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Der Sturz hatte mich fast betäubt. Ich raffte mich mühsam auf und stand dann, auf den Rand der Koje gestützt, eine lange Zeit, um Atem zu gewinnen und mich zu sammeln.
Es war stockfinster in der Kammer. Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, zündete ich die Lampe an und sah in den Spiegel. Meine Stirn blutete; die Wunde war jedoch nur unbedeutend. Ich wusch mein Gesicht und das kühle Wasser that mir gut.
Zum zweiten Mal fand ich mich als Gefangenen in dieser Kammer.
Was mochte Brigstock gegen mich im Schilde führen? Welcher Verdacht konnte sich in seinem harten Stierkopfe ausgebrütet haben?
Eine heiße Wut überkam mich bei dem Gedanken an die schimpfliche Behandlung, die mir widerfahren war.
Was hatte ich verschuldet?
Vergeblich versuchte ich, mir irgend ein Anzeichen in Blicken, Worten oder Benehmen von seiten Brigstocks oder der andern in die Erinnerung zu rufen, aus dem ich etwa eine Andeutung gewinnen könnte. Hatten sie ihr Kolonisationsprojekt aufgegeben? Dann wäre in Brigstocks Anschauungsweise freilich eine erstaunlich schnelle Aenderung vorgegangen.
Sie hatten jetzt keinen Navigator. Was wollten sie nun anfangen?
Ich lief in dem kleinen Raum hin und her, wie ein Raubtier im Käfig.
Mein schöner Traum von der Bergung des Schiffes war zerstoben. Die Mühe, die mich das Einexerzieren der Mädchen gekostet, war weggeworfen. Mir wurde schlimm zu Mute; ich fühlte mich wie fieberkrank.
In der Kajüte war alles still. Ueber mir, auf dem Achterdeck, vernahm ich ab und zu einen knarrenden Schritt. Zuweilen glaubte ich auch in der Ferne Männer- und Weiberstimmen zu hören.
Die Stunden verstrichen. Ich hörte keine Glasen schlagen und wußte nicht, was es an der Zeit war. Obgleich ich viel zu aufgeregt war, um schlafen zu können, streckte ich mich endlich in meine Koje und lag hier mit pochenden Schläfen und von Gedanken umwirbelt.
So brach der Tag an. Das Wetter war dick und sah nach Regen aus. Das Schiff mochte ungefähr vier Knoten laufen.
Gegen acht Uhr wurde die Thür geöffnet; Gouger trat ein mit einem Tellerbrett, auf dem sich etwas Frühstück befand. Er that, als sähe er mich nicht, stellte das Brett auf den Fußboden, ging hinaus und schloß hinter sich wieder zu.
Da mein Gemüt inzwischen ruhiger geworden war, langte ich zu, denn ich war hungrig. Während ich aß, hörte ich nebenan Stimmen. Soviel ich zu unterscheiden vermochte, befanden sich Brigstock, Harding und Fräulein Cobbs in der Kajüte.
»Der Kurs ist schon recht,« sagte Brigstock. »Den können wir ruhig beibehalten, bis uns was begegnet.«
»Ist es nicht jammerschade, daß er solch ein Verräter sein mußte?« bemerkte die Aufseherin. »Es war alles so schön im Gange!«
Dann brummte Harding etwas mit seiner tiefen, mißvergnügten Stimme, worauf Brigstock erwiderte:
»Das sage ich ja; ich hätte ihn wirklich für vernünftiger gehalten.«
Von jetzt an wurde das Gespräch unverständlich und endlich verstummte es ganz.
Also einer Verräterei bezichtigte man mich. Ich war mir einer solchen nicht bewußt. Brigstocks Aeußerung, den Kurs beizubehalten, bis ihnen was begegnete, sagte mir, daß sie auf einen andern Navigator fahndeten. Was sollte hernach mit mir geschehen?
Ich hoffte zu Gott, daß man mich nicht allzu unmenschlich behandeln möge. Seit der Ausreise von Bristol hatte ich soviel gelitten, soviel jähe Wechsel in meinem Geschick erfahren, daß diese wenigen Wochen meines Daseins mehr umschlossen, als andere Seefahrer während eines Menschenalters erleben.
Und auch an Kate dachte ich, und an meine Kompagnie. Wenn Alice Perry, dieses dämonische Geschöpf, jetzt doch ihren Plan ausführen wollte! Das wäre gar nicht so schwer; und sperrten sie auch nur die Hälfte der Mannschaft im Logis ein, der Rest konnte durch die Ueberzahl der Mädchen leicht überwältigt werden.
Der Vormittag verging und niemand ließ sich bei mir sehen. Ich lauschte und lauschte; mir war, als herrsche eine ganz ungewöhnliche Stille im Schiffe. Sollte die Mannschaft die Emigrantinnen im Zwischendeck eingeschlossen halten, aus Furcht, daß dieselben sich empören könnten? Oder lastete der Druck des in der Nacht geschehenen Selbstmordes so schwer auf allen?
Um ein Uhr erschien Gouger mit meinem Mittagsmahl; ich redete ihn an, er aber gab mir keine Antwort. Er hatte jedenfalls seine Instruktionen erhalten; er benahm sich so ungeschliffen als möglich und warf dann schmetternd die Thür hinter sich zu.
Der Nachmittag kam und verging und zum zweiten Mal wurde es Nacht. Ich übergehe die Schilderung des Seelenzustandes, in dem ich die endlosen Stunden der Finsternis hinbrachte.
Der anbrechende Tag fand mich mit dem Gesicht an dem kleinen, runden Fenster. Das Wetter hatte sich aufgeklärt, der Wolkenbildung nach zu urteilen aber waren Böen nicht ausgeschlossen.
Kaum war die Sonne aufgegangen, da wurde es über mir lebendig. Man schien Segel zu trimmen. Enden wurden auf die Decksplanken geworfen, ich hörte die Matrosen aussingen und aus dem Getrampel schloß ich, daß man an der Großbrasse holte.
Das Schiff hatte bis dahin Backstagswind gehabt; jetzt ersah ich aus dem unter der Decke befindlichen Kompaß, daß die Brise einige Striche mehr von vorn kommen mußte. Die Bewegung des Fahrzeuges wurde eine andere; ich schaute hinaus ins Wasser – wir liefen keine Fahrt mehr, das Schiff lag beigedreht.
Eine Stunde kroch dahin; an Deck war alles ruhig. Außer dem Plätschern des Wassers unter dem offenen Fenster ließ sich kein Laut vernehmen.
Die Farbe der See war ein bleiches Blau; eine kleine Regenbö in der Ferne verschleierte den Horizont; ich konnte ihre ganze Ausdehnung überschauen. Ihr südliches Ende wurde lichter und lichter, jetzt klarte die Luft dort ganz auf und enthüllte die Segel eines Schiffes, hell angestrahlt von der Morgensonne.
Während ich das ferne Fahrzeug betrachtete, kam Gouger und brachte mir Frühstück. Ich warf nur einen Blick über die Schulter nach ihm, dann wendete ich mich wieder dem Fenster zu. Er setzte klirrend das Tellerbrett nieder und ging.
Oft noch habe ich mich der Wirkung erinnern müssen, die das Benehmen dieses jungen Bengels auf mich ausübte. Dieses stumme, ungehobelte Kommen und Gehen traf mich tiefer als alles andere. Die unbestimmten Befürchtungen und die Ungewißheit wurden dadurch quälender; ich sah darin allerlei düstere Andeutungen dessen, was ich zu erwarten hatte, und außerdem verstimmte mich seine Unverschämtheit bitter.
Das fremde Segel war bald aus der Peripherie meines kleinen Fensters verschwunden. Nachdem ich nichts mehr sehen konnte, horchte ich um so angestrengter.
Ob das Fahrzeug wohl in Rufweite kommen würde? so fragte ich mich. Ob man es wohl veranlaßte, ein Boot zu senden, um mit dem dasselbe Spiel zu treiben, wie mit dem Boot der ›Karoline‹?
Wieder verging eine Stunde. Plötzlich glitt der Segler wieder in den Gesichtskreis des Fensters; die Lage unseres Schiffes mußte sich verändert haben.
Er war ein großer Dreimastschoner von etwa dreihundert Tonnen, mit außerordentlich hohen, schlanken Masten. Im Besan wehte die englische Flagge. Er lag mit losen Segeln in bequemer Rufweite, und während er sich schlingernd nach uns überneigte, sah ich unweit des Ruders eine hohe Männergestalt in breitkrämpigem Hut und kurzer Monkeyjacke auf dem blendend weißen Deck stehen. Ich sah, wie der Mann an die Reeling trat und gleich darauf hörte ich seinen Anruf.
Dann ertönte Brigstocks dröhnende Stimme:
»Der ›Earl of Leicester‹, von Madras nach London!«
Wieder ein Ruf, den ich nicht verstand, von dem Fremden. Brigstock antwortete:
»Wir sind in großer Not. Die ganze Mannschaft ist gestorben, bis auf uns beide. Mein Schiffsmaat ist so elend, daß er nicht ins Boot gehen kann.«
Und dieser Lügner, sagte ich zu mir selber, will der Vater und Begründer einer Südseekolonie werden, deren Hauptfundament Wahrhaftigkeit sein soll!
Ich sah das Bild an Deck im Geiste deutlich vor mir. Am Ruder stand einer der Matrosen so hinfällig und schwach, als könne er sich kaum noch aufrecht erhalten; auf der Reeling stand Brigstock, eine Hand an der Pardune, mit langem, wehleidigem Gesicht. Sonst nirgends an Deck ein lebendes Wesen, gerade so, wie damals, als Blades und ich diesem Betruge zum Opfer fielen.
Die Emigrantinnen befanden sich selbstverständlich im Zwischendeck, unter dichtgemachten Luken. Man mußte die Zeit des Frühstücks benützt haben, sie einzusperren, denn freiwillig hatten sich die Mädchen sicherlich nicht zu dieser Komödie hergegeben, da sie in mir einen Navigator an Bord wußten und auch wohl die Erstickungsgefahr, in der sie das erste Mal geschwebt, noch nicht vergessen hatten.
Es wurden noch weitere Rufe ausgetauscht. Der Dreimastschoner war meinen Augen wieder entrückt, auch mußte Brigstock seinen Platz gewechselt haben, denn ich verstand nicht mehr, was er sagte. Aus der nun eingetretenen Stille schloß ich aber, daß der Schoner ein Boot abgeschickt habe.
Mein Herz pochte ungestüm. Was sollte mit mir werden?
Jetzt hörte ich das Rucken der Reemen in den eisernen Gabeln, dann das Rauschen des Wassers an dem scharfen Steven des Bootes, das unter unserem Heck herum glitt.
Neben mir in der Kajüte wurde es lebendig; Stimmen raunten und Tritte schurrten. Die Matrosen versammelten sich, um dem Ankömmling denselben Empfang zu bereiten, der mir zuteil geworden war.
Eine Minute später brüllte eine heisere, mächtige Stimme:
»Verdammt will ich sein, wenn ich euch Schuften den Gefallen thue! Das ist ja noch schlimmer, als wenn einer schanghait wird!«
Dann folgte ein allgemeines Getümmel, begleitet von solchem Schreien und Fluchen, daß ich den Atem anhielt, in der Erwartung, demnächst Mord und Totschlag zu vernehmen. Es schien, als ob Brigstock und seine Kumpane diesmal an den richtigen Mann gekommen waren. Der Lärm wurde immer wütender. Die Kajütswände erkrachten unter der Wucht der gegen sie geschleuderten menschlichen Körper.
»Warum thun Sie denn die Sache nicht ganz ruhig und gemütlich nehmen?« hörte ich Brigstock das Getümmel überschreien.
Das Fluchen und Keuchen, das Raufen, das Stampfen und das Erkrachen der Wände dauerte fort. Aber wäre der heldenmütige Fremde auch ein Riese gewesen, er hätte als einzelner der über ihn hergefallenen Menge dennoch endlich unterliegen müssen.
Fünf volle Minuten währte es, nach meiner Schätzung, ehe es den Matrosen gelungen war, den Mann in eine der Kammern zu bringen und dort einzusperren, und auch dann noch bearbeitete er die Thür mit den Fäusten und Stiefeln so gewaltsam, daß ich jeden Moment erwartete, die massiven Bohlen splittern zu hören.
Während des Kampfgetöses in der Kajüte war eine neue Hoffnung in mir erwacht. Ich sagte mir, daß die Mannschaft von dem Seemann, den sie soeben so gewaltthätig behandelt und gefangen gesetzt hatte, kaum gutwillige und zuverlässige Dienstleistungen erwarten konnte, daß sie dies selber erkennen und sich demzufolge mir wieder zuwenden werde, wodurch mir Gelegenheit werden mußte, mich von dem auf mir lastenden Verdachte zu reinigen.
Noch wiegte ich mich in diesen Gedanken, da drehte sich der Schlüssel im Schloß, die Thür wurde aufgerissen und Brigstock erschien mit Hull und Luddy in der Kammer.
»Setzen Sie Ihren Hut auf und folgen Sie uns,« sagte Brigstock, noch immer keuchend von der soeben überstandenen Anstrengung. Aus gewissen Flecken auf seinem Gesicht, wie aus der zerzausten Verfassung seines Halstuches und des übrigen Anzuges konnte ich entnehmen, daß ihm unsanft mitgespielt worden war. »Beeilen Sie sich, wir haben keine Zeit zu verlieren,« fügte er hinzu.
Hier begann der Gefangene in der gegenüber liegenden Kammer aufs neue mit erstaunlicher Gewalt die Thür seiner Zelle zu bearbeiten, wobei er sich mit einer Löwenstimme verschwor, der ganzen Schiffsmannschaft die Lebern herauszuschneiden, sobald er wieder in Freiheit sein würde.
»Womit habe ich diese Behandlung verdient?« fragte ich.
»Das wissen Sie ganz genau,« antwortete Brigstock, mich wütend anblickend. »Vorwärts!«
Die beiden Matrosen betrachteten mich voll Haß und Ingrimm. Luddys Lippe war stark verletzt und blutete heftig. Alle drei befanden sich augenscheinlich in bösester Stimmung. Ich fühlte, daß ich erbleicht war; das Herz pochte mir zum Zerspringen. Dennoch beherrschte ich mich.
Ich setzte meinen Hut auf, knöpfte den Rock zu und folgte Brigstock die Kampanjetreppe hinan. Luddy machte den Beschluß; der andere Matrose blieb unten, wahrscheinlich um den Gefangenen zu bewachen.
Der Wind war ein wenig aufgefrischt und brachte einen feinen Sprühregen mit sich. Luvwärts war alles dick und grau. Von den Emigrantinnen war keine sichtbar; die Großluk war mit der Gräting bedeckt; eine Persenning lag nicht darüber.
Die Raaen waren unordentlich hierhin und dorthin gebraßt, um dem Schiff ein möglichst verwahrlostes Aussehen zu geben; die Bramraaen waren herunter geviert, das Großsegel ungeschickt aufgegeiet und das Großmarssegel schlug gegen den Mast.
Der Dreimastschoner lag etwa eine Seemeile entfernt, ein wenig achteraus. Alles, was ich hier beschreibe, überschaute ich mit einem einzigen Blick. Mehr Zeit blieb mir nicht. Brigstock trat an die Leereeling und rief hinab:
»Bringt euer Boot an die Großrüst und setzt den Herrn hier an Bord eures Schoners!«
Darauf wendete er sich schnell nach mir um, so wild und grimmig, wie ich es bei einem sonst so gemessenen, formellen und ruhigen Mann nicht für möglich gehalten hatte.
»Kommen Sie!« schnaubte er, »und danken Sie Gott, der Ihnen in humane Hände fallen ließ!«
Damit meinte er sich und die Mannschaft.
Ohne eine Antwort ging ich an die Reeling, um in die Großrüst und von da in das Boot zu springen. Das aber lag eine ganze Strecke entfernt und die drei Männer in ihm starrten verwundert bald mich an und bald die vorher unsichtbar gewesenen Leute des ›Earl of Leicester‹. Sie begannen Unrat zu wittern.
»Kommt her und nehmt diesen Mann an Bord!« rief Brigstock ihnen zu.
»Wo ist unser Steuermann?« rief der Matrose im Buge des Bootes zurück.
»Der hat sich's überlegt und will bei uns bleiben. Kommt her, sag' ich euch! Dieser Herr wird eurem Skipper alles erklären, darum macht, daß ihr ihn an Bord bringt!«
»Erklären?« schrie der Bugmann. »Wat soll der erklären?«
»Hier rankommen sollt ihr!« rief Brigstock ungeduldig.
»Wat? Rankommen? Hieß dat nich zuerst, hier wären man noch zwei lebendige Seeleute an Bord? Wo kommen denn nu auf einmal alle die Kerls daher? Rankommen? Nee, mein Junge!«
Damit warfen die drei wie auf Kommando ihre Reemen aus und rojten aus Leibeskräften zum Schoner zurück.