Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Olivia.

Die Mutter, welche, so wie Walter, mit wenigen Worten den Vorfall vernommen, hatte am andern Morgen die arme, von ihrem eigenen bösen Wahn und Zutrauen ermangelnden Herzen getäuschte Olivia besucht. Sie kam, ihrem Sohne Richard die Nachricht zu bringen, daß seine Gemahlin ganz gesund und wohl scheine, aber sie habe – was man auch sonst rühmen und als hoch und himmlisch preisen möge – dennoch den größten Schatz des Menschen, der ihn erst zum Menschen mache: die Erinnerung verloren, und wisse Nichts von Gestern, Vorgestern, oder von irgend Etwas aus ihrem früheren Leben. Olivia erscheine wie eine ganz neu angekommene Fremde in diesem Kreis, ja wie ein Kind, das nach heftigem Weinen gleich wieder lächelt. Sie habe sich über ihre eigene kleine Tochter gewundert, wie sie in ihr Zimmer gekommen sei, und habe befohlen, das Kind zu seiner Mutter zu tragen, die es vielleicht schmerzlich vermissen werde! Sie lächle immer freundlich, und es liege in ihren Zügen nur eine stille Verwunderung, und leise, leise Ueberraschung, wenn sie sonst gekannte Gegenstände wieder erblicke. Und doch bediene sie sich der zum Leben unentbehrlichen Dinge, als der Kleidung, wie jeder an sie Gewöhnte, ohne besonders daran zu denken. Da nur die Erinnerung ihre Qual gewesen, so habe die Natur für die arme Seele einen Ausweg getroffen, sie Alles, ihre Liebe wie ihren Schmerz, vergessen zu lassen, wie die Liebe und das Leben Anderer. So schwebe sie nur leicht im Augenblicke mit ruhigem Gemüth, aber leicht beweglich, wie die Oberfläche der See, die von jedem vorüberfliegenden Wölkchen Farbe annimmt, von jedem wechselnden Sonnenblicke wo anders schimmert. Sie habe etwas Scheuerregendes, ja Gespensterhaftes, aber dabei unaussprechlich Rührendes, und es sei umsonst, sich der Thränen enthalten zu wollen; sie selbst sei es nicht im Stande gewesen, und Olivia, die es bemerkt, habe sie mitleidsvoll gefragt, worüber sie weine.

Die Mutter hielt inne und trocknete sich die Thränen. Dann bat sie ihn: gehe und besuche sie, mein Sohn! Du kannst es ohne Rücksicht; dein Anblick wird ihr keine Schmerzen machen.

Richard antwortete bewegt: Aber der Anblick meiner Olivia nicht mir? O Mutter, jetzt muß ich mir ihre Worte wiederholen:

                   

Was rettet uns auf Erden,
Kann Leben, kindersanft und gut,
Kann Liebe, taubentreues Blut,
Ach, so unglücklich werden!

Gehe dennoch, mein Sohn! sprach die Mutter. Wenn wir Alles und alle Die vermeiden wollten, die uns Unrecht gethan, oder Leid erregen, so müßten wir aufhören zu leben, oder in die Wüste fliehen; so müßt' ich auch dich und Walter vermeiden, wie meinen Robert. Aber ich trag' Euch doch immer im Sinne, auch wenn ich Euch nicht sehe! Es ist doch das Beste, mit den Geliebten zu leben, auch wenn sie uns betrüben! Gehe, mein Sohn!

Sie hatte einen vollständigen Anzug von Olivia über dem linken Arm hängen, um ihn der noch aus Mangel an Kleidung in Richards Bett verweilenden jungen Türkin zu bringen; und auch für den Zwerg hatte sie Kleider von dem Affen ausgesucht, die ihm gerecht schienen. Sie bat Waltern, als der türkischen Sprache mächtig, mitzukommen, drückte noch theilnehmend Richard die Hand; dann gingen sie.

Richard machte einen Gang im Freien, um sich an der ewiggleichen Natur, an ihrer Sonne zu stärken, die zu Allem auf Erden lächelt; an ihren Blumen, die Wind und Regen wohl bewegt, aber ihnen nur desto kräftigere Gerüche entlockt. Die Blumen im Garten standen jetzt entzaubert; er beneidete die Aurikel, in deren Kelchen die Tropfen der ewigen Wasser nur als Thau standen, indeß sie Thränen waren in seinen Augen; aber wie sie hinabfielen über seine Wangen auf die Amaranten, waren sie, plötzlich verwandelt, schon wieder Wassertropfen, und blinkten in der Frühsonne wie Thau, der von ihrer Wärme bald verduftete. Dies stille Wahrnehmen gab ihm Hoffnung, daß auch seine Thränen alle verduften würden, seine Augen wieder munter und heiter glänzen, wie die Ranunkeln umher.

So beruhigt, und die Gegenwart schon wie eine Vergangenheit anschauend, ging er zu Olivia. Und er bedurfte dieser Stimmung. Denn sein Weib stand auf, als sie ihn hereintreten sah, kam ihm mit heiterem Anstand entgegen und fragte ihn bescheiden, wen sie vor sich zu sehen das Vergnügen habe, und welchem Ohngefähr sie diesen Besuch verdanke? – Mit Verwechselung der Personen kam er sich vor, wie die anerkannte Sakontala, und Olivia wie der bezauberte Duschmanta. Es ward ihm eigen, und Zweifel über sich selbst kamen in seine Gedanken. Eine Unterhaltung war gar nicht mit der über Alles leicht, wie eine Sylphide, Hinweggaukelnden anzuspinnen, oder doch nicht fortzuführen, denn ihre Gedanken rissen unaufhörlich wie die feinen goldenen Fäden eines Seidenkokons, ohne daß sie, wie ein am Webstuhl sitzendes Mädchen, dieselben wieder anknüpfen konnte oder nur wollte. Sie sprachen von den Dingen, wie auf verschiedenen Hügeln stehende Hirtenkinder von einem Regenbogen, deren jedes einen andern erblickt, jedes ihn auf andern Gegenständen fußen sieht. Er that sich alle Gewalt an, ihr Unglück nur so zu empfinden, wie Sie es empfand: als ein heiteres Glück; seine Gefühle schwebend zu erhalten, und beobachtete ihren Zustand einige Zeit, um ihn dem Arzte darlegen zu können.

Ihr Geist ist zerstreut, das Ich zerronnen, dachte Richard; das Leben hat aufgehört, ihr ein überschauliches zu sein. Ja sie hat umsonst gelebt, da sie ihre Vergangenheit verloren. Sie ist von der Höhe des Menschen herabgestürzt! Was nur jetzt ist, ist Nichts. Frucht oder Sat muß sein, was unsern Geist nähren soll mit dauernder Freude. Ohne Erinnerung ist der Mensch nur eine Sinnpflanze, nur sein eigenes flaches Bild. – Aber er mußte sich sogleich selbst widersprechen! Denn daß der Mensch auch ohne Erinnerung ein sittliches, ja göttliches Wesen bleibe, also das Höchste, was er ist; daß die Tugend nicht eine bloß dem Sterblichen aufgebürdete Pflicht und an die Zeit gebunden sei, bewies ihm deutlich Olivia, die aus aller Zeit entrückt, über das Gefühl der Sterblichen gehoben, doch nur Liebe, Adel und Reinheit wie eine Quelle jeden Augenblick neu aus ihrem Gemüthe hervortrieb; bewies das keusche Siegel, daß sie jedem ihrer Worte aufdrückte. Richard empfand, indem er Olivia wie eine Verklärte betrachtete, daß nicht das Gewissen, nicht Tod und Grab die Tugend erheischen – sonst könnten sie Engel nicht üben!

Dieses denkend, bewunderte er seine Olivia. Er mußte sie fast für eine Selige halten, und fing an, sie zu beneiden, indem er ihren Zustand mit seinem verglich. Sie schien ihn angesteckt zu haben mit ihrer Vergeßlichkeit; und wie sie unleugbar glücklich war, erleuchtete ihn der Gedanke, ja die tiefe Ueberzeugung: »Allesvergessen ist Allenmöglich. Allesvergessen ist den abgesprüheten Funken des Einen Geistes das größte Glück, die Heiligung, die Seligkeit. Allesvergessen ist ohne alle Entwürdigung, ohne allen wahren Verlust; denn der Geist ist ohne Erinnerung sein sittliches göttliches Wesen, voll Liebe und Adel, voll Keuschheit und Reinheit; also das Höchste, das Immer-einzig-selige, was sein kann.« So hatte er schon vorhin an ihr geschaut, jetzt sprach er es aus; und er hielt, weil er es wünschte, die Seele des Menschen überhaupt für eben so vergeßlich und ewig jung, wie ein Kind, wie Olivia's Seele; und alle vorigen Zustände, Gefühle und Gedanken schienen ihm gleichsam, wie ein Baum, mit immer neuen Rinden zu überwachsen. Und so wiederholt' er sich die Verse:

                   

Der Knabe, der ich war, ist längst verschwunden;
Ich war doch Er! und weiß nicht, wo ich bin!
Dem Jugendhain entstürmt' ein Jüngling hin,
Der sollt' ich sein, so sagten nun die Stunden!

Ein andrer Leib hab' ich mich stets gefunden,
Mit jedem Tag war ich ein andrer Sinn,
Vertauschte mich mit mir stets mit Gewinn,
Mit Neuem ward das Neu'ste selbst verbunden.

Der Knabe blieb im Jugendhain zu spielen,
Der Jüngling sich im Mädchenarm zu fühlen.
Ein jeder Tag behielt mich, der ich war;

Dort steh' ich mit den Tagen immerdar,
Verwandelt heiß' ich dann noch Greis zum Schluß –
Bald bin ich, der ich ewig bleiben muß.

Todt! rief er ernsthaft aus; und saß lange, einem Todten ähnlich, und sich todt träumend. Da sich aber Olivia vor ihn hinstellte und ihn anlächelte, so lächelte auch er.



 << zurück weiter >>