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Aber vor dem Bühneneingang wartete nach der Vorstellung Dr. Max Nielsen auf sie. »Ich habe einen Tisch im ›Bristol‹ bestellt,« sagte er, »ich muß mit dir recht gemütlich in Ruhe und Frieden plaudern. Es ist ein bewegter Tag gewesen: eine Blinddarmoperation und zwei Gallensteine, der eine so groß wie eine Walnuß.« Sie erinnerte sich vage, daß etwas Unangenehmes daheim auf sie wartete, und ging daher lieber mit, obwohl Dr. Nielsen sich gerade jetzt nicht allzu sicher fühlen durfte.
Erst gegen ein Uhr kam sie nach Hause. Anna-Lise empfing sie im Entree.
»Ich habe Abendbrot gegessen«, sagte Frau Funch-Petterson, »und gehe gleich ins Bett.« Als sie Hut und Mantel ablegte, entdeckte sie einen großen Reisekorb in einer Ecke des Vorraums. »Was ist das?« fragte sie etwas erstaunt.
»Der kam um acht Uhr«, meldete Anna-Lise. »Er gehört dem jungen Herrn.«
Sie erklärte mit etwas zu unterstrichener Diskretion:
»Er sitzt gewiß noch im Eßzimmer. – Er sagte, gnädige Frau hätten gesagt, daß er warten solle.«
»Das stimmt nicht!« Frau Harriet wurde böse. Wer hatte ihn gebeten, mit Anna-Lise darüber zu reden!
Aber diese blieb bei ihrem: »Das hat er gesagt. Ich dachte mir schon, daß gnädige Frau nicht kämen. Da hab' ich für ihn gedeckt. Und ich glaube, er hat gegessen.«
Frau Harriet sah auf den Koffer, erst ärgerlich, dann unsicher, hierauf schlaff. Sie hatte nicht viel Lust, gerade jetzt über ernste und unangenehme Dinge zu reden – namentlich nicht nach dem Zusammensein mit Max, der wie gewöhnlich überlegen und dozierend sowie eifersüchtig gewesen war – selbst auf den neuen Geschäftsführer des Lokals, der übrigens schlank, elegant in Haltung und geschmeidig wie ein Toreador war.
Anna-Lise sah die gnädige Frau nicht an. Wie stets, wenn sie sich diskret zeigen wollte, wurde die Stimme unbetont: »Vielleicht könnte er bis morgen im Fremdenzimmer liegen. Soll ich zurechtmachen?«
Frau Harriet ergriff den Gedanken als Ausweg. »Ja, tue das, Anna-Lise.« Sie gähnte. Das war das einfachste; so brauchte sie nicht an morgen zu denken. Und morgen kommt Ulla, erinnerte sie sich beruhigt. Sie bat mich, mir Zeit zu lassen und mich nicht zu übereilen, nun muß sie selbst die Folgen auf sich nehmen!
Sie ging in ihr Schlafzimmer, ließ sich von Anna-Lise beim Entkleiden helfen, bekam ihre Veronaltablette und schlief, ehe das Kopfkissen noch warm von ihrer Wange war. –
Ejgil lag da, die Hände vorsichtig zusammen auf die breite Bettdecke aus Einsätzen und Spitzen gelegt. Nie hatte er auf so weichen Polstern gelegen! Über ihm war ein Himmel aus rosenbestreuter Seide, der von kleinen, feuervergoldeten Pagen getragen wurde. Er brauchte nur auf einen Knopf neben dem Kopfkissen zu drücken, und die elektrische Lampe erlosch, die unter einem Schirm von bernsteingelber Seide brannte. Ganz leicht vor Wohlbehagen fröstelnd, kauerte er sich unter der Decke zusammen. Er fühlte sehr gut, daß er hier gewissermaßen ohne Gesetz und Recht, aber komfortabel wie ein Prinz lag.
Dessen war er nämlich völlig sicher: daß das Ganze freie Phantasie von Tante Strobel war. Er kannte ihre Fabeln, wenn es ein Geschäft galt, selbst wenn sie ganz uneigennützig nur einem Klienten zuliebe handelte.
Aber hierzu kam, daß seine Instinkte zu demselben Ergebnis führten. Er hatte vom ersten Augenblick an eine eigenartige Reizbarkeit, verletztes Schamgefühl und doch eine gewisse romantische Erwartung gespürt. Aber nichts zog ihn zu dieser äußerst jugendlichen Frau, die ihm verzagt und doch berechnend wie ein kaltblütiges Kind entgegenstarrte. Er hatte sich vor ihr ganz als Fremder gefühlt.
Und das Stück, in dem sie die Titelrolle spielte, hatte ihn völlig überzeugt. Es hieß »Die unbekannte Frau« und handelte von einer Mutter, die Mann und Kind verläßt, um ihrem Geliebten zu folgen. Es zeigte in banalen Szenen ihren Fall, ihre Erhebung und ihre Sühne, da sie vor der Schranke des Gerichts in den Armen ihres Verteidigers stirbt, des jungen Rechtsanwalts, ihres Sohnes. –
Frau Funch-Petterson lebte ganz im Geiste des Stückes, gerissen in ihrer Technik, aber süßlich sentimental in ihrem Ausdruck und durch und durch falsch. Nur in den Szenen als Geliebte fand sie einen gewissen Effekt, der zu ihrem tief frivolen Gemüt paßte.
Von seinem Instinkt völlig überzeugt, fühlte er, daß nicht sie es war, nach der er sich in vagen Träumen gesehnt hatte. Und das war ihm auch genug. Sie ging ihn nichts an. Nichts knüpfte seine Seele an die ihre.
Er erwachte dadurch, daß schmelzendes Sonnenlicht durch die Fenstergardinen fiel, warm, wie durch herbstgelbe Blätter.
Er erinnerte sich sofort an alles, was geschehen war, am stärksten an die Theatervorstellung und den Unwillen, den er gefühlt hatte. Er hatte nur hin und wieder ein Theater besucht, meistens zu Operetten und Vorstadtfarcen, zu denen Tante Strobel von Klienten Karten bekam. Er dachte, in der eingebildeten Welt der Bühne könnten Wunder erstehen, könnte eine Brücke für alle Träume gebahnt werden. Aber was er sah, war ohne Existenz.
Es fiel ihm auf, daß geradeso seine eigene Lage hier war. Er glaubte selbst nicht an die Rolle, die zu spielen er ausersehen war. Und dennoch hatte er ein Gefühl, als hätte er einen Sprung hinter die Rampe getan, wo alles funkelnd hell, freundlich und warm war. Er hatte sich in eine ungewisse und doch lebenswarme Welt hineinphantasiert, er war zu einem Traum erwacht.
Er sah sich im Zimmer um. Da gab es eine meerblanke blaue Tapete. Die Wand am Fenster war schräg, als läge er in einem Zelt aus Seide. Da war ein weißer Kamin, und auf dem Boden lagen längliche weiche Teppiche. Auf einem Tisch standen ein dreiflügliger Spiegel und viele Schalen aus Kristall und Silber. Die Steppdecke war aus derselben meerblauen Seide, und das Kopfkissen ließ ihn einen Duft feinen Parfüms ahnen; er kannte es vom Tage zuvor: einen Duft, Nacht auf Nacht eingesogen vom Haar einer Frau. Das Bett war so breit, daß er kaum mit ausgestreckten Armen die Kanten erreichen konnte. Auf dem niedrigen Toilettentisch lag noch zwischen Silber und Kristall ein welker Rosenstrauß, und in einem in schwerem Porphyr ausgehöhlten Aschbecher sah er zu seiner Verwunderung eine dicke schwarze, halb aufgerauchte Zigarre.
Ein leises Klopfen ertönte. Die Tür wurde geöffnet, und das Mädchen trat ein mit Geschirr auf einem lackierten Teebrett; Kanne und Tassen bestanden aus goldenem und bergkristallblauem chinesischen Porzellan.
Das alte kleine Mädchen stand ganz ausdruckslos an seinem Bett; sie sagte, er könne zwischen Kaffee, Schokolade und Tee wählen. In den beiden Glasdosen befanden sich unter silbernem Deckel Honig und Marmelade und in einer Dose aus geschnitztem Elfenbein drei Arten Zigaretten.
Das Mädchen verließ ihn ohne ein Wort. Ihre Haltung hatte gezeigt, wie gewohnt sie war, hier unerwarteten Gästen zu servieren.
Als Ejgil gegessen hatte, lehnte er sich zurück und kroch in vollem Wohlbehagen wieder unter seine Daunendecke. Unwillkürlich dachte er an Baron von Tottenberg.
Er lag da und starrte verloren zur Decke empor, deren schräge, weiße Flächen ihm wie in Schnee gekleidete Zinnen erschienen; aus dem Kissen hinter seinem Nacken stieg ein Duft von Alpenflora, süß und heiß.
Hier war eine Welt, hoch und rein, fein, luftig und steril. Niemand sollte ihn von hier vertreiben, nie wieder in die schmutzigen Gassen, die Kammern des Gerichtes, die nach Säuerlichkeit, Schweiß und Chlor stanken, die finsteren Zellen, in denen menschliche Wracks qualvoll nach Luft schnappten und langsam starben!
Ejgil zog die Decke ganz bis zum Kinn hinauf und blieb im Halbschlummer liegen. Jetzt war es vorbei mit dem Eselspielen! Er war Andreas Hofer, dessen Kopf auf einem Blumenkissen lag, während der Schnee weiß und warm seine Schultern verbrämte. Und ein alter, graugekleideter Bernhardinermönch kam schweigend und würdig und bot ihm kochend heiße Schokolade, Weißbrot und Honig.
Er klammerte sich fest an die Spitzenkante des Bezuges. Niemand sollte ihn mehr von hier vertreiben.
* * *