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Ein Kindessinn wird – es quillt im Dunkel, zwei Hände, Keimblättern gleich, öffnen sich zornig, das Kind befiehlt: Es werde Licht!

Das Kind, das Wachtmeister Gulager von der fünften Untersuchungskammer in die Schreibstube getragen hatte, sei der einzige Zeuge, erzählte er, in der Sache gegen Johanne Sylfrida Frost, genannt Schwester Sylvia, angeklagt wegen Verwahrlosung von Pflegekindern sowie möglicherweise Mord.

Gulager präsentierte das Kind, das er mit väterlicher Erfahrung auf den Armen wiegte.

»Bitte anzusehen, meine Herren! Berühren erlaubt!«

Unablässig wogte der Verkehr ein und aus durch die finsteren Bureaus des alten Gerichtsgebäudes, dessen einzige Beleuchtung an Wintertagen in jenen Zeiten, fünf Jahre vor dem Jahrhundertwechsel, blakende Gasflammen waren.

In dem alten Ofen prasselten Holzknorren, und der Heizer und erste Gerichtsbote, der betagte Holsteiner Lornsen, kam mit einem Arm voller Buchenscheite und oben auf dem Stapel den Haufen neuer Haftbefehle angeschlürft. Die Schreiber schnauften erkältet und riefen nach mehr Wärme. Aber Lornsen hatte vieles andere zu schaffen, viele, viele Öfen zu versorgen.

Wenn die jungen Polizisten elastisch und wohlgemut durch die Schreibstube eilten mit einem höflichen »Mahlzeit« für Leutnant Dyrlund oder den »Schwarzen Ludvigsen«, die hinter Zeitungen ihr mitgebrachtes Butterbrot knabberten, blickten die Schreiber verdrießlich auf und ließen sich lässig herab, nach Neuigkeiten aus den Kammern zu fragen; sie waren welterfahren und blasiert; höchstens die Beförderung eines Referendars oder Richters interessierte sie, Gerichtssachen hatten sie mehr als genug – längst!

Wachtmeister Gulager war jedoch der Mann, sie aufhorchen zu machen: er war der Geheimpolizist, der die erste Vertrauensstellung im Korps einnahm und bei der nächsten Gelegenheit zum Unterchef ausersehen war; seine gute Laune und sein gewichtiger Körper verschafften ihm Respekt.

Jetzt stand er, vor Klugheit und Zuversicht mit den Äuglein blinzelnd, da und präsentierte dem Bureau das Kind. Er hob es behutsam auf das mächtige, von vier Schreibern besetzte Pult:

»Hier sehen die Herren also das einzige gerettete Pflegekind aus Schwester Sylvias Asyl!«

Die anderen Kinder, erzählte er, lägen in alten Pappschachteln unter dem Rasen.

»Heute abend müssen wir mit Spaten hin und den ganzen Garten umgraben!«

Das Kind trug eine gestrickte Matrosenmütze mit Quaste und einen von der Frau Wachtmeister geliehenen rosa Umhang mit Spitzenkante. Denn man hatte das Kleine nackt zwischen Lumpen in einer eisernen Bettstelle mit drei neugeborenen Hunden zusammen gefunden.

»Es waren im ganzen vierzehn Hunde«, sagte Gulager feierlich. »Ausgewachsene und Junge eingerechnet. Sie sind in dem Pensionat auf Vesterbro in Verwahrung gegeben und eingestallt – wenn einer der Herren einen Pflegehund haben möchte!

Das Kind nimmt vorläufig meine Frau«, fuhr er fort. »Seine fernere Zukunft ist noch in Dunkel gehüllt. Aber ist es nicht ein niedliches Kind?«

Alle besahen das Kind von vorn und von hinten, die meisten der Schreiber waren Väter und verstanden sich auf Kinder. Ludvigsen strich sich seinen schwarzen Seidenbart, er kannte das Leben und die Frauen, er war gerade dabei, in seiner freien Zeit die Geschichte der Freimaurerei zu schreiben, zwölf Bände im ganzen, und auch Kinder waren ihm nicht fremd.

Lediglich Schreiber Lausgaard, der einarmig, aber Vater von sechs Kindern war, hielt sich fern. Für ihn waren Kinder nur Schicksal, dem sich entgegenzustemmen keinen Zweck hatte.

Schreiber Dyrlund, der feste Wortführer des Bureaus, breitete fürsorglich einen großen Bogen Löschpapier auf dem Pulte aus und setzte das Kind auf den Bogen.

»Es ist besser«, sagte er, »für das Inventar des Bureaus!« Er reckte seine schlanke Leutnantsfigur. »Sonst ist es ein prächtiges Kind. Mädchen, nicht wahr?«

Gulager schüttelte mild den Kopf. Nein, das Kind sei nur in Mädchenkleidern, weil das Kleinste von seiner Frau vor fünf Jahren ein Mädchen gewesen wäre. Der Bengel sei schon ein ganz richtiger Junge, wenn auch der Taufschein fehle und das Alter nicht angegeben sei.

»Schwester Sylvia hat alle Papiere verbrannt,« sagte er, »ehe die Polizei kam, und das Kind wiegt zu wenig, weil es die ganze Zeit nur von vegetarischer Kost und Lungenmus gelebt hat!«

Jetzt zeigten sich auch ein paar von den juristischen Kandidaten drinnen im Assistentenbureau: Referendar Nöhrmann, der streitsüchtig und satirisch fragte, ob Kinderschau sei, und der Volontär, der junge Graf Lerche, der Herrn Lausgaard teilnehmend gratulierte.

Zweimal hatte der Abteilungschef, Kammerjunker Sanders, seine zaghafte, blutlose Nasenspitze in der Türspalte seines kleinen Bureaus gezeigt, ängstlich wie immer, wenn er das Murmeln der Schreiber hörte, deren Intrigen seine ewige Furcht waren.

Jetzt blieb er verlegen stehen, als er das kleine, fremde Kind mitten auf dem Schreiberpult sah. Es saß dort auf seinem Löschpapier mit einer Miene wie ein kleiner Bischof, schweigsam und majestätisch in seinem roten Ornat. Ihm schien, daß ihn die beiden blauen, ernsten Kinderaugen anhaltend kritisch und doch nicht ohne Sympathie betrachteten. Erschrocken zog er die Nase zurück und schloß lautlos die Tür.

Im Bureau erhob sich Leutnant Dyrlund und strich sich mit Selbstgefühl die Lenden hinab.

»Ich schlage vor,« sagte er, »daß wir für die kleine Waise eine Sammlung ins Werk setzen!« Er riß einen halben Bogen vom Papier des Bureaus ab. »Beiträge werden von Unterzeichnetem entgegengenommen.«

Er klopfte das Kind väterlich auf die Kapuze. »Das Adoptivkind des Bureaus!« sagte er. »Zahlungsfähige Zeichner haben Frist bis zum Ersten.«

Er ließ die Liste herumgehen. »Selbstverständlich muß der ›Junker‹ zeichnen«, sagte er. »Er hat ja Geld, wenn er auch filzig ist.«

Er löschte die Liste auf einem Zipfel des Bogens ab, der unter dem Kinde hervorragte, rückte sich den Kneifer zurecht und klopfte an die Tür des Kammerjunkers. Gleichzeitig mit dem Klopfen riß er die Tür mit einem Ruck auf. Das taten die Schreiber stets in der Hoffnung, ihren Chef in irgendeiner heiklen Situation zu überraschen. Dyrlund stellte sich dicht an die Stuhllehne des Bureauchefs und hielt ihm die Liste vor die Augen.

»Was ist das, Dyrlund?«

Dyrlund erklärte: Die Liste weise eine Summe von insgesamt zwanzig Kronen zur Sicherung des vaterlosen Kindes auf. Jetzt sehe man einem Beitrag des Herrn Chefs entgegen.

Sanders tastete nervös nach einer Blechschachtel in der Schublade. Dort verwahrte er einen kleinen, zu Unterstützungen bestimmten Bureaufonds. Dyrlunds indignierte Augen ließen ihn innehalten. Dieser Fonds war – daran hielten die Schreiber fest – nur zum Gebrauch für das Personal bestimmt.

Dyrlunds Blick wanderte kalt und mahnend nach dem Kleiderhaken rechts von der Tür. Sanders duckte sich demütig: An dem Haken hatte er eines Morgens vor jetzt fünf Jahren den alten Buchhalter des Bureaus – den er mit Kummer wegen groben Betrugs verabschiedet hatte – erhängt gefunden, die blauschwarze Zunge zum Munde herausgestreckt und ein Plakat an den Gehrock geheftet mit der Aufschrift: »Henker!«

Seither pflegten die Schreiber, wenn der Chef nicht gefügig war, anhaltend nach dem Haken zu starren, der bis auf weiteres unbesetzt geblieben war. Und Sanders hängte nicht einmal mehr seinen Hut an den Haken, sondern mußte sein Überzeug aufs Sofa legen, was äußerst unbequem war, wenn Rechtsanwälte zu Besuch kamen. –

Als Sanders um zwei Uhr gehen wollte, regnete es in Strömen. Er hatte seinen Schirm vergessen und fürchtete den eisigen Blick seiner Schwester, wenn er durchweicht zu Hause ankäme. Nun befand sich zwar im Assistentenbureau ein herrenloser Schirm, der allgemein vom Personal gebraucht wurde. Aber die Assistenten duldeten nicht, daß die Vorgesetzten ihn nahmen – die waren wohlhabend genug, um ihre eigenen besitzen zu können! –, und zurzeit war er dem jüngsten Assistenten, Mortensen, vorbehalten, der jung verheiratet war und seinen Überzieher deshalb schonen mußte.

Zu allem Glück war das Assistentenbureau – ganz gegen die Instruktion – leer, und Sanders schlich sich an den großen Wandschrank am Fenster, wo Korpus delikti von Strafsachen verwahrt wurden. Er wühlte nervös in dem staubigen Haufen zwischen Messerstecherdolchen, Beilen – noch mit Blutspuren –, Schlüsseln und bekam den Schirmgriff zu fassen. Er wurde vom Personal der »Mörderschirm« genannt, weil ein Zigarrenhändler en gros ihn in einer finsteren Nacht in berauschtem Zustand seinem besten Freunde ins Auge gejagt hatte.

Sanders hielt den Schirm auf dem Rücken, als er die Schreibstube passierte. Sie hätten es leicht Herrn Mortensen wiedersagen können. Das Kind saß noch auf seinem Pultplatz, die Reinmachefrau des Bureaus war gerade dabei, den Kleinen aus einer Sahnekanne zu füttern, die auf einem rotlackierten Teebrett stand – dem, worauf Sanders immer selbst der Tee serviert wurde. Auch für Arrestanten, die ein Geständnis abgelegt hatten und daher Kaffee und Kuchen verdienten, wurde es gebraucht; nur die Referendare hatten ihre eigenen. In das Teebrett war mit einem Nagel geritzt: »Gruß vom Nachtkuckuck an den Granatenkönig. Warte zwei Jahre auf den Zwang!« – Sanders seufzte; ihm schien, daß es ihn und das kleine Kind einander näherbrachte: Sie aßen vom selben Teebrett!

Er ging in seinen Gummischuhen so lautlos wie möglich durch den Botenraum, um die Boten nicht zu stören, die wie steinerne Götzen vor einer Pagode unbeweglich auf ihren Rohrstühlen saßen. Er kannte ihr kritisches Starren, besonders an Tagen, wenn von höherer Stelle aus dem Bureau eine Nase wegen Saumseligkeit in einer Sache erteilt war.

Er eilte durch die langen Korridore des Gerichtsgebäudes. Über den fliesenbelegten Boden floß Straßenschmutz und ausgespiener Kautabaksaft. Die Filztüren der Strafkammer glitten wollig auf und zu, aus den Zellenschränken ertönte das schnelle Klopfen von den Knöcheln der Gefangenen an die Holzwand, ein Geräusch wie von pickenden Würmern. Arrestanten, je zwei im selben Handeisen, kamen in klappernden Holzschuhen durch den fliesenbelegten Gang, durch Zungenschnalzen vorwärts getrieben von dem kleinen o-beinigen Zellenwärter Carlsen.

Sanders kämpfte sich heim durch Regen und Windstöße.

Das Bild des kleinen fremden Kindes stand beständig vor seinen Gedanken. Das quälte ihn. Er vermied es am liebsten, Eindrücke aus dem finsteren Gerichtshause mit heimzunehmen. Bei jedem Schritt heimwärts war es, als schälte er sich eine Lage Schmutz vom Rücken ab. Das Kind aus der fünften Kammer wurde er jedoch nicht los. Es war aber auch ein hübsches und nicht ganz gewöhnliches kleines Kind. Seine Schwester, die Kinder ja so sehr liebte, hätte es sehen sollen! –

Die Tür zur fünften Kammer hatte gerade offen gestanden, als er vorbeikam. Er hielt den Atem an bei dem säuerlichen, faden Geruch der Diebesbeute, die wie in einem Trödlerladen mitten auf dem Fußboden des Vorzimmers aufgestapelt war: rostige Fahrräder, Kinderwagen, alte Betten und eine Lawine von Herrenstiefeln, die über ein altes Grammophon ausgeschüttet waren.

Und auf der Arrestantenbank an der Wand saß eine Frau, die, das war ihm klar, Schwester Sylvia sein mußte. Sie war klein, fein und zart, aber die gürtellose Schirtingtracht verlieh ihrem Körper Umfang und Fülle. Das Haar lag glatt um die schmalen, weißen Wangen, die Hände ruhten schlaff auf ihren Knien, der Blick war bewußtlos, die Lippen leicht getrennt. Sie glich einer kreißenden Madonna.

 

* * *


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