinen Gürtel fest ums Gewand geschlungen, und ob kein Messer oder schädlich Gewaffen im Schlafgemach sei. Der hat den Fremden hervorgezogen aus seinem Versteck, und die Brüder sind aufgewacht, und die große Abtslaterne ist angezündet worden, mit Stecken und Stangen und der siebenfältigen Geißel aus der Geißelkammer sind sie herbeigesprungen und war ein großer Lärm und Geschrei, trotzdem daß der Dekan und die Alten abwinkten. Notker Pfefferkorn selber war hoch ergrimmt. Der Teufel geht lauernd umher und sucht, wen er verschlinge, rief er, wir haben den Teufel, züchtiget ihn!

Vater Rudimann aber ist noch recht höhnisch gewesen; ich gestehe, treffliche Jünglinge, hat er gesagt, wenn ich wüßte, wo der Zimmermann einen Weg offen gelassen, so würde ich auf Händen und Füßen von dannen gehen; nun aber, da ich gern oder ungern euch in die Hände fiel, so gedenket, daß ihr eurem Gastfreund keine Schande antuet... si fugae, inquit, copiam haberem, invenum optimi, profecto fugerem, nunc autem in vestris quia velim nolim sum manibus, mitius mecum quidem vos condecet agere. Siehe die ganze Schilderung von Rudimanns nächtlichem Einschleichen und Ertappung bei Ekkeh. IV. casus S. Galli c. 10. Pertz, Mon. II. 124. Da wurden sie alle wild und schleppten ihn in die Geißelkammer; nur auf den Knien konnt' er sich losbitten, und als endlich der Abt sprach: Wir wollen das Füchslein heimspringen lassen in seinen Bau, da hat er sich höflich bedankt.

Ich bin gestern einem Fuhrwerk mit zwei großen Weinfässern vorbeigekommen; der Kellermeister der Reichenau schicke das dem heiligen Gallus für freundschaftliche Aufnahme, hat der Fuhrmann zu mir gesagt...

Davon hat Herr Rudimann nichts gemunkelt, wie er gestern bei uns war, sprach Praxedis. Für die Geschichte verdienst du ein Stück Kuchen, Goldsohn, du erzählst ja wie ein Jubelgreis.

O, sprach der Klosterschüler halb beleidigt, es heißt nichts. Aber ich werde ein Gedicht darüber machen: Des Wolfs Einbruch im Schafstall und Strafe, – ich hab's schon halb im Kopf, das muß schön werden.

Du machst auch Gedichte, junger Neffe? sprach Ekkehard heiter.

Das wär' kein guter Klosterschüler, gab der Junge zur Antwort, der vierzehn Jahre alt würde und keine Gedichte machen könnte. Meinen Lobgesang auf den Erzengel Michael in doppelt gereimten Hexametern hab' ich dem Abte vorlesen dürfen; er hat meine Verse eine glänzende Perlenschnur geheißen. Und meine sapphische Ode zu Ehren der frommen Wiborad ist auch recht schön, soll ich sie vortragen?

Um Gottes willen! sprach Praxedis, glaubst du, man fällt bei uns nur zum Burgtor herein und trägt gleich Oden vor? Wart erst dein Stück Kuchen ab.

Sie sprang zur Küche und ließ den gelehrten Neffen Ekkehards im Gespräch mit seinem Oheim unter der Linde zurück. Der plauderte dann ein Namhaftes von Trivium und Quadruvium; weil gerade der Fels von Hohentwiel im Morgenlicht einen feingezeichneten Schatten über das flache Land warf, erging sich der Klosterschüler in einer weitläufigeren Disputation über den Grund des Schattens, als welchen er mit Sicherheit einen dem Licht entgegenstehenden Körper bezeichnete und alle andere Definition in ihrer Nichtigkeit nachwies.


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