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In den vier Jahren, die Ejgil in Frau Fabers Heim wohnte, trieb er freie Studien aller Art. Sein Hang, Wissen zu sammeln, existierte noch wie früher, aber aller tatsächlicher Stoff wurde in die Tiefe seines Gemüts hinabgestimmt, er war unbeschwert von seinen Kenntnissen, hatte die Fähigkeit, in einem Nu zu vergessen und sich wieder zu erinnern in dem Augenblick, wenn es darauf ankam.

Er hatte oft halb im Scherz zu Frau Faber gesagt, daß er sich in höchstens anderthalb Jahren in jedem Fach zur Prüfung stellen und mit Leichtigkeit bestehen könnte. Sie lachte und fand es zweckmäßig, daß er doch auf jeden Fall zunächst einmal Student würde. Er versprach, sich ihr zu fügen, untersuchte am selben Tage, was gefordert wurde, sah ein, daß ihm in einigen Punkten möglicherweise etwas fehlte, lernte der Sicherheit halber ein paar Monate lang Mathematik und Sprachen und machte hierauf sein Examen.

Er kam heim und setzte sich an den Frühstückstisch, wo Frau Faber wartete. Keines von ihnen sah einen Grund, die Gelegenheit zu feiern, sie sprachen nur vernünftig miteinander.

Sie saßen sich in dem großen, weißen Eßzimmer im Louis-Seize-Stil gegenüber. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, nur eine Schärpe aus blattgrüner Seide, ihr Körper schien noch völlig jugendlich, elastisch und geschmeidig, selbst wenn sie bequem zurückgelehnt in dem breiten Sessel saß.

Wie sooft, glitt sein Blick von ihr zu Boden. Sie genoß stets dies Zittern, sie ahnte in seiner Gegenwart, wenn er auf einmal vollbewußt ihre Nähe spürte. Sie gönnte sich hin und wieder ein leises Rufen im Klang ihrer Stimme, ein lockendes Gleiten von Hand oder Fuß, wollte gern den leichten Rausch fühlen, den sie stets empfand, wenn sie seine Augen sich wie eine furchtsame Liebkosung nach den ihren sehnen spürte. Aber gleich darauf verlöschte sie wieder ihre Sinne, konnte streng und unerbittlich dasitzen oder ihm milde oder auch nur mütterlich einen Händedruck oder ein Lächeln schenken; so war es ja ihre Pflicht als Schutz seiner Dämmerung!

Jetzt genoß sie es, ihn unruhig und nervös dasitzen zu sehen, wenn er den Duft ihres Parfüms spürte, dem Rascheln der Seide lauschte, wenn sie sie um ihre Knie glatt strich. Das Erlebnis des Tages war ganz vergessen, er fühlte nur sie, und sie gestand sich selber offen, daß sie nur ihn fühlte. Aber nicht, wie er wünschte – wenn er sich denn eines Wunsches bewußt war! Oder ob er nicht –? Sie jedenfalls wünschte das Verbotene nicht. Zwischen ihnen lag eine Zone, bebend von feinen Strömen, die nicht durchbrochen werden durfte. –

Sie nahm seinen Augen die Macht durch einen vorwurfsvollen, fast bittenden Blick.

»Und was hast du dir jetzt gedacht, Ejgil? Dich auf ein spezielles Fach zu legen? Ich stelle es dir frei.«

Er überlegte einen Augenblick, sicher doch nur der Form wegen, seine Absicht war im voraus gegeben.

»Eine Spezialität werde ich jedenfalls nicht wählen. Der Spezialist ist der Fluch unserer Zeit: Klug auf einem einzigen Gebiet des Lebens und schwachköpfig auf seinen zehntausend anderen. Der Spezialismus ist die mächtigste Waffe der Philister, ihr Patent, Gericht über alle freien Geister zu halten – nur weil sie das Geheimnis von Infinitivsurrogaten im Rumänischen oder Patent-Türschließern kennen! – Spezialisten«, sagte er, »sind alles Esel mit Scheuklappen!« Er lachte, jedoch nicht ausgelassen. Seine Nerven waren noch nicht zur Ruhe gekommen.

»Du kannst tun, wie du willst, Ejgil. Und im übrigen habe ich es immer ebenso gemacht. Ich genoß überall, wo ich Dinge sah, die genießenswert waren – nie im Übermaß, nie ein Glas bis zum Grunde. Dadurch habe ich mir das Gemüt jung erhalten, trotz meiner allzu vielen Jahre. Und wenn du Lust hast, so können wir unsere Studien zusammen treiben. Alles, was wir in diesen traurigen Zeiten sammeln können an Musik, Büchern oder Bildern. Nur zu einem kann ich dir vorläufig keine Gelegenheit geben –!« Ihre Augen wurden dunkel, die Stimme erhielt ein geheimnisvolles Beben: »– mit mir zusammen zu reisen!« Sie fügte leise und zornig hinzu: »Die verfluchte Welt! Der verdammte Krieg!«

Der Krieg war für sie nichts weiter als eine unfreiwillige Pause, eine ganz unerwartete Hemmung von außen für ihre Triebe, die sie noch ungeschwächt, jung und eifrig fühlte. –

Sie war aufgezogen in den radikalen Doktrinen der damaligen Zeit. Der Vater hatte in seinem Heim eines reichen Mannes einen Kreis von führenden Namen innerhalb des Freisinns der Achtziger und Neunziger versammelt: Politiker, Wissenschaftler und Künstler. Die Tochter war zu unerschütterlichem Glauben an einen Fortschritt erzogen, der ruhig und rationell einer gesunden demokratischen Politik zunutze kam ohne doch das Recht der Oberklasse auf eine verfeinertere Kultur zu verletzen.

Sie hatte während ihres Heranwachsens diesen Glauben durch Vorwärtsgehen überall nur bestätigt gefunden: Hebung des Volkes, bessere Gesetzgebung, größerer Wohlstand in den vielen kleinen Heimen, reichere Möglichkeiten für die Tüchtigen, eine gewaltige Technik in allen Fächern, neue Methoden zur Verfügung einer gesunden Intelligenz, die sich endlich von der Zensur der Dogmen und der Priesterschaft frei gemacht hatte. Der mächtige Verkehr hatte alle Länder geöffnet, überall herrschten Ruhe, Ordnung, Sicherheit, Frieden. Es waren nur die Ideale ihres Vaters, die sich auf sinnreichem, solidem Wege zur Lösung befanden. Was jetzt geschah, war ein Bruch des Programms, allen Voraussetzungen zuwider, absurd, so irrationell, daß es einer aufgeklärten Intelligenz das Recht zu dem absolutes Protest gab, der es war, wenn man ganz von der Existenz des Krieges absah, seine Wirklichkeit leugnete!

Ihre Geringschätzung für die Torheit der Kriegführenden war so groß, daß sie nicht einmal Ärgernis oder Zorn fühlte: Glücklicherweise besaß sie die Mittel, die Welttollheit von ihrem Privatleben fernzuhalten! Sie hatte das Glück, in einem neutralen Lande zu wohnen, das war eine Tatsache, die sie ohne weiteren Dank entgegennahm – selbst in der Pestzeit wurden einzelne Häuser nicht angesteckt! Also richtete sie sich hier so gut wie möglich ein. Sie gönnte es sich sogar, die Telegramme der Zeitungen zu lesen – verfolgte den Krieg rein technisch, hielt nur ihre Nerven und ihre Sympathien frei von den hereinströmenden Giftkeimen.

Professor Kramer versuchte, ihre Stellungnahme auszuforschen:

»Ich kann verstehen,« sagte er, »wenn Sie so schließen: Die Welt ist nur mein Ich. In dem spiegelt sich alles. Ich bin daher das wichtigste Wesen von allen, und gewissermaßen sind alle anderen nur Phantome, die ich im Traum sehe. Daß sie kämpfen, verbluten und sterben, geht mich daher nicht im geringsten mehr an, als ich es selbst bestimme!«

Aber er sah ein, daß sie so nicht schloß, ja nicht einmal seinen Gedankengang verstand. Und Frauen, das wußte er ja, brauchten keine Abstraktionen wie Männer, um zu einem praktischen Ergebnis zu gelangen. Sie gehen gerade aufs Ziel los. Der Krieg war Ulla Faber lästig, daher setzte sie ihn wie einen ungebetenen Gast vor die Tür. Und vorläufig jedenfalls ging das auch gut. Mehr wünschte sie denn auch nicht, sie rechnete immer mit den Dingen, die sich übersehen ließen.

Er bewunderte ihre einzig dastehende brutale physische Beschaffenheit: Sie trotzte sich durch das Werk jeden Tages hindurch, genau wie vor dem Kriege, indem sie rücksichtslos ihre Freunde und Verbindungen in Banken und Behörden ausnutzte, um allen Einschränkungen der Kriegszeit zu entgehen, scharrte nicht, wie die verzagten kleinen Hamster, Haferflocken, Stearinkerzen und grüne Seife zusammen; sie verschaffte sich, was sie haben wollte, benutzte einen Blick oder ein Lächeln, wo ein Wort nicht genügte, souverän lebte sie weiter ein Leben in Luxus und verfeinerter Kultur. –

Für Ejgil hatte sie ein Zimmer im zweiten Stock des großen Hauses am West-Boulevard eingerichtet, das ihr gehörte. Sie trafen sich zu den Mahlzeiten, trieben gemeinsame Studien, sie hatte ein Atelier in einem Raum unter dem Dache, wo sie sich seinerzeit – ohne besonderen Erfolg – als Bildhauerin versucht hatte. Ejgil arbeitete hier oben, wenn er nichts besseres vorhatte, modellierte oder meißelte in Sandstein, versuchte mit größerem Interesse Schabkunst oder Holzschnitt. Daß er aber keinen wirklichen Beruf zum Künstler in sich spürte, war ihm klar, ohne daß es ihm weiter Kummer machte. Er sah außerdem ein, daß er zu korrekt zeichnete. – Im Scherz dachte er, daß er es nicht dürfe wegen Willibald Olsen und der anderen Modernisten! Er konnte seine Anschauung nun einmal nicht ganz vom Realismus des Lebens frei machen. Das war sein Gebrechen! Zu anderen Zeiten trieben er und Ulla gemeinschaftliche Studien in Chemie. Ein Laboratorium wurde eingerichtet, es war noch möglich, sich ausländische Fachliteratur schicken zu lassen, sie experimentierten mit den letzten Entdeckungen auf dem Gebiete der chemischen Physik, machten nicht immer nur dilettantische Versuche, ohne jedoch den Wunsch zu hegen, etwas Originales zu erreichen. Sie wußten beide, daß es nur Zeitvertreib und Spielerei war, fanden es aber sinnreich, schön und rationell. –

Ulla Faber nahm Ejgil mit als ihren Kavalier, wenn sie ein Theater oder ein Konzert besuchte. Das feste Parkett kannte sie bald als Paar. Man lächelte oder lästerte; aber ihre Kühnheit, sich öffentlich mit diesem ganz jungen Manne zu zeigen, den sie in ihrem Hause unterhielt, und ganz zweifellos als ihren Liebhaber, diese einfach imponierende, unerhörte Verwegenheit sicherte ihr eine so absolute Sonderstellung, daß keine Kritik am Platze war; die landläufigen Gesetze paßten nicht auf Frau Faber. Sie wurde in allen Kreisen empfangen, in die zu kommen sie sich herabließ. Der Kuriosität halber hatte man den Einfall, ihren jungen Pagen mit einzuladen. Man konnte der Form wegen diesen Knaben als ihren Adoptivsohn ansehen, wenn man auch auf ein Verhältnis etwas intimerer Natur riet.

Frau Faber genoß es, auf ihrem Vorderplatz in der Loge bei Premieren und in Konzerten mit Ejgil zu sitzen; sie liebte es, ihn von den diskreten Blicken beurteilt und abgeschätzt zu wissen, die sich ihnen im Schutze eines Opernglases entgegenschlichen. Sie wußte, daß er ihr schmeichelte mit seiner Anmut, Feinheit, Männlichkeit und Eleganz, sie hätschelte den Zweifel, den sie in aller Augen sah, ob er ihr Geliebter war oder nur ein Knabe, in dem sie einen Freund und Kameraden fand; durch einen Blick, einen leisen Druck ihrer Hand um die seine – allen weit sichtbar – ließ sie ahnen, daß mehr als nur mütterliche Zärtlichkeit zwischen ihnen bestand, wußte aber doch zugleich, daß gerade die Kühnheit dieser Liebkosung dem Haufen neue Zweifel einflößte: ob diese Offenheit nicht eben darauf hindeuten konnte, daß es nichts zwischen ihnen zu verbergen gab!

Oft dachte sie: Was weiß ich selbst davon, was ich für ihn fühle? Ich liebe ihn – soviel weiß ich sicher. Aber wie? Nur mit der Sentele – und doch entbehre ich seine Nähe oft intensiv und heiß! – Immer als Annehmlichkeit, aber nie als Hunger. Ich liebe es, daß er mir wie ein Page folgt und von mir angezogen wird, daß er mich bewundert und anbetet, oft betrübt, aber nie ganz verzweifelt; ergeben, ritterlich und immer demütig. Ihre ganze Erziehung und die Kultur ihrer Familie war von den französischen Idealen von dem Geist geprägt, der in ihrer Kindheit modern gewesen war. Sie sah in ihrem Protegé etwas mehr als einen Pagen, dem sie erlaubte, in Liebe hinzuschmachten, sie formte ihn in ihren Gedanken zu einem Typ: dem Chevalier, stilisiert nach le gout français – geschmeidiger, freier und durchgeistigter als der moderne Gentleman nach angelsächsischem Muster.

 

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