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Der Scheidebrief.

Am Abende sprach die Mutter mit Richard über Olivia. Sie hatte sie manchmal besucht und wußte um ihr Herz. Das Meiste hatte sie dennoch nur errathen können, da Olivia nicht über sich vermocht, den Sohn vor seiner Mutter zu verklagen.

»Ich habe dir Betrübendes zu sagen, mein Sohn, begann sie; und erst nach einigem Stillschweigen fuhr sie fort, wie zugleich aus ihrer eigenen Empfindung: daß doch der Schmerz so geheim den Menschen durchwühlen und zerstören kann! Er trägt ihn in der Brust, wie die Muschel die Perle, die ein sie nagendes Sandkorn mit ihren Lebenssäften umgiebt, als ihr fremdartig sondert, das wachsend und immer vollkommener sich ausbildend als Perle, ihre Nährerin endlich tödtet. Und sie, die Schwerbetrübte, ist wie in die Tiefe des Meeres versunken, und ein Geflecht dumpfer Gedanken durchwächst und versteinert gemach die ruhende Gestalt wie Korallenzweige. Die Unsicherheit, in welcher Olivia sich auf der Erde fühlt, wird nur ein Schwanken in ihrem Gange; düstere Nebel in dem Himmel ihres Hauptes, nur eine Thräne ihren Augen, und ihr Verzagen erscheint sogar als reizende Blässe auf ihren Wangen. Und wie die Rosenknospe, welche ein Wurm zernagt, sich nur desto fester verschließt, so verschließt ihre Lippe das innere, sie zernagende Leid.«

»Aber worüber leidet sie doch – sprach Richard, des Zürnens müde – über nichts Gegenwärtiges, bedünkt es mich! Sie hat alle Güter, alle Genüsse des Lebens im Ueberfluß, Kind und Gemahl, die sie lieben, wirklich lieben.«

»Ich zweifele nicht! versicherte die Mutter. Aber so nothwendig erscheint es dem Herzen, daß seine Gegenwart auf einem festen unwandelbaren und heitern Grund erbaut sei; nothwendig, daß der Gegenstand, den es lieben solle, nicht nur jetzt treu und tadellos sei, und es künftig zu bleiben verheiße – sondern vor Allem, daß er auch zuvor immer edel und rein, immer nur Einer, derselbe Gute gewesen. Dieses Anspruches wegen, den eben nur ein reines Gemüth fassen kann, möcht' ich Olivia um's Himmelswillen nicht tadeln, und begreife ihren Schmerz. Denn je edler ein Weib ist, je schwerer hört es auf zu lieben, und beginnt kaum erst nach tausend Thränen, den aus dem Herzen zu reißen und zu vergessen, den sie einmal geliebt hat. Von ihm getäuscht, bedünkt es uns unmöglich, daß dieser entlarvte Dämon nun der Engel sein soll, den wir liebten, nur lieben konnten! Und den Dämon, den wir verabscheuen, erblicken wir sichtbar vor uns; der aufgeflogene Engel aber erscheint uns selten und immer seltener, matt und matter, wie der Schatten eines Adlers aus dem Himmel noch auf der Erde umherschwebt; und die trostlose Gegenwart verdrängt zuletzt die freudenvolle Vergangenheit. Also im Gegentheil kann Olivia noch nicht fassen, daß der Dämon, den sie erblickt hat, nun ein Engel sei, daß er nicht immer noch bloß Engelsmaske trage! Schwer ist Zutrauen zurück zu gewinnen! Und wie sie gewiß als Kind schon keine Blume an die Brust gesteckt, die ihr kleines duftiges Gesicht – unbewußt von Wind oder Regen gebeugt – sich an der Erde beschmutzt, oder welche häßliche Spinnen mit ihren Fäden umwebt; so hätte sie auch, so arm und niedrig sie war, dich gewiß nie an ihr Herz gedrückt, wenn die Vergangenheit nicht ein Verborgenes wäre. Dasselbe Gefühl treibt sie jetzt an, dich zu vermeiden, ja selbst zu verlassen; und auch dein Kind ist ihr oft zuwider, und wieder so lieb – es knüpft sie an Himmel und Hölle. Denn wenn es sie anlächelt mit den saphirblauen Augen, die Händchen nach ihr ausgestreckt, so ergreift sie es heftig, preßt es, um es nicht zu sehen, dicht an die Brust, beweint es und sich selbst, und ihr heißquellendes Auge auf sein zartes Köpfchen gesenkt, vergießt sie Thränen in seine feinen Härchen.«

Richard war anfangs weichmüthig geworden, zuletzt aber unwillig auf Olivia und sogar die Mutter, deren eigene Meinung über ihn er jetzt zugleich mit gehört, und entgegnete ihr mit erwachtem Selbstgefühl, welches dem Stolze glich: Vielen hat unsere Jugend Hoffnungen erregt, unser reiferes Alter Versprechungen gegeben, und ich sehe es auch deutlich: selbst Menschen, die wir künftig erst kennen lernen werden, können wir schon Jahre zuvor beleidigen; denn wir werden einst, wie wir sind, in ihren Kreis treten. Wir sind es dann, welche sie erwarten, und sind es nicht! – Das haben Viele, ja fast Alle gethan – so auch Ich. Endlich, nachdem ich Manchem wenig, Einigen sogar verderblich gewesen, wollte ich doch Einem Wesen Alles sein, damit ich doch auch ein Mensch würde, und menschlich mit Menschen lebte nach dem so alltäglichen alten, aber ewigschönen Gesetz. – Es ist mir mißlungen! – Einem Herzen, das wir lieben, trauen wir eine beinahe göttliche Kraft zu uns glücklich zu machen. Lieben wir Jemand nicht mehr, scheint er uns nicht mehr zu lieben, nie recht geliebt zu haben, so steht er ohne Zauber, ohne Macht über uns da, wir hoffen Nichts mehr von ihm, er bedeutet uns Nichts mehr. So ich der Olivia. Ja, ich könnte, aber mag es nicht sagen: So Olivia auch mir. Aber der Mensch lebt unbehaglich und ungern mit Menschen, die um seine, wiewohl abgelegten Fehler wissen. Er wandelt vor ihnen wie ein begnadigter oder noch nicht vor Gericht geladener Verbrecher. Seine Worte bleiben zweideutig, seine Handlungen werden falsch ausgelegt; er kann den Verdacht, der auf ihm ruht, nicht abwerfen; seine Thätigkeit ist gelähmt, und wir hören auf zu leben, wenn wir keines Vertrauens mehr genießen. Ein Mensch, der seine Erinnerungen fliehen will, thut wohl, auch seine Umgebungen zu fliehen, und an einem neuen Orte ein neues Leben anzufangen. Denn vor der Sonne schämen wir uns Alle nicht, wie nackte Kinder vor ihrer Mutter; selbst die unzähligen Bösen sind Ihr gleichgültig – ihr Werk ist, nur Gutes zu thun; auch vor der Erde scheuen wir uns nicht, denn sie giebt uns hold und still wie vor; noch vor den Sternen, denn in ihrer weiten Grotte hat schon viel Ungeheueres seinen Verlauf gehabt! Aber wer errettet uns vor den argen, beleidigten, kleinen und doch mit Gewissen begabten Wesen, den unversöhnlichen Menschen? Wer vor denen, die wir lieben? und ach, erst vor jenen, die uns lieben? – Darum sei es!

Er sahe zuvor in den Spiegel, wie er gewohnt war, ehe er etwas Wichtiges unternahm; seine Augen hielten aus und blinzten nicht, die That schien ihm ohne Falsch; so setzt' er sich still und schrieb.

Die Mutter stützte sich nach einiger Zeit auf die Lehne seines Sessels, etwas Leidenschaftliches vermuthend, und sahe, was er geschrieben. Es war ein Scheidebrief für Olivia, worin er ihr ein Schloß und ein für ein Weib fast zu großes Jahrgeld versicherte, mit dem Beding, daß Sie nie ihn wiedersehe, noch dem Kinde je seinen Vater zeige.

Du bist hart, und willst weich sein, und es gut meinen mit ihr und dir, erinnerte sie ihn sanft, denn als Weib, wenn auch als Mutter, hatte sie ihre Meinung sagen müssen; als sie ihn aber bis zu einer Scheidung selbst gereizt, schämte sie sich und bat, um die Gütige zu sein: Willst du dich ihr ganz entreißen, weil ihr dein Morgenschatten entrissen ist? Liebt sie noch Etwas außer Dir? und vermag sie Jemand über dich zu trösten, als eben Du? Dein Bild bleibt ihr noch immer das einzig Theuerste, wenn es ihr auch ein wenig nachgedunkelt. Du bist noch am meisten Du, ja jetzo mehr als jemals zuvor! Die Liebe wird wieder voll, wie der Mond; Liebe hat auch ihre Finsternisse, wie die Sonne; doch Niemand gedenkt der düstern unheimlichen Verwirrung der Natur mehr, wenn die Sonne wieder rein in vollem Glanze hervorleuchtet und wärmt, wie kein anderes Gestirn. –

Er glaubte ihr, weil er sich glaubte, und blieb still wie ein Kind, das uns die Zither hinhält, darauf zu spielen.

Vertraue der Liebe eines Weibes, endlich vertraue! fuhr sie fort. Olivia kommt noch zu dir! Sie wird Dich um Vergebung bitten, für alle die Schmerzen, die du ihr gemacht, und dadurch deiner eigenen sie liebenden Seele!

Sie zerriß das Blatt und nahm gute Nacht.



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