Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als ein Brief von Veronika kam: jetzt hätten sie und Willibald Olsen vor dem dänischen Konsul in Florenz geheiratet und machten die Hochzeitsreise nach Sorrent, wurde Ejgil zu Tante Strobel gebracht.

Er packte selbst seine Sachen in einen Rucksack, den der Onkel als Student benutzt hatte, tat seine Schulbücher in den Tornister, bekam seine grüne Frühstücksdose über die Schulter und war damit umzugsbereit. Er ging in die Küche und verabschiedete sich von dem Hausmädchen.

Er war in der Schule von einer Gesang- und einer Lateinstunde befreit worden, um zu packen, und hatte versprochen, zum Gericht hinüberzugehen, um dem Onkel Lebewohl zu sagen. Strobels wohnten in der Westerstraße. Ejgil lief über den Neumarkt und die Steintreppe zwischen den großen Säulen hinauf.

Er passierte die Schreibstube, und alle Schreiber drehten die Köpfe nach ihm um. Ejgil konnte sehen, daß sie wußten, weshalb er kam. Er trat beim Onkel ein, der tief zwischen seinen Armlehnen versunken dasaß.

»Willst du dich nicht setzen, Ejgilchen?«

Er holte mit einem »Erlauben Sie« einen Rohrstuhl aus der Schreibstube.

»Leg' deine Mütze hin.«

Ejgil war in der letzten Zeit recht gewachsen. Er machte einen Versuch, seine Matrosenmütze an den Haken neben der Tür zu hängen und sah, daß er groß genug war, um ihn zu erreichen, was er bei seinen Besuchen in Onkels Bureau stets gewünscht hatte.

Aber Sanders schüttelte sich im Stuhl:

»Nein, nicht auf den Haken, Ejgil! Leg' die Mütze auf den Stuhl!« Er schielte scheu nach dem leeren Haken, sein eigenes Zeug lag wie immer auf dem Sofa. Er war blaß geworden, und Ejgil sah die Falten um die Wurzel seiner großen, weichen Nase.

Sie blickten sich eine Weile an.

Ejgil erhob sich artig.

»Auf Wiedersehen«, sagte er, »und Dank für alles Gute.«

Die dünnen Finger des Onkels schlossen sich zitternd um die seinen. »Bleib' ein braver Junge, Ejgil, und mache Tante Strobel Ehre – und Onkel Strobel auch.«

Er winkte leicht mit der Hand und ging mit gebeugtem Kopf ans Fenster.

»Leb wohl, Ejgilchen«, die Stimme klang gebrochen: »Geh nun. Aber besuche mich bald wieder –«

»Nicht zu Hause!« fügte er hinzu, »– am liebsten hier während der Bureauzeit. Denn zu Hause – es würde dir nur so leer vorkommen!«

Ejgil ging verzagt in die Schreibstube.

Wachtmeister Gulager hatte sich draußen mit den Schreibern unterhalten. Als Geheimpolizist wußte er alles, was in Kopenhagen vorging, in erster Linie bei seinen Vorgesetzten.

»Sie hat sich verheiratet,« sagte er zu den Schreibern, »ja, wirklich. Mit einem Sargtischlergesellen, der Kunstmaler ist. Polizist Madsen, der in der Straße patrouilliert, hat es vom Wachmann gehört und es mir heute nacht während meiner Wache erzählt.« –

»Das haben wir längst erwartet«, sagte der Schreiber Leutnant Dyrlund. »Sie war mächtig herausstaffiert, wenn sie den Junker drinnen besuchte, mit Schal, Straußenfedern und Silber auf dem Busen. Und was hab' ich gesagt: Die ist fällig! Hab' ich nicht?«

»Es tut mir am meisten um den Bengel leid«, meinte Gulager. »Der Wachmann hat zu Madsen gesagt, daß Sanders das Haus verkaufen will. Alles Geld sollen die Schwester und ihr Tischler haben!«

»Dann können wir lange warten, ehe wir den Chef loswerden!« krittelte Dyrlund. »Wenn die Schwester das ganze Vermögen bekommt, hat er ja nur das Gehalt zum Leben. Aber es ist ein Jammer um den Kleinen, er ist ja gewissermaßen unser aller Adoptivkind. Haben wir ihn nicht aufwachsen und den Junker hin und wieder abholen sehen. Wir haben doch für ihn zusammengelegt und hätten eigentlich ein Wörtchen mitzureden! Und jetzt sagt Gulager, daß er obendrein zu Strobels soll.«

»Ja«, brummte Gulager. »Strobels, hm!« Er kannte Strobels und namentlich den Rechtsanwalt selbst aus alten Tagen von den verschiedenen Kammern. Dort war er Niels Massenmörder genannt worden wegen seiner blutigen Zinsforderungen, wenn er Sachen gegen Angestellte vertrat, die Darlehen gegen Verpfändung ihres Gehaltes aufgenommen hatten, und es machte auch nicht gerade den besten Eindruck auf die Richter, wenn er sich mit den Mietern einer seiner Kasernen herumbalgte. Jetzt hatte Strobel ja glücklicherweise einen Schlaganfall erlitten, und seine Frau vertrat ihn vor Gericht, was auch nicht gerade dazu angetan war, die Leute feiner zu machen!

Ejgil trat aus dem Bureau des Onkels. Gulager legte ihm die flache Hand auf den Kopf:

»Mach' dich nun gut, Ejgilchen. Halt' Augen und Ohren offen. Und willst du einen väterlichen Rat von einer kompetenten Persönlichkeit, so komm zu Wachtmeister Gulager. Solltest du irgend etwas sehen oder hören auch bei dir nahestehenden Personen –, das, wie dir scheint, gegen das Gesetz und dein Gewissen streitet, so komme freimütig mit deinem Rapport zu Gulager!

Auf Wiedersehen, Ejgil, werde ein tüchtiger Junge und mache dem alten Gericht Ehre!«

Er nahm Ejgil mit in die fünfte Untersuchungskammer, wo niemand saß als der Gerichtszeuge, der einen alten, kleinen Arrestanten bewachte, dem die Hände wegen Krätze verbunden waren.

»Ja,« sagte Gulager, »Krätze hat er; aber er darf die Türklinken nicht anfassen. Wir müssen vorsichtig sein. Vor zwei Jahren bekamen der Chef und der Kammerbevollmächtigte Läuse, und als wir nachsahen, fanden wir ein ganzes Läusenest unter der Bastmatte an der Schranke. – Aber jetzt komm her, Ejgil.«

Er entnahm einem Paket im Requisitenschrank der Kammer ein Stück Bruchschokolade, die er kleinen Mädchen anzubieten pflegte, welche erschienen, um Sittlichkeitsverbrecher wiederzuerkennen, aber bange waren und wie beim Photographen weinten und getröstet werden mußten, ehe sie Zeugnis ablegten.

Er legte eigenhändig die Schokolade in Ejgils Frühstücksdose.

»Hier, mein Junge. Zur Erinnerung an Gulager und an die fünfte Kammer, wo du doch zum erstenmal das Licht erblicktest. Komm getrost herauf, sooft du ein gutes, freundliches Wort brauchst.« Er riß ein Stück Kautabak von der Rolle, die im Schrank lag und reichte es dem Arrestanten auf der Rückseite der Kohlenschaufel, aus Respekt vor der Krätze – wie er sagte. Sein großes, rundes Gesicht mit den grauen Bartstoppeln erschlaffte gerührt, und er gab Ejgil mit einem Kopfnicken zu verstehen, daß die Audienz vorbei war. –

Ejgil ging vom Gericht in den großen Lesesaal der Bibliothek. Das pflegte er zu tun, sooft er eine unbewachte Stunde finden konnte. Er las meistens französische Zeitschriften und das Wochenblatt für Ärzte. Jetzt verschlang er auch ein paar fesselnde Artikel über die neue Politik Englands in Transvaal und das Mendelsche Vererbungsgesetz. Er fand es nicht schwer und verstand das meiste.

Von der Universität eilte er nach der Westerstraße hinüber und trat atemlos ins Eßzimmer. Aber Strobels aßen, wie es sich gerade traf, und er fand niemand zu Hause als die Kusine Aase. Sie saß am Klavier beim Eßzimmerfenster, den Zopf zu einem Kringel im Nacken aufgerollt und in einer ausgeschnittenen roten Seidenbluse. Sie war jetzt fünfzehn Jahre alt und erwachsen. Sie spielte Tonleitern. Ejgil sah, daß ihr die Stirnhaare wie einem Pony geschnitten waren, die Brauen hatte sie sich mit Kohle nachgezogen, auf dem ganzen Gesicht Perlpuder und am Mittelfinger einen silbernen Ring mit einem großen Saphir aus Glas.

Sie wandte sich nicht um. »Guten Tag, Tierchen«, sagte sie nur und bog den Kopf hintenüber mit spitzem Mund, der rot wie eine Walderdbeere war, um ihm zu erlauben, sie zur Begrüßung zu küssen. Der Kuß ging vorbei, und ihre Backe schmeckte fettig.

»Du bist ein Schafskopf«, erklärte Aase und wandte sich wieder zum Klavier; sie spielte Valse triste mit Pedal und hatte eine Tüte Bonbons ganz unten im Baß liegen, wo das Stück nicht hinreichte.

»Nimm einen Bonbon,« bot sie an, »es ist gratis, aber du darfst nicht darin herumwühlen, du mußt den ersten besten nehmen!«

Der Bonbon brannte im Munde, es war Ingwer, den er haßte. Er brach sich zum Trost einen kleinen Bissen Schokolade von Gulagers Geschenk in der Frühstücksdose ab.

Aase wandte sich gierig um. »Was hast du da? Willst du einer Dame nichts anbieten?« Sie spuckte den Bissen aus. »Das schmeckt wie Kaneel und Puderzucker!« Sie begann zu den Tönen des Klaviers zu singen: »Gestern war ich im Tivoli – und da schenkte mir ein dicker Herr mit einem Schnurrbart – französischen Nougat in einer Schachtel – in der türkischen Serail-Stadt –! Und dann – und dann tanzten wir zusammen auf der offenen Estrade!« Sie ging in Foxtrott über und schlug den Takt dazu auf dem Taburett. »Er fragte, ob ich sein kleines Sommermädchen sein wollte.«

Ejgil sah ein, daß er sich vor diesem großen Mädchen in acht nehmen mußte. –

Der Hund der Familie Strobel – Christian – kam langsam aus Frau Strobels Schlafzimmer hereingetrottet. Es war ein halbechter Bernhardinerrüde. Als er Ejgil sah, setzte er beide Vorderfüße auf seine Schulter und sagte: »Ouhu!« Er roch aus dem Halse wie ein Kehrichtfaß.

Bald darauf kam Tante Strobel heim und brauste durch die Stuben. Sie trug ein Schneiderkleid und einen Hut mit leierförmigen Reiherfedern; unter dem Arm trug sie ihre wildlederne Aktenmappe mit den Initialen in Silber, aber aus der Form gebracht durch den ungeheuren Haufen von Dokumenten, die sie bei sich hatte. Sie trug stets ein ganzes Archiv unter dem Arm – wie sie sagte, um es so nahe, wie sie konnte, bei der Hand zu haben! Sie legte die Mappe auf einen Eßzimmerstuhl, das Jackett auf das Eichenbüfett, und ging, mit dem Hut auf dem Kopfe, zu Tisch. Die elektrische Klingel, die von der Gaskrone herunterhing, funktionierte nicht, und sie rief daher mit lauter Stimme nach der jüngsten Tochter:

»Kirsten!«

Kirsten trug die Vorspeise bei beiden Schüsselhenkeln herein, die Kanne mit rotem Saft hatte sie unter den Arm geklemmt. Das Mittagessen bestand aus warmer Reismehlgrütze mit (kaltem) Himbeersaft, und Kirsten, die heute an ihrer Stirnhautentzündung litt, hatte sich die Nachspeise leicht gemacht, sie bestand aus Reismehlpudding (kalt) mit warmer, roter Himbeersoße.

Seit die Mutter die Strobelschen Geschäfte übernommen hatte, führte Kirsten den Haushalt mit einem Morgenmädchen als Hilfe für die gröbere Arbeit. Sie war jetzt gut dreizehn Jahre alt, wirkte aber ganz ausgewachsen. Sie hatte schon eine Büste, und wenn sie das Bandagenkorsett nicht trug, war sie mindestens ebenso schön gebaut wie Aase, die doch in der ganzen Gegend ihrer prachtvollen Figur wegen bekannt war.

Aase hatte sich auf eine Stuhlkante gesetzt und trommelte mit den Lackschuhabsätzen auf dem Linoleum des Fußbodens. Kirstens Reismehlkleister rührte sie nicht an! Sie kam gerade aus einer Konditorei und hatte Schokolade getrunken und acht Kuchen gegessen. Frau Strobel schalt nicht, sah aber streng aus. Sie hatte es längst aufgegeben, Aase zu strafen. Denn schon als kleines Kind hatte Aase es geliebt, Schläge zu bekommen. Erhielt das Kind eine Backpfeife oder Klapse auf den Hintern, so wurde es hektisch, bekam wilde Augen und bat um mehr: »Mehr, Mutter, schlag' härter! Nur etwas noch!« Aase war ungezogen nur, um die Rute zu bekommen. Dies Kind zu bessern war nicht möglich, es mußte sein eigenes Leben leben!

Und hinterher zeigte Aase sogar die Striemen am Bein über den Strümpfen und erzählte den Damen im Milchgeschäft der Straße, daß sie stundenlang mit einem Teppichklopfer geprügelt würde! Die Bewohner dachten daran, eine Klage an die Polizei zu schicken. –

Frau Strobel begnügte sich selbst damit, ein wenig am Vorgericht zu nippen. Sie hatte im Anwaltscafé »Sorrent« Beefsteak und Porter gefrühstückt und sollte zu Abend bei einem Klienten am Sund essen, für den sie vier Beleidigungsprozesse gegen die Familien im zweiten Aufgang des Hauses führte.

Theodor, der eine halbe Stunde zu spät kam, murrte über Kirstens Essen. Die Mutter tadelte ihn streng. Er müsse froh sein, wenn er nur sein ganzes Leben täglich Reismehlpudding bekäme, und viele arme Kinder würden ihn noch beneiden.

»Aase kann das Reismehl für ihre Fratze gebrauchen«, sagte Theodor. Er legte resolut den Löffel nieder: »Ich fresse euern Dreck nicht!«

Er hatte kürzlich angefangen, selbst zu verdienen und fühlte sich nun ordentlich, nachdem er, wie Frau Strobel allen gegenüber klagte, durchs Examen gefallen und jetzt, Gott sei Dank, als Lehrling bei einem erstklassigen Fondsmakler angekommen war. – Theodor trug einen blauen Sakkoanzug mit heraushängendem Taschentuchzipfel und Umlegekragen. Er sah mit Hohn auf Ejgils blauen Matrosenanzug.

Frau Strobels Gedanken fielen auf Ejgil. Sie saß da, betrachtete ihn und war gerührt darüber, daß er ihr jetzt und in Zukunft an Kindes Statt sein sollte.

Sie fand, daß er in der letzten Zeit gewachsen, daß er schlank und ein hübscher Junge geworden. Er war viel dunkler, als er als kleines Kind gewesen; seine Züge waren reizend, kein Zweifel, daß Rasse in ihm steckte. Frau Strobel fing gleich an, über die Herkunft des Knaben zu spekulieren: zweifellos stammte er aus sehr vornehmem Blut. Sie wurde ganz warm bei dem Gedanken, wer seine rechten Eltern möglicherweise sein konnten. Zweifellos ging seiner Geburt ein Roman voraus; sie war kürzlich in einem der neuen Kinematographentheater gewesen, die in den Hauptstraßen eröffnet waren, und sie erinnerte sich eines spannenden Dramas von einem vertauschten Grafenkind, das im geheimen aufgezogen wurde. Sie bekam Schlucken, als sie daran dachte, und mußte Wasser trinken.

Der Hund Christian kam aus der Küche mit einem Bratenknochen im Maul und nahm unter dem Tische Platz, wo man ihn rumoren hörte.

Theodor nickte wieder: »Ich weiß gut, daß ihr Karbonade zum Frühstück gehabt habt,« sagte er, »und mir habt ihr nur Butterbrot mit Käse und Hering mit ins Kontor gegeben! Und jetzt gibt Kirsten Christian ganze Karbonaden!«

Die Mutter brachte ihn zum Schweigen: »Wenn man so gute Tage hat wie du! Du solltest nur einmal die Armut richtig kennenlernen, das hoffe ich um deiner selbst willen! So wie ich sie heute gesehen habe!«

Sie bekam Tränen in die Augen bei der Erinnerung an das Erlebnis des Tages. Draußen am Nordwestwege hatten Strobels ein Grundstück. Dort wohnte ein Dampfschiffsrestaurateur, der zur See gegangen und Frau und fünf Kinder zurückgelassen hatte, ohne die schuldige Miete zu bezahlen. Und Frau Strobel mußte deshalb den Gerichtsvollzieher holen, um die Familie hinauszusetzen. Es war ein wahrer Jammer gewesen! Ganze Lagen von Lumpen bedeckten, von Ungeziefer wimmelnd, haushoch den Fußboden. Da lagen die vier Würmer halbnackt und dreckig. Die Mutter saß in Hemd und Unterrock auf dem Rande einer eisernen Bettstelle, des einzigen Möbelstücks der Stube, mit einem Säugling an der Brust. Die Kleinen wimmerten vor Hunger, und es schnitt Frau Strobel förmlich ins Herz, daß sie sie auf die Straße setzen mußte. Aber es war nichts dabei zu machen, leider. Dennoch tat sie für die Familie, was sie konnte: Sie rief einen Klienten, einen Hauseigentümer, an, der ein Grundstück in der Istedstraße hatte, und empfahl ihm die Familie; dazu gab sie der Frau fünf Kronen zur Vorausbezahlung der Miete, damit der neue Wirt sehen konnte, daß die Familie wirklich prompt zahlte! Sie beglich sogar den Umzugmann mit einer Karre für die armseligen Lumpen und schenkte dem Kleinsten einige abgelegte Windeln, die einmal Theodor und Kirsten gehört hatten. Aber jetzt dachte sie daran, wie gut es ihren eigenen Kindern in einem glücklichen Heim erging, das sogar ein kleines, fremdes, von seinen früheren Pflegeeltern schmählich im Stich gelassenes Pflegekind beherbergen konnte.

»Ja«, sagte sie zu Ejgil: »Tante Veronika hatte plötzlich große Eile mit ihrer Reise.« Sie sprach den Gedanken jedoch nicht weiter aus; teils war Ejgil doch wohl noch zu klein und unwissend, um derartige Dinge zu verstehen, teils erinnerte sie sich, daß der Maler, Herr Olsen, bedeutend länger als neun Monate von Hause fort und in Italien gewesen war. Es mußte also platonische Liebe sein, und das in Veronikas Alter! Unrecht war es gegen Ejgil! – Sie zog den Knaben in ihre Arme und wiegte seinen Kopf gegen ihre Mullbluse: Das arme Kerlchen!

»Ist schon auf das Grundstück geboten?« fragte sie. Sie fand doch, daß Sanders den Verkauf gut durch sie hätte besorgen lassen können, wenn nun einmal das ganze Vermögen dem verhungerten Maler in den Rachen geschmissen werden sollte.

»Wieviel Hypotheken stehen auf dem Hause?« fragte sie. »Und sind sie bei Besitzwechsel unkündbar?« Aber darüber wußte Ejgil nicht Bescheid. Er ist sicher ein dummer Junge, dachte Tante Strobel, aber hübsch ist er! Ich muß auf Kirsten achten, wenn er heranwächst! Und wenn ich einmal ein Mädchen für den ganzen Tag nehme, so daß Kirsten in der Küche frei wird, dann muß ich bei ihrem Äußeren das Schlimmste befürchten.

Sie stützte den Kopf in die Hand und sah zerstreut den Knaben an. Sie mußte jetzt auch an einen Artillerieintendanten denken, einen Witwer, mit dem sie ziemlich viel verkehrte. Aber jetzt hatte er ein Geschwür unter einem Stiftzahn im Oberkiefer bekommen und dachte an nichts anderes, bis es entfernt war und er Frieden im Munde hatte. –

Ejgil beobachtete die wechselnden Beleuchtungen auf Tante Strobels Gesicht, es glich einer Landschaft bei böigem Wetter. Aber jetzt war plötzlich nichts mehr zu sehen. Das Gesicht der Tante war still, nicht einmal die Kiefer verzogen sich mehr.

Jetzt hat sie nicht das geringste Bewußtsein, dachte der Knabe. Dies Phänomen interessierte ihn ungeheuer. Tante Strobel war sehr lehrreich, so gern er sie auch hatte. Sie war immer liebevoll und gut zu ihm gewesen. Aber merkwürdig war es, wie sie plötzlich ganz zum Stillstand kommen und mit leeren Augen dasitzen konnte. Nur der schwach wogende Busen zeugte davon, daß noch Blutdruck in ihrem Körper war.

Es konnte sich ein wenig um ihren Mund zu regen beginnen – ein Zeichen, daß sie Gedanken bekam, aber das verschwand gleich wieder. Man mußte jedoch darauf vorbereitet sein, daß sie ganz unvermittelt wie ein Geiser zu sprudeln beginnen konnte. Die Tante saß da und füllte sich den Teller, ohne es selbst zu ahnen, und auf einmal konnte die Rede wieder aus ihr herausströmen wie aus einer Pumpe.

Er fand heraus, daß die meisten Menschen sicher nur hin und wieder bei Bewußtsein waren. Das Bewußtsein war nur eine körperliche Eigenschaft wie der Schlucken. So war es mit Aase, die zuweilen dasaß und mit den langen Wimpern blinzelte, an denen große Rußklumpen hingen; und auf einmal konnte sie den Veitstanz bekommen und kichern. Dann war der Blutdruck in ihr stärker geworden, und das Gehirn, oder jedenfalls doch die Nerven, begannen allmählich zu wirken. Theodor war nicht besser. Er saß jetzt stumm und verdrossen da, bis irgendeine Gemeinheit sich in ihm zu einem Klumpen gesammelt hatte und ausgespien wurde.

So, meinte Ejgil, ginge es sicher auch mit ihm selber. Meistens war er gedankenleer und bewußtlos, wußte nur nicht wann, da er sich ja nicht selbst beobachten konnte, sobald er nicht dachte.

Das Bewußtsein stellte sich nur zeitweise ein, gerade wie die Verdauung. Daher war die ganze Theorie von einer lebendigen Seele vollkommen falsch. Das meiste vom Leben war Pause, vor allem die Nächte. Die Organe lebten, aber das Bewußtsein hatte nur Perioden. Die Leute handelten, ehe sie dachten. Immer! –

Tante Strobel hatte ein Seelenleben auf dieselbe Weise, wie sie Schlucken hatte. Aber eine unsterbliche Seele? Nein! Nicht ein einziges Mal hier auf Erden äußerte ihre Seele ihre Existenz. Jetzt wollte sie wieder Neuigkeiten über Veronika und Willi Olsen hören, machte sich aber nichts aus einer Antwort; die gab sie sich selber: Man hätte sich denken können, daß es dies Ende mit Veronika nahm, die in ihrer Jugend auf einem Ball der Diplomatie mit bloßem Oberkörper die Minerva in einem lebenden Bilde dargestellt hatte!

Ejgil mußte sich selbst fragen, was in Tante Strobel sie nach dem Tode überleben sollte! –

Das Grundstück in der Westerstraße bestand aus einem stattlichen Vorderhaus nach der Straße mit großen, wenn auch dunklen Wohnungen, einem hundertjährigen Seitengebäude und Fachwerkflügeln im Hinterhof, wo sich eine Buchdruckerei, eine Konfektfabrik und Pferdeställe befanden. Strobels gehörte der ganze Komplex, und außerdem besaßen sie zwei große Grundstücke draußen am Nordwestweg, neuerbaut auf Strohmannhypotheken für die Handwerkerschuld, beliehen in einer Hypothekenbank, die jetzt nach dem großen Krach im Jahre 1908 in Konkurs geraten war. Das eigentliche Aktivum war die Westerstraße. Aber die schlechten Jahre jetzt um 1910 wirkten auch hier, und drei Wohnungen standen leer, also Unterbilanz.

Strobels führten ihren Haushalt im ersten Stock. Im Erdgeschoß lag das Bureau in einer Wohnung, deren sämtliche Räume als Kontore, kleine Rechtsanwalt- und Schreibbureaus vermietet waren. In der Küche befand sich eine Gummiwarenhandlung en gros, mit einem Lager von Luftkissen und anderen Dingen in der Speisekammer. Der zweite Stock des Seitenhauses stand leer, und dort hatte Frau Strobel ein Zimmer für ihren apoplektischen Mann eingerichtet, um ihn nicht allzu nahe bei den Klienten und den Kindern zu haben. Jeden Morgen fand sie sich bei ihm ein, damit er die speziellen Vollmachten ausstellen konnte, die es ihr ermöglichten, die Strobelschen Prozesse zu vertreten. Wie sie sagte, verstand sie als nichtstudierte Frau und ohne Bestallung in ihrem kleinen Finger mehr von Jura als sieben Reichsgerichtsanwälte, und doch verbot ihr der Staat, ohne besondere Vollmacht von ihrem unmündigen und schwer getroffenen Manne aufzutreten!

Die leeren Wohnungen bedeuteten einen großen Verlust, und der Grundstückshandel ging schlecht, obwohl die Makler, die täglich ins Bureau zu Frau Strobel guckten, guten Willen genug hatten, namentlich Graf Mogens Billestorp, der mehrere Bände Verse bei einem Verleger herausgegeben hatte, jetzt aber ein tüchtiger Hausmakler war. Indessen schaffte Frau Strobel Rat betreffs der leeren Wohnungen; sie traf eine Vereinbarung mit dem Möbellager »Glückliches Heim« in der Fallenstraße.

Als Ejgil eines Tages, kurz nach seinem Einzug, aus der Schule nach Hause kam, traf er Tante Strobel im Eßzimmer in Überzeug und eine Mignonzigarre rauchend.

»Gott sei Dank, daß du kommst, Ejgilchen, ich habe auf dich gewartet und muß selbst auf der Stelle fort und eine Baustelle bei Valby ansehen. Du willst doch deiner Tante ein bißchen helfen, nicht wahr? Ich bin selbst schon ganz fertig.«

Ejgil folgte ihr zum Bureau hinaus. Von dort führte eine Wendeltreppe in die zweite Etage des Seitengebäudes hinauf. Die Treppe war seinerzeit eingerichtet, als sich ein Tapetenlager hier befand und wurde jetzt wieder benutzt, als Onkel Strobel seinen Schlaganfall erlitten hatte und in den von Tante Strobel so genannten »Annex« gebracht worden war.

Zu seiner Überraschung sah Ejgil, daß die drei Hauptzimmer der Wohnung reizend möbliert waren. Da gab es ein weiß lackiertes Eßzimmer in Louis Seize und ein Wohnzimmer mit hohem Sofaumbau und Polstermöbeln mit Kameltaschen nebst einem Diwantisch mit Samtdecke. Ejgil erinnerte sich, gesehen zu haben, wie die Sachen am Tage zuvor auf einem Möbelwagen gekommen waren. An den Wänden hingen Stahlstiche mit röhrenden Kronhirschen.

»Jetzt bleibst du artig hier sitzen, Ejgil«, sagte Frau Strobel. »Die Möbel sind zu morgen annonciert, und die Stücke werden nicht einzeln verkauft, sondern jedes Zimmer für sich. Kommen Kunden, so sagst du, daß deine Mutter tot ist und dein Vater gefährlich krank im Nebenzimmer liegt und nicht selbst über den Verkauf verhandeln kann, aber ihr müßt den Doktor bezahlen, und dann weinst du ein bißchen, nicht wahr? Und die Möbel sind von deinen Großeltern geerbt und alte Familiensachen, verstehst du? – Und sie sind alle echt antik! Das Wohnzimmer kostet achthundert, das Eßzimmer siebenhundert. Und solide Käufer verweist du an mich morgen im Bureau, weil ich die Rechtsvertreterin deines Vaters bin, kannst du sagen.«

Ejgil nahm seinen lateinischen Livius und als Notbehelf einen Band Carlyle mit auf den Sofatisch, wo sogar ein Familienalbum mit gravitätischen Personen auf Plüschsesseln oder Naturholzbänken lag. Sie waren vergilbt und sahen alle wie Verstorbene aus. Möglicherweise waren sie einmal von Willibald Olsen fortgetragen worden.

Im Nebenzimmer hörte man Onkel Strobel husten, während Ejgil den Kunden seine traurige Geschichte erzählte.

Ejgil hatte selbst Onkel Strobel noch nicht begrüßt. Niemand hatte ihn dazu aufgefordert.

Die Möbel wurden verkauft, aber kurz darauf kamen neue von dem Möbellager »Glückliches Heim« – zuerst ein weinrotes Samtmeublement im Biedermeierstil mit Fransen und Quasten, dann ein echtes Renaissanceherrenzimmer von einer Grafschaft – es duftete nach neuem Kiefernholz –, schließlich ein Eßzimmer in Bauernstil mit Schenktisch und Ruhebank, auf der Ejgil nicht sitzen durfte, damit sie nicht aus dem Leim ging.

Ejgil liebte es, hier zu sitzen und zu lesen, wenn er auch Carlyles »Französische Revolution« schwülstig und verlogen fand. Hier war es immer schattig, das Zimmer lag nach Norden, aber die Gebäude erhielten zwei Nachmittagsstunden lang Sonnenschein. Fässer polterten im Hofe, die Speicherketten rasselten vom Flaschenzug des Giebels, die Arbeiter schrien sich an: »Pass' auf, zum Donnerwetter!« – Ab und zu kam der Hund Christian in die Wohnung herunter. Er konnte sich die Tür selbst mit der Pfote öffnen. Das Tier kam, sah sich um, schnüffelte in der Luft und trottete weiter seine eigenen dunklen Wege.

Ejgil gehorchte der Tante bezüglich der Kunden. Er hatte Begabung im Erfinden einer Geschichte und liebte zu fabulieren.

Ein junges Paar kam, offenbar auf der Aussteuersuche. Er war ein kleiner, schüchterner, ältlicher Kontorist, sie eine ältere Frau, die fünfzehn Jahre langes Warten auf die Hochzeit spitz um die Nase gemacht hatte; jetzt strich sie mit dem Handschuhfinger zärtlich über die rosengemalten Girlanden der Ruhebank. Und er fragte bebend: »Wieviel?«

»Zweitausend!« sagte Ejgil resolut. Um keinen Preis durften diese beiden armen Menschen das frischgeleimte Eßzimmer des Lagerhauses »Glückliches Heim« haben! Die beiden Verlobten gingen denn auch tiefbetrübt fort; aber Ejgil wußte, daß sie gerettet waren.

Wenn Kunden ihn langweilten, erzählte er von verschiedenen Möbeln scheußliche Anekdoten. Eine fette, mürrische Trödlerin hatte sich zwischen die Armlehnen von dem Prachtstuhl der Renaissancestube geklemmt.

»Der Stuhl«, sagte Ejgil und betrachtete sie fest, »stand auf dem Elterngute meiner Mutter hoch oben in Värmland. Es geht eine Sage über ihn: Mein Urgroßvater, der ein großer Eisenwerkspatron war, saß eines Tages auf ihm und trank Portwein, als seine aufrührerischen Bauern das Schloß stürmten, um ihn zu ermorden. Sie banden ihn auf den Stuhl und benutzten ihn als Wurfscheibe für ihre Eskiltunamesser! Der Stuhl ist neu gemalt, aber die Blutflecke kommen immer wieder zum Vorschein – gerade, wo Sie jetzt Ihre Hand halten!«

Die Trödlerin fuhr mit einem Satz hoch. Unwillkürlich rieb sie sich die Fingerspitzen an der Unterkante des Renaissancetisches ab und machte, daß sie aus der Wohnung kam. –

Es war für Ejgil eine ganz neue Gegend der Stadt. Hier in die Westerstraße rasselten Wagen mit landwirtschaftlichen Maschinen oder rumpelten mit Lasten von Butterfässern, es war etwas von dem alten Landwirtsviertel: Stellenvermittlungskontore, wo Knechte und Mädchen sich an Abgangstagen herumtrieben, Läger mit Sämereiproben im Fenster; es hielten Strohfuhren in den Höfen oder Hefewagen, von fetten Brauereipferden mit Bierschaum ums Maul gezogen; in der Brennerei auf dem Hinterhof gab es sowohl einen Kuhstall wie einen gackernden Hühnerhof. Und am Ende der Straße lag das alte Landwirtshotel »Drei Hirsche«. Aber zugleich war hier City: Warenaufzüge gingen in ihren eisernen Käfigen auf und nieder, die Viktoriapressen wälzten sich in dem engen Buchdruckereikeller des Seitenhauses. Zeitungsverkäufer kamen mit alten Kinderwagen voll von hohen Stapeln, nach Druckerschwärze stinkender Zeitungen angerollt.

Gegen den Rücken konnte Ejgil den dumpfen Puls der kleinen Etikettenhandpresse in der Druckerei, dicht hinter der Wand, spüren, wo er saß. Jetzt prägte der Stempel: »Feinster alter Kognak« und »Echter Jamaika-Rum«, wie es auf der Makulatur stand, die täglich im Winde über das Pflaster des Hinterhofes flatterte.

Raum neben Raum wurde gearbeitet, gehämmert, gelärmt und gepackt, die Leute gingen träge, ihre sauren Shagpfeifen paffend, nach dem Anbau des Hofes. – Hier waren nicht die stillen Schwäne des Schwarzdammsees – – –

Verschwunden waren die sechs kleinen Stuben der Dossering mit dem verblichenen Damast aus einer vergangenen Patrizierzeit in jenen Jahren, da die Rangordnung noch galt, da der alte General Sanders in der Nyborger Kommandantur nach einer Parade die Majestät mit Höchstihrem Stab bewirtete; vorbei war Veronikas rauschender Frühling in hellen Mullkleidern mit Falten oder blaßrosa Fichu auf den Bällen des Offiziervereins.

Obwohl jene Zeit für Ejgil nur eine Sage war, wurde sie auch für ihn etwas Verschwundenes und Verlorenes. Es war, als ob die letzten Erinnerungen an eine vornehme, wenn auch mäßige Zeit tot waren.

Hier wohnte er nun in dem geschäftigen Viertel der Bürgerschaft; er fand, während er Carlyle las, daß diese kleinen, tüchtigen Grossisten, geldgierigen Detaillisten, diese Zeitungsdrucker oder gewandten Winkeladvokaten, daß sie die erwachsenen und schon ein wenig senilen Kinder der Französischen Revolution waren, hier eingeklemmt in diesem engen Quartier der neuen Großbanken und von dem gewaltigen Aufmarsch der körperlichen Arbeiter. Aber war diese geschäftige Bürgerschaft nicht gerade jener dritte Stand, der vor dem Bastillesturm nichts war und alles sein wollte?

Das Buch über die Revolution formte seine Phantasie; er sah die großen Szenen in deutlichen Bildern. Er nahm erst seinen Bleistift und versuchte sie zu zeichnen, wie er sie vor sich sah, gab es aber bald auf, da er sich der Worte Willibald Olsens erinnerte, daß Kunst allein Farbe und Linien sei und nichts mit dem Erzählen einer Geschichte zu tun habe. Wer »literarisch« male, sei ein Pfuscher, ein mäßiger Dilettant. Ejgil gab das Zeichnen daher auf. Er wagte es nicht Willibald Olsens wegen.

Er versuchte, seine Einfälle in wirkliche Szenen mit Repliken zu formen, und er konnte, wenn er den Nacken zurücklehnte, jede Episode der großen Revolution erleben. Die Gänge hinter dem Fachwerk des Hinterhofes konnten sehr gut Straßen in dem alten Paris jener Zeit, die finsteren Gassen von St-Marcel und St-Antoine, diese nackte Stube mit den schmutzigen, breitgestreiften Tapeten das Vorzimmer zum Sitzungssaal des Schreckenstribunals sein. Hier wartete er nun selbst als der letzte Arrestant des Tages!

Die Tür öffnete sich, zwei Sansculotten kamen mit aufgepflanztem Bajonett und versicherten sich seiner Person. Sie nahmen ihn jeder an einem Ohr und zogen ihn mit fort. Wenn er schielte, konnte er ihre Profile unter der Jakobinermütze mit der Kokarde sehen: der Gardist links hatte den kleinen Schnurrbart von Sergeant Hansen, dem Turnlehrer, die Wache rechts die tomatenrote Nase des alten Kanoniers Mogensen. Ja, sie waren es, die er jetzt sah. Aber mit weißen Banderolen und auf bloßen Füßen, die in trikoloregestreiften, dreckigen Permissionen steckten, und es war nicht das erstemal, daß sie ihn am Ohre zogen!

»Bürger Sanders!« rief ein Greffier, und eine andere Stimme befahl: » Prisonnier! Avancez, s'il vous plaît.« Das war Fouquier-Tinville, der öffentliche Ankläger. Seine Brauen glichen zwei harten Parenthesen, die sich um seine Augen schlossen.

An der Wand über dem Richter, dem berüchtigten Präsidenten Dumas, stand eine Büste: Marat, der große Physiker, Sprachforscher und Mediziner, zum Märtyrer gemacht vom Dolche der Mörderin Charlotte Corday – der flammende Volksheld, der mit seinem warmen Herzen vergebens versucht hatte, den Septembermord an den gefangenen Aristokraten abzuwehren. Aus seinem rechtsinnigen Pathos suchte Ejgil Billigung und Milde für seine Sache herauszulesen. Aber jetzt sah er, daß der Präses des Tribunals, der mit schneeweißer Halsbinde hoch ums Kinn das Katheder, eine Treppenstufe über den beiden schreibenden Greffiers einnahm, Herr Bonfils selbst war. Hinter der Schranke der Jury saß die erste Klasse der Schule, und der Verteidiger war Dr. Medinger, der Geographielehrer; von dieser Seite mußte er das Allerschlimmste befürchten!

»Bürger Sanders!« rief Präsident Dumas-Bonfils. »Du bist angeklagt wegen Aufruhrs und Verrats gegen das allgemeine Wohl! Was hast du dazu zu bemerken?«

Die beiden Sansculotten kniffen Ejgil fester in die Ohren und drehten sie um.

»Der kleine Esel!« murmelte der Verteidiger Doktor Medinger. »Er behauptet frech, die Welt sei krumm, und leugnet das Gravitationsgesetz! Und den soll ich verteidigen! Er leugnet die ewige Vernunft und ihre längst bewiesenen Gesetze!«

»Antworte!« sagte Fouquier-Tinville und schüttelte den Kopf. »Du hörst, was selbst dein Verteidiger gegen dich bezeugt!«

»Antworte!« wiederholte Herr Dumas-Bonfils.

»Die Vernunft ist nicht ewig«, sagte Ejgil schwach. »Sie ist nur eine Eigenschaft an uns – und noch dazu nur an ganz wenigen.«

Die Mitglieder der Jury lachten höhnisch mit großen Hundezähnen. Der Pöbel heulte von der Galerie, und die berühmten Strickerinnen, die mit Nachthauben zuoberst auf der Tribüne saßen, blickten von ihrem Strickzeug auf und klapperten im Takt mit ihren Nadeln: »Zur Guillotine mit ihm!«

»Ich klage Bürger Sanders des mangelnden Wohlwollens gegen Menschen an!« sagte Fouquier-Tinville. Sein Ton klang müde und traurig.

Ejgil schwieg. Wollte er jetzt von dem Wohlwollen reden, das er wirklich zeitweise für einen oder den anderen Menschen fühlen konnte, so mußte er es begründen; und das war ihm unmöglich.

»Da hört Ihr, Bürger Richter«, rief der Verteidiger aus. »Er gesteht! Sein ganzes Weltbild ist krumm. Er sieht nicht allein das Universum, sondern die Menschheit selbst in einem Hohlspiegel!«

»Ehrst du das Volk, achtest du es und betest es an?« fragte Fouquier-Tinville und sah bitter vor sich hin.

Ejgil beugte demütig das Haupt: »Ich bin meistens ganz allein.«

Fouquier zuckte die Achseln:

»Du gehörst also zu den Aristokraten! Wie töricht, daß eine Menschenklasse sich weniger tierisch dünkt als die anderen!«

Ejgils Stimme bebte. Die Tränen stiegen ihm in die Kehle: »Ich habe mich nie an eine Klasse geknüpft gefühlt!« Er sah plötzlich seine Einsamkeit bestätigt durch das höhnische Echo von sämtlichen Kameraden, die grinsend zu den Fensteröffnungen der Galerie heraushingen.

»Da seht Ihr, Bürger Geschworene!« warf Fouquier-Tinville hin. »Der Angeklagte gesteht seine Schuld, daß er das Volk verachtet hat!«

Sein Blick suchte forschend die Augen des Gefangenen.

»Ich fordere Todesstrafe«, erklärte er düster.

»Für die, die unsere Welt und uns verachten –« rief Dumas-Bonfils, »der Tod!«

»Für den, der die Genossen verrät,« schrie der Chor von oben, »der Tod!«

»Ich finde keine Verteidigung für den Leugner der Vernunft,« rief der Verteidiger, »keine Gnade für den Pessimisten, den Gegner des allgemeinen Wohls, den Ketzer der ewigen Wissenschaft!«

»Schuldig!« schwor die Jury wie aus einem Munde.

»Der Tod!« lautete Dumas-Bonfils' Urteil. »Der Tod sans phrase! Führt ihn ab!«

»Ich will ja nichts, als die Dinge in Frieden betrachten dürfen«, dachte Ejgil tief verzweifelt. Aber die beiden Sansculotten zogen ihn an den Ohren hinaus. Er begegnete noch einem Blick von Fouquier-Tinville, der ihn in seiner Geringschätzung zu Eis erstarren ließ: Wer nicht im Chore mitruft, ist ein Tor und muß sterben!

»Ich kann nicht,« jammerte Ejgil, »ich bin zu klein, zu schwach – –!«

»Zu faul!« donnerte Dumas-Bonfils.

»Esel! Führt ihn ab!«

Vor dem Justizsaal stand zuvorderst in dem Zuschauerhaufen eine Frau. Sie hatte eine Jakobinermütze auf dem vollen blonden Haar. Es war Veronika.

Ejgil preßte sein Antlitz in ihre Hände. »Mutter!« schluchzte er.

Sie griff ihn mit der Hand um den Nacken und schob ihn von sich: »Du bist nicht mein Kind, geh!«

Ein dicker Polizeiwachtmeister stand an der Gittertür. »Komm!« sagte er gewohnheitsmäßig zu dem Arrestanten, und Handschellen rasselten. –

Ejgil sitzt dann auf einer Karre, die über das Pflaster rasselt. Armselige Hausfassaden mit bleigefaßten Scheiben und verschnörkelten Dachrinnen gleiten vorbei, die Straße ist von Bürgern erfüllt, die sich denselben Weg wie die Karre drängen. Hinter sich sieht er einen anderen, von einem Esel gezogenen Wagen, auf dessen Brettern ein Sarg aus gelb gestrichenem Kiefernholz steht, und darauf sitzt rittlings Willibald Olsen und pafft seine Shagpfeife, er reibt sich die großen, warzigen, groben Hände.

Es ist noch ein Gefangener auf dem Karren. Er hat sich auf den Lattenrand gesetzt und blickt über die Menschenschar hinaus. »Sie müssen denselben Weg wie wir«, sagt er und zeigt auf den Lichtfleck, wo die Gasse sich zu einem großen, neugepflasterten Platz öffnet. Dort steht die Guillotine: zwei rote Arme, die eine Messerklinge umschließen. Das Messer blinkt, fährt herab – ist im nächsten Augenblick wieder oben wie zuvor, aber nicht mehr blank.

Der andere Gefangene ist ein alter Mann oder scheint es vielleicht nur zu sein, weil seine gelockte Perücke weiß gepudert ist. Er nickt dem roten Rahmen zu, wo das Messer jetzt zum zweitenmal hochgeht.

»Bald werden wir zu dem kleinen Fenster hinaussehen«, sagt er. »Das Volk hat sich versammelt, um auch etwas zu sehen. Auch sie möchten gern wissen, was es dort draußen gibt. – Aber wir allein haben die Aussicht, zu sehen.«

Am Fuße des Schafotts steht ein junges Weib. Ejgil sieht, daß sie nackt bis zum Gürtel ist, die kleinen, spitzen Brüste gleichen zwei Spitzen aus Gold. In den Händen hält sie eine silberne Schüssel, und damit hat sie das mächtige Haupt Dantons aufgefangen, als es fiel. Es scheint aus Reismehl und Blut geknetet. –

Langsam, einer nach dem anderen, steigen die Gefangenen die roten Stufen hinauf. Der Henker steht oben, Sanson, le chef des hautes œuvres. »Knie nieder!« sagte er, und seine Stimme ist betrübt. »Verzeih mir, ich tue nur meine traurige Pflicht.« Ejgil findet, daß er die bleiche, melancholische Nase des Onkels hat. Die Planken klemmen sich um seine Schultern, der Block preßt sich gegen sein Kinn. Durch den Rahmen der Guillotine sieht er Herodias' Tochter mit ihrer Silberschüssel warten. –

Er brach die Bilderreihe ab. Hier lag er zum Fenster hinausgelehnt – hier im zweiten Stock – und sah auf das Pflaster des Hinterhofes hinunter, wo Strohhalme und Weinetiketten herumlagen. Vorsichtig zog er sich zurück. Er hatte sich, das sah er ein, zu weit hinausgelehnt.

 

* * *


 << zurück weiter >>