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Frau Strobel gewann auf dem Heimwege ihre volle Kraft wieder. Sie ging in die Küche, wo Kirsten allein auf der Kochkiste saß und Hackfleisch rührte.
»Pack' gleich Ejgils Zeug«, befahl Frau Strobel. »Nimm Vaters Reisekorb und leg' die Akten daraus in den Korridor. Nimm fünf von Theodors neuen Oberhemden, aber plätte sie erst, daß sie anständig aussehen. Es muß heute abend zu Frau Funch-Petterson gebracht werden.« Sie fügte mit Nachdruck hinzu: »Ejgil bleibt nun bei seiner Mutter.« – Kirsten packte betrübt und weinte ihre salzigen Tränen auf Ejgils Hemden.
Frau Strobel fand, daß die Sache glänzend stand, sie war eine der besten, die sie in ihrer ganzen Praxis ausgefochten hatte. Schon daß sie jahrelang Frau Funch-Petterson auf der Bühne geliebt hatte, war Instinkt! In dieser Art Spürsinn übertrifft eine Frau die Männer weit! – Zufällig kam sie vor einigen Monaten mit einem Klienten ins Gespräch, der in seiner Jugend Friseur gewesen und als solcher sowie in Bedientenrollen mit einer Truppe gereist war, zu der auch Frau Funch-Petterson, bevor sie sich verheiratete und wieder geschieden wurde, gehörte. Sie hatte damals in der Provinz als »Nitouche« Erfolge. Was sie von einem mystischen Urlaub hörte, den die Schauspielerin mitten in der Tournee nahm, war das zweite Glied der Kette. Eine alte Dame, frühere Garderobiere, eine Frau Dedering, wußte beinahe völlig Bescheid über alles und kannte dazu eine Adresse. Die Hebamme des betreffenden Distriktes war, wie gesagt, tot. Aber der alte Gulager, der früher Polizist bei der fünften Kammer gewesen war, erinnerte sich noch eines Wortes der Arrestantin über den Besuch einer blutjungen Mutter im Garten bei den verkommenen Kindern: Klein, blond und mollig, kaum achtzehn Jahre alt und sicher vom Theater. Sie brachte Puppen mit, die später ganz durchweicht und zerbissen gefunden wurden; die Hunde des Hauses hatten sie mitten im Rasen vergraben, wo man nach Kinderleichen suchte.
Hiermit waren alle Glieder der Kette geschlossen. Frau Strobel sah ein, daß es wie alle ihre Sachen kinderleicht gegangen war. Sie wünschte sich Glück. –
Frau Harriet Funch-Petterson bat Ejgil, eine Minute zu warten. Hierauf ging sie in ihr Schlafzimmer, legte sich todmüde und verstimmt auf die Daunendecke des Bettes, nahm das Telephon vom Nachtschrank und rief ihre Freundin, Frau Ulla Faber, an, die jetzt zweifellos nach Hause gekommen sein mußte.
Es sei, wie sie es sich gedacht hätte, erzählte sie verzweifelt. Die Freundin wüßte ja alles von damals – keinem anderen Menschen hätte sie sich anvertraut. Und nun ahnte sie nicht, was geschehen sollte!
Frau Fabers Stimme klang schonend, aber bestimmt. »Übereile nichts. Morgen früh sehe ich bei dir vor, dann sprechen wir in Ruhe über die Sache. Auf Wiedersehen also!«
Frau Harriet lag noch eine Viertelstunde, ehe sie sich ein bißchen gesammelt hatte. Über eines war sie sich sicher – vom ersten Augenblick an völlig sicher: der Knabe, der jetzt drinnen saß, gehörte nicht ihr – er ging sie nichts an, hatte kein Anrecht auf sie und keine Forderung an sie zu stellen! Damit war sie schnell fertig. Aber all die alte, längst verdrängte Qual war bei der Erinnerung an jene Tage erwacht und hatte ihre Kapseln gebrochen; jetzt schwang sich die trübe, entzündete Bilderreihe vor ihrem Blick: der erste wilde Rausch – ein Mann, dessen Umarmung wie Eisen und Flammen war –, fünf Tage des Wahnsinns, gegen die alles, was sie seither so bitter oder voller Süße erfahren, verblaßt und zu nichts geschwunden schien. Die rohe Brutalität des Abschieds, dann die Angst und später die Gewißheit – Verheimlichung und Schrecken – eine schmutzige Kammer und ein schmutziges Weib, das ihre letzten Pfennige auf der Kommode zählte – dann die Hölle der Nächte und eine Sekunde eines unbekannten Glücks – vorbei – und vergessen – die Tournee ging weiter, und sie befand sich mitten im Wirbel! Nur ein – nein, zwei eilige Besuche in einem Garten, wo kleine Kinder im Sonnenschein auf dem Rasen lagen. Und eines gehörte ihr, wurde gesagt: ein elendes Geschöpf mit einem Kopf wie ein Gnom, verkommen, runzlig, voller Wunden, fast sterbend. Dann nichts mehr, nur Flucht. Die Tournee ging weiter, den Schneckenkreisgang der Provinz in den kalten Wagen dritter Klasse – in Reiseställen, wo eine Bühne gezimmert war. Von dem Kinde nichts. Es existierte nicht mehr, war tot, das wußte sie, das fühlte sie. Denn hätte sie es wohl ertragen, selbst zu leben, zu reisen, herumzuwirbeln, bald als Nitouche, bald als Gretchen, wenn ihr Kind nicht tot war?
Und dennoch war es so lindernd, diese Jahre wieder zu erleben und zu wissen, daß sie jetzt vorbei waren, und daß alles seither gut und leicht gegangen war. Und das, was jetzt hinzukam, würde sich ganz sicher auch ordnen. Wenn es auch zu Beginn schwer und furchtbar und sie ganz zusammengebrochen war – sie hatte sich ausgeweint an dem Tage, als sie die seltsame Neuigkeit zum erstenmal erfuhr; es war so wehmütig gewesen, zu wissen, daß ein Kind lebte aus der Zeit, da sie jung, unbekannt und verkommen war, und dazu ein Kind, das ihr gehörte.
Aber jetzt sah sie klarer. Wenn die Geschichte, die erzählt wurde, stimmte, so bedeutete das neue Qualen, Ungelegenheiten, möglicherweise kamen Gerüchte am Theater in Umlauf. Es machte sie auch nicht jünger, daß sie die Mutter eines fast erwachsenen Sohnes war. Am besten wäre es also, wenn die ganze Geschichte Erfindung, Erdichtung oder Mißverständnis war. Und da ja früher alles gut gegangen war, bedeutete es wahrscheinlich auch diesmal nicht das allergeringste.
Auf jeden Fall war es zu unangenehm, fast unheimlich, an die Geschichte zu denken. Sie pflegte auch keine boshaften Kritiken in den Zeitungen zu lesen. So begann sie denn an angenehmere Dinge zu denken. Vorläufig mußte die Sache ruhen, bis sie mit Ulla gesprochen hatte. Sie konnte dem jungen Mann drinnen sagen, daß sie zu einer Probe müsse. Es hatte ja doch jahrelang gedauert und war daher im Grunde nicht so eilig. Sie musterte sich im Spiegel, machte ihren Ausdruck so natürlich wie möglich und puderte sich ein bißchen, um doch etwas bewegt zu erscheinen. Sie wünschte gewinnend zu wirken.
Ejgil hatte sich erhoben und stand wartend da, als sie kam. Sie lächelte still. Eigentlich war er reizend, gut gewachsen und hübsch.
»Ja«, sagte sie und beugte den Kopf leicht und nicht ohne Würde.
»Wie alles steht, wissen wir ja noch nicht. Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht. Daher müssen wir beide geduldig warten, bis alles klar ist. Ich sage daher nicht du, wir müssen uns gegenüberstehen wie zwei Fremde, die sich treffen – voneinander gefesselt werden, wohl möglich. Aber weiter nichts!«
Sie sprach so natürlich wie auf der Bühne. Jeder Satz war für sie eine Replik.
»Aber ich will Sie beim Vornamen nennen. Ejgil? Nicht wahr?«
Ihre Stimme bekam einen spröden, silberartigen Klang:
»Wir trennen uns für heute.« Sie milderte ihren Blick und ließ ihn eine Sekunde lang auf ihm weilen. »Gehen Sie durch den Garten, sehen Sie sich im Hause um.
Ich muß zur Probe ins Theater, und heute abend muß ich spielen. Drinnen stehen Bücher, suchen Sie sich eins heraus, und lesen Sie solange.«
Sie wies aufs Regal: »Was wollen Sie haben? Hier habe ich Klara Tschudi: Geschichten von den Höfen Europas – oder hier: Maria Corelli! Sie schreibt schön.«
Sie reichte ihm ihre Hand: »Auf Wiedersehen – Ejgil! Jetzt ruhe ich mich einen Augenblick aus, dann fahre ich ins Theater. Heute abend nach der Vorstellung treffen wir uns hier. Wir speisen zusammen, nicht wahr? Ich esse nie zu Mittag, bevor ich gespielt habe. Und dann sprechen wir in Ruhe und Frieden. Die Straßenbahn ist ganz in der Nähe und fährt spät – und einen Taxameter können Sie immer bekommen.«
Sie zögerte einen Augenblick mit der Hand auf der Portiere.
»Hören Sie!« sagte sie. »Daß ich nicht gleich daran gedacht habe! Sie müssen ins Theater. Sie haben mich nie gesehen? Nein? Dann müssen Sie mich kennenlernen. Warten Sie einen Augenblick, ich bitte Anna-Lise, im Theater anzurufen und Ihnen ein Freibillett zu verschaffen!« –
* * *