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Wenn das Wetter kalt war, ließ Herr Bonfils die Knaben antreten und rief: »Laufschritt!« Dann mußten sie im Trab die ganze Pause in Schlangenwindungen oder im Kreis durch die Pfützen des asphaltierten Hofes.
Voran lief Herr Bonfils selbst und hielt in der rechten Hand eine kleine Papierfahne vom letzten Weihnachtsbaum der Schule. Er hatte viele Einfälle im Laufen, er konnte kommandieren: »In die Hocke!« Dann hüpften sie wie Elstern über den Platz mit Herrn Bonfils an der Spitze.
Dann: »Ganze Schule – Marsch!« Dann wieder: »Achtung! – Laufschritt!« Und endlich wieder: »Elsternhüpfen!« Herr Bonfils hüpfte elastisch, das war eine gute Bewegung nach dem Frühstück und tat dem Magen wohl, wie sich zeigte, wenn er zum Schluß der Pause mit seinem Regierungsblatt in der Hand auf das lange Haus in der Ecke des Hofes zuschritt, von dessen fünf Brettertüren eine seine private war.
Auch Ejgil mußte hüpfen. Petersen war nun wieder auf seinem alten Platz als Fuchs, während Ejgil, der absichtlich vermied, sich auszuzeichnen – er war nach der ersten Rechenstunde durch Schaden klug geworden –, der Zweitunterste in der Klasse war. Petersen stand daher hinter Ejgil im Glied, immer bereit mit seiner Stecknadel. Er hing an Ejgil wie eine Klette, hatte ihn sich fast wie eine Schwärmerei ausersehen; er liebte es, diesen Knaben zu stechen, der wie ein Mädchen gekleidet ging; seine Augen suchten gefräßig nach allen weichen Stellen. – Er selbst war ein schwergliedriger, schläfriger Knabe, unbeweglich und faul, verzog nur seinen großen, losen Mund, wenn er stach.
Er hatte diese Schmucknadeln in einem Samtfutteral, eine ausgesuchte Sammlung, sie besaßen Köpfe aus farbigem Glas, und er schacherte mit ihnen in der großen Pause, hielt Börse mit täglicher Notierung und Kursschwankungen ab, wie er es von seinem Bruder gelernt hatte, der bei einem Fondsmakler war. Die verschiedenen Nadelsorten hatten Namen: Riesen und Flöhe, Pfauen und Papageien.
Namentlich wenn die Schule Elsternhüpfen machte und Ejgil vor ihm hockte, hatte Petersen gute Gelegenheit, ihn zu stechen, so daß Ejgil bei einem Sprung aus dem Glied kam und Herr Bonfils, der gerade um die Ecke bog, ihn sah und böse wurde, obwohl Ejgil sein Lieblingsschüler war.
Ejgil sah bald ein, daß er sich schnell Frieden vor Petersen verschaffen mußte, der ihn zu allen Zeiten störte. Die Schule war ihm an und für sich Hinderung genug in dem, was er lernen wollte.
Die Klassenzimmer waren mit einer Menge Dinge gefüllt, die das Gemüt der Kinder erbauen sollten. An allen Fenstern standen Topfpflanzen, die Kohlensäure ein- und Sauerstoff ausatmeten, um die Luft zu verbessern; auf den Blumentöpfen saßen kleine Kaninchen, Hunde, Katzen, Kanarienvögel, Dohlen, Wickelkinder, Seelöwen und kleine Engel aus Porzellan, um die Kinder über das Tierreich zu belehren und ihr Gemüt nach dem Höheren zu erheben; aber die Gegenstände durften nicht angerührt werden. Das Zerschlagen einer kleinen Katze oder eines Engels kostete am nächsten Sonnabend eine Portion spanisches Rohr. An den Wänden hingen teils Landkarten, teils Bilder aus dem Innern einer Gasanstalt, teils vom Himmelreich am Jüngsten Tage sowie von den alten Wickingern, die die Mönche in einem Kloster besiegten und ins Vaterland heimkehrten mit einer Menge von goldenen Leuchtern, Milchkannen und Kühen, mehrere von ihnen auch mit jungen Mädchen, die sie jedoch auf dem Arm trugen. Wer einen Tintenklecks auf die neuen Pulte machte, mußte eine Stunde nachsitzen, und Ejgil polierte daher in jeder Pause das Pult dort, wo er gekleckst hatte, mit seinen Samtärmeln.
Überall in der Schule gab es Störche, sie hingen ausgestopft von den Decken herab und waren im Treppenhause abgemalt. Er verstand, daß den Kindern dadurch eingeschärft werden sollte, wie sie zur Welt kamen. Ihm war es jedoch recht gleichgültig, wie er gekommen war, wo er nun einmal da war. Die anderen Knaben unterhielten sich viel über diese Frage, und Ejgil merkte, daß die Erwachsenen nicht die Wahrheit darüber sprachen, wie man entstände. Aber die Erwachsenen sagten soviel, was nicht stimmte.
Es war ihm nur angenehm, daß man nichts in der Klasse anrühren durfte. Zu Hause war er gezwungen, nur des Scheines wegen mit seinen Sachen zu spielen, wenn die Tante sich zugleich mit ihm im Eßzimmer aufhielt. Er hatte einen Speicher, an dem er kleine Fässer durch die Winde in einen Brauereiwagen auf- und niederheißen mußte, wie er es die Leute eines Tages in einem Hinterhof in der Knabrogasse hatte tun sehen, als er den Onkel vom Bureau abholte; aber die Kerle sahen auch nicht so aus, als ob es ihnen Vergnügen machte, sie fluchten und schwitzten bloß.
Er hatte entdeckt, daß in den Regalen des Onkels Bücher standen, aus denen man viel besser Bescheid erhalten konnte als aus den Schulbüchern. Sie hatten täglich eine oder zwei Seiten Geographie oder Zoologie auf, aber die lernte er in kaum einer Viertelstunde und kannte dann jedes Wort. Er las daher die Bücher in ein paar Tagen durch, um es überstanden zu haben. Sie waren in einem Tone geschrieben wie: Kennst du Reineke? Er ist ein arges Raubtier mit spitzer Schnauze und buschigem Schwanz und liebt eine fette, leckere Gans sehr. – Aber unter Onkels Büchern befanden sich auch drei dicke Bände über alle Tiere des Erdballs, und in einem zwanzigbändigen Werk konnte man nach dem Buchstaben aufschlagen und alles finden, was man wollte. Es stimmte selten mit dem überein, was Lehrer oder Schulbücher sagten.
So erzählte Herr Bonfils, der den Knaben Geschichtsunterricht erteilte, viele Dinge, die ganz unwahrscheinlich klangen, die einander widersprachen oder offenbare Lügen waren. Es handelte sich meist um Könige, denen er Zeugnisse erteilte, ganz wie den Knaben und auch nicht gerechter. Da war namentlich ein König, den Herr Bonfils sehr liebte, weil er zwanzig Jahre auf einem Schlosse gefangen saß. Er hatte fast den ganzen Adel Schwedens auf dem Marktplatz in Stockholm geköpft, und einen Mann, der Marat hieß, nannte Herr Bonfils ein blutiges Ungeheuer, obwohl er, obendrein waffenlos und nackt, in seiner Badewanne ermordet wurde, was Herr Bonfils eine Heldentat nannte!
So war Geschichte: Bemächtigte sich ein König der Alleinherrschaft in seinem Lande, so war es eine Tat, gab er die Macht seinem Volke, so war es auch eine Tat. Selbst den Tieren erteilte Herr Bonfils Lob oder Tadel. Der Schakal fraß Tiere, die schon tot waren, daher war er gemein, aber der Löwe mordete die Gazelle, ehe er sie fraß, deshalb war der Löwe edel. Übrigens erzählte das Buch zu Hause ganz andere Geschichten vom Löwen, der sowohl feige wie heimtückisch war und sich im Notfall auch mit Aas begnügte.
Etwas ganz anderes war es mit der Bibel. Da erzählte Pastor Krabbe von Noah und von Saul und David oder den Makkabäern und vieles andere, aber das war etwas, das man nicht wissen, sondern nur glauben sollte, also etwas, das nie existiert hatte, außer wenn man davon erzählte! » Glauben und Wissen sind je eine Welt für sich«, sagte Pastor Krabbe. Daher glaubte Ejgil an die Schöpfung in sieben Tagen, an Kain und Abel und Moses, wußte aber gleichzeitig, daß es nicht wahr war. Und das durfte man, wenn es sich um Religion handelte.
Pastor Krabbe war ein milder Lehrer, und wenn er sich mit schwarzem Käppchen und Brille, mit einem Kranz weißen Bartes um das Kinn auf die Pultkante setzte, Daumen drehte und kicherte, weil Petersen den Propheten Jonas einen der zwölf Apostel nannte, so war geradezu Sonnenschein in der kalten Klasse, die nach Norden zu nach einem Hinterhof hinaus lag und Mattglasscheiben hatte. Nur verstand Ejgil nicht, warum Pastor Krabbe sie Choräle singen ließ. Die konnte man doch leise lesen, und er haßte es, sich im Chor mit zwanzig anderen zu befinden. Er bewegte jedoch die Lippen, um Pastor Krabbe nicht zu kränken.
Er achtete genau darauf, daß er der Zweitunterste in der Klasse blieb, Petersen aus dem Felde zu schlagen, war unmöglich. Aber er durfte die Lehrer nicht merken lassen, daß er zu Hause las und besser Bescheid wußte, sonst wurden ihm die Bücher von der Urzeit der Erde und der Abstammung des Menschen sicher verboten. Obwohl er die falschen Bücher der Schule auswendig kannte, gab er seine Antworten so schlau, daß er für einen äußerst schlechten Schüler gehalten wurde, und durfte daher unbemerkt tun und lassen, was er wollte.
Er war zu dem Schlusse gekommen, daß das, was die Erwachsenen, die Lehrer, auch Onkel und Tante, von Welt und Menschen samt der Natur, ja auch von Gott, glaubten – nur Eigenschaften waren, die sie selbst besaßen, so wie jeder von ihnen seine besonderen Manieren hatte. Wie Herr Bonfils einen großen Adamsapfel hatte, der immer über den Kragen hüpfte, wenn er böse wurde, so meinte er auch, daß ein König feiner als andere Menschen und daß Napoleon ein großer Held war, weil er die Deutschen, Bismarck jedoch ein blasser Schurke, weil er die Franzosen besiegte. Was die Erwachsenen glaubten oder meinten, war etwas an ihnen selbst, gerade wie wenn sie niesten oder rülpsten, man mußte sie es in Frieden tun lassen und durfte nicht kritisieren. Es war nicht passend, Bemerkungen zu machen, man mußte nicken und sagen, daß man begriffe.
So war es auch eine Eigenschaft an Petersen, daß er mit Stecknadeln stach. Er freute sich selbst darüber, es war vielleicht unrecht, ihm die Freude zu verderben, aber es konnte nicht so weitergehen.
Petersen war ein großer, starker Knabe. Und Ejgil sah ein, daß seine Arme zu kurz waren, um den andern ernsthaft zu treffen, wenn er wieder stach. Er schlug daher in Onkels Büchern über den menschlichen Körper und die verschiedenen Arten, zu schlagen, nach und fand viel Neues und Merkwürdiges über Muskeln und innere Organe.
Am nächsten Tage begann Petersen in der großen Pause wie gewöhnlich, Ejgil mit krankem, hungrigem Ausdruck und bereitgehaltener Nadel zu umkreisen.
Ejgil ging aus dem Wege; der Stammherr und der Etatsratssohn kamen, um zu sehen, wie der Samtjunge gestochen würde.
Ejgil warnte Petersen. »Wenn du es versuchst, schlage ich!« sagte er und schwang den rechten Arm.
Petersen warf ihm einen beinahe flehenden Blick zu. Er kicherte albern, geiferte lüstern und versuchte, sich ungeschickt hinter Ejgil zu schleichen, um die weicheren Teile unter der Bluse zu erreichen.
Die Knaben umstanden sie dicht, es war verboten, sich zu prügeln, und hier war Aussicht auf einen großen Krawall. Der Seeheldensproß Dankvart grüßte die Parteien mit gedämpftem Zungenschnalzen; er trug selbst schon den vierten Tag ein großes Plakat auf dem Bauche, auf das Herr Bonfils die Worte: »Das Lama spuckt« geschrieben hatte, weil er einen Kameraden mit dem Munde besudelt hatte.
Ejgil schlug, aber wider Erwarten Petersens mit der linken Hand. Er gebrauchte die Handkante, um alle Knochen mit vollem Gewicht wirken zu lassen, und schwang den Arm ganz vom rechten Fußknöchel aufwärts, so daß sein ganzer Körper bei dem Schlage als Achse wirkte.
Er traf Petersen genau unter dem rechten Ohr. Petersen schnappte nach Luft, setzte sich auf den Asphalt und streckte sich zurück, er röchelte ein paarmal und wurde ohnmächtig. Gleichzeitig kam Herr Bonfils aus seiner privaten Tür mit einer Hälfte des Regierungsblattes in jeder Hand und auf seiner Flöte pfeifend, die er zwischen den Zähnen halten konnte.
Petersen wurde langsam von Sergeant Hansen wieder ins Leben gerufen, der die Anweisung zur Rettung Ertrunkener und anderer Scheintoter anwandte, sein Unterrichtsfach in einer Mädchenschule.
Herr Bonfils zog Ejgil am Haar in die Aula, um ihn dort das spanische Rohr schmecken zu lassen. Die ganze Schule bekam eine Stunde frei und nahm klassenweise im Saale Aufstellung, so daß sie Karree bildete. In der Mitte stand Herr Bonfils mit dem spanischen Rohr.
Herr Bonfils war betrübt, Ejgil war einer seiner Lieblingsschüler, aber es durfte keine Gelegenheit versäumt werden.
»Jeder Schlag trifft mich selbst«, sagte er, »und schmerzt mich im Herzen mehr als dein Rücken, aber du willst ja als Gewalttäter und Verbrecher aufwachsen, um schließlich im Zuchthaus zu enden!«
Er gebrauchte hierauf dieselben Ausdrücke, die er auf Marat sowie auf Kaiser Nero und Wilhelm von Hohenzollern anzuwenden pflegte, die Ungeheuer in Menschengestalt waren.
Hierauf schlug er, daß das Rohr pfiff und die Oberlichtscheibe der Halle, die auf Eis gestimmt war, mitsang.
Er hatte noch die Augen voller Tränen, gerührt von Ejgils langen gelben Locken und großen blauen Augen, fand aber im übrigen, daß das Haar des Knaben anfing, dunkler zu werden, seit einem Jahre glich er immer mehr einem aufgeschossenen Bengel in kurzen Samthosen mit langen bloßen Beinen (immer mit Rissen und Schrammen am Knie), das schmale, etwas blasse Gesicht schien Herrn Bonfils weit weniger engelrein als früher.
Daher schlug er ohne Zögern zu, geriet in Schweiß, die Tolle sträubte sich ihm, er begann zu schnaufen, der Speichel spritzte um ihn herum, und alle konnten riechen, wie zornig er war, bis er auf einmal sehr müde wurde und sich auf einen Korbstuhl setzen mußte, den der Primus der Schule bereit hielt.
Ejgil rieb sich den Rücken und trat ins Glied. Hinter ihm wurde der leere Platz Petersens – auf Befehl von Herrn Bonfils – frei gehalten, um, solange Petersen krank gemeldet war, als Warnung und Erinnerung an diesen Tag zu dienen. Als Petersen aber wiederkam, wagte er nicht mehr zu stechen, obwohl er aus unterdrücktem Gelüst hinsiechte.
Indessen gab diese Begebenheit den Anlaß, Herrn Bonfils daran zu erinnern, daß Ejgils Angehörige nie den Taufschein des Knaben vorgelegt hatten.
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