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Ende Juli wurde Theodor verhaftet. –

Ejgil hatte jetzt fast ein Jahr lang Akten in der Gerichtsschreiberei geschrieben. Er war von dieser Zeit gezeichnet, war ein stubenblasser, verblichener, ducknackiger Junge geworden. Er fühlte sich gebrochen. Bis jetzt hatte er sich aufrecht und gerade gehalten, trotz der Torheit der Schule und des Unverstandes des Heims – hatte genügsam und spartanisch an seiner eigenen Wärme gezehrt, da er keine Zärtlichkeit, keine Liebkosung von den fernstehenden Seelen, die ihm am nächsten waren, empfing.

Er hatte sich Wissen über das Leben durch Lesen verschafft, sein Gedächtnis mit gewichtigem Stoff gesättigt, fühlte sich gut bewandert, war sich aber klar, daß er vom wirklichen Leben bis jetzt nichts gewußt hatte. Drunten in den geheimen Kammern des Gerichtsgebäudes wurde ein Akt nach dem anderen von dem wirklichen Drama des Lebens gespielt. Oft wurde er bei Gerichtsprotokollen gebraucht und sah, wie große, starke, bärtige Männer wie gefällte Bäume stürzten, wie sie sich schlaff wie Stofflappen, wimmernd wie kleine Kinder an die Schranke klammerten, wenn die Entscheidung trocken und kalt fiel: Verhaftung! Er hatte einer Frau die Morphiumflasche aus der Hand gerissen, als sie verhaftet wurde, beschuldigt des Verbrechens gegen den Keim, den sie unter ihrem Herzen trug; – weiß, die Augen wild vor Angst, hatte sie sich auf die Schranke gestützt, und draußen wartete ihr Liebster, der nichts von der Sache wußte, sich nur wunderte, daß sie vorgeladen war: Er vor allem durfte nichts wissen von dem anderen, mit dem sie ihn verraten hatte! – Und sie leugnete, biß die Zähne zusammen, leugnete, bis das Wort gesprochen wurde: »Beschuldigte ist unter Bewachung zu stellen!« – Und die Flasche mit dem blauen Etikett wurde in einem Nu herausgerissen und an ihren Mund geführt. – Ejgil sah uralte Bettler mit Bärten wie Patriarchen, in Lumpen, die mit Bindfaden zusammengehalten wurden, delirisch zitternd vor der Schranke stehen. – Bettler, Säufer, in einem Hinterhauskeller gefunden, obdachlos auf einem Kohlensack schnarchend.

Das war das Leben, das er jetzt musterte, tausend Einheiten jedes Jahr, jede mit ihrem trüben, grauen oder blutroten Schicksal.

Dieses lebende Buch blätterte vor seinen müden, erschlafften Augen Seite auf Seite um. Jetzt hatte er keine Zeit mehr für ein Buch anderer Art – für Spinoza, Pascal oder Kant. Was hatten die vom Lande der Lebenden gewußt? Jetzt tönte nur das Telephon aus der Kammer, und Kirsten kam im Nachthemd heruntergesaust, wo er saß und las. »Ejgil, du mußt sofort aufs Gericht!« –

Es war Nachtverhör. Fünfzehn Foliobogen mußten bis zum nächsten Morgen um neun Uhr ins reine geschrieben sein! So mußte er denn keuchend durch die engen Gassen, wo nur jede zweite Laterne brannte in Schneeschlamm und Wind, zur Hintertür des Gerichtsgebäudes, über die gewundene Treppe, wo eine einzige Gasflamme bleich in der großen Wagenlaterne brannte, durch die langen fliesenbedeckten Korridore, wo der Stiefelschmutz und der Speichelauswurf des Tages schleimig unter seinem Fuße fortglitten, an dem Wächter vorbei, der mit der Laterne vor dem Bauche von seiner Schlafbank auffuhr und sein welkes Gesicht dicht vor das seine steckte, um ihn in Augenschein zu nehmen.

In seinen wenigen Pausen fühlte er die Reibflächen in seinem Gemüt langsam Boden gewinnen. Er spürte, wie seine Brust von der Tischkante flachgedrückt wurde, die Sehnen in seiner Hand waren nur Treibriemen für eine Feder, die die stummen, unendlichen Kurven von Buchstaben aufs Papier zeichnete.

Sein Knabenstolz war geknickt, das fühlte er; die selbstsüchtige Ruhe, die ihn frei durch die Schule geführt hatte, war vorbei. – »Ich bin fadenscheinig geworden,« dachte er lächelnd, »wie mein Zeug an Ellbogen und Knien.

Aber was will ich denn mit meinem Leben?« Er hatte selbst dem Onkel eines Tages die Antwort gegeben: Nichts! Das war das Eselartige in seiner Natur, das hatten seine Lehrer ihm oft genug erzählt: Hinten auszuschlagen gegen die Stränge des Wagens, jede Disziplin zu scheuen. Sich nur herumzutreiben und zu träumen. Natur und Menschen zu betrachten und zu versuchen, ihre Wege zu verstehen. Das waren nur unfruchtbare Betrachtungen, verachtet von Praktikern des Lebens, verdammt von jedem positivistischen Propheten! – Einzig erlaubt von Rousseau und Tolstoi – von denen er übrigens selbst energisch Abstand nahm. Er verdiente nichts Besseres – fand er – als das Los des Esels: Gebiß, Geschirr und eine schwerbeladene Karre! Welches Anrecht hatte er darauf, Apollos Flötenspiel zu lauschen, er mit seinen Eselsohren, er, dessen Herkunft in unergründlicher Finsternis verborgen lag: wie konnte er behaupten, daß seine Seele einmal von dem ewigen Geist in der Höhe erdacht worden wäre?

Nein: das Geschirr um die Schultern, die Karre hinter seinen Hacken, Gebiß, Scheuklappen, Peitsche, das war sein Los, das war das Schicksal eines jeden, der nicht souverän ausbrach!

Daran dachte er oft: fortzulaufen. Die armen Sünder, die er täglich von dem alten Zellenwärter Carlsen zur Kammer führen sah, die versuchten hin und wieder fortzulaufen. Eine Drehung am Handeisen, ein Tritt mit dem Pantoffel nach Carlsen, und dann liefen sie! – Aber selten entkamen sie. Und welcher Ausweg blieb ihm selber? Seinen Wochenlohn, zu achtzig Öre den Bogen berechnet, mußte er der Tante abliefern, die ihm jeden Montag eine Krone für Kindermilch, Bonbons oder was er sonst brauchte – ganz nach eigener Wahl – gab.

Ihm gegenüber saß der alte Schreiber Kullemann, der Holländer genannt, eine kleine, graue und bekümmerte Kirchenratte, über dessen große Glatze einige wenige Haarzotteln wirr verstreut waren. Er war verheiratet, das wußte Ejgil; aber ein Zimmerherr besaß die beste Kammer des Hauses. Er selbst schlief auf einem Puff im Eßzimmer, und die Frau bekam ein Kind nach dem andern, obwohl Kullemann ein alter Mann war. Und neulich hatte sich der Zimmerherr mit der ältesten Tochter verheiratet, die gleich Zwillinge bekam: – alle wohnten bei Kullemann, der sie ernähren mußte, der elende alte Esel, der er war.

Ejgil mußte an Kirsten denken. Sie war der einzige Mensch in der Welt, der ihn gern hatte. Ihr armseliger, kleiner Körper lehnte sich tröstend an ihn, wenn sie ihn in ihrer Küche empfing – sie war im Grunde nur eine neue Last zu den anderen, aber er mußte gut gegen Kirsten sein! Sollte sie vielleicht sein Schicksal werden, wenn er einmal in zwanzig Jahren als trüber, grauer Bureausklave an demselben Pult wie jetzt saß – und die Geldleiher mit der Verschreibung seiner blutigen Schuldzinsen kamen und seine Gage mit mahnendem Knöchel gegen die Tür des Abteilungschefs einkassierten? Und zu Hause stand Kirsten an ihrem Herd. Ihr Haar roch nach Bratenqualm wie jetzt. –

Schreiber Kullemann hob die Augen über die Brille von einer Akte, die er schrieb:

»Strobel – heißt Ihre Familie nicht Strobel? Hier ist ein Arrestant Theodor Strobel – heute verhaftet.«

Ejgil griff nach der Akte. Theodor war verhaftet wegen Fälschung und Diebstahl. Er hatte Herrn Faviers Namen auf Schecks von über 20 000 Kronen nachgeschrieben. Er saß in der fünften Kammer.

Ejgil sah ihn, denn Richter Buchmann wollte mit dem Vetter des Arrestanten reden.

Wie ein Berg ragte Buchmann in dem mächtigen Thronsessel empor, den er sich für seinen Korpus hatte bauen lassen. Die Glatze leuchtete, die Brille blitzte. Vor ihm hing schlotternd an der Schranke Theodor in neu aufgebügeltem Jachtklubdreß und mit einer welken Nelke im Knopfloch. Herr Favier saß mit dem Rücken gegen die Zeugen da und drehte sich nicht um, als Ejgil kam.

Herr Buchmann erhob sich und stand wie ein Dom vor Theodor. Seine Stimme kam wie ein Bergrutsch: »Jetzt heraus mit der Wahrheit, Strobel!«

Ejgil hörte Theodor schnaufend gestehen. Alle gestanden vor Herrn Buchmann; er gewann sie durch seine Gewaltigkeit und seinen Humor, vor ihm wollten sie gestehen, bei ihm war es nur eine Ehre.

»Dein Vetter ist ein netter Bengel«, sagte Buchmann zu Ejgil. »Geh' nach Hause und erzähl' seiner Mutter, daß der Schlingel Schande über ihr graues Haar gebracht hat!«

Neben Ejgil stand ein kleines Fräulein mit hellgelben Locken, seidenem, hinten sehr strammen Kostüm, hohen Lackabsätzen und kaum sechzehn Jahre alt. Sie schnaufte deutlich, und eine trübe kleine Hand mit teuren Diamantringen griff nach Theodors langen Fingern. Es war seine Braut, wie Ejgil verstand.

Als Ejgil seinen Bescheid überbrachte, schlug Theodors Mutter die Hände zusammen:

»Das ist nicht möglich!«

Sie mußte sich auf den Klavierstuhl setzen. »Da sieht man!« Dann schnaubte sie vor Wut und ging zu Herrn Buchmann, um ein Wörtchen mit ihm zu reden. Aber sie kam kleinlaut nach Hause und wollte nicht erzählen, was Herr Buchmann gesagt hatte. »Er verhörte mich,« ließ sie jedoch verstehen, »und das, obwohl ich nicht vorgeladen war. Aber jetzt habe ich Theodorchens Schicksal in Herrn Buchmanns Hand gelegt. Er ist gerecht, wenn auch streng; und unschuldig wie der Junge ist, wird er Theodor nicht verurteilen, wenn er irgendwie Gnade vor Recht ergehen lassen kann. Aber jetzt gehe ich zu Herrn Favier!« Sie sprang auf. »Komm, Ejgil, du sollst deiner Tante beistehen und für deinen Vetter bitten!« –

Herr Favier empfing sie in seinem Heim. Er saß hinter einem ungeheuren Barockschreibtisch. Alte, dunkle Gemälde hingen um ihn her, in Vitrinen lagen glänzende Pretiosen, Riechfläschchen und Schnupftabakdosen; schwerer Brokat hing vor den Türen, und ein balsamischer Duft lag über dem Raum wie in einem tropischen Garten. Ejgil sah plötzlich in die heiße, abenteuerliche Welt hinein, die, wie Herr Favier gesagt hatte, jedem offen stand, der sich Reichtum erhandeln wollte, und zu der, wie Ejgil wußte, der Schlüssel in einem zerknüllten Brief lag, der durch das Loch in seiner Tasche ins Jackenfutter gefallen war.

Herrn Faviers Gesicht war maskenhaft verschlossen. Er lauschte schweigend auf Frau Strobels weitläufiges Plaidoyer: »Und nun, Herr Favier, zertreten Sie nicht das Herz einer Mutter! Geben Sie mir meinen Sohn zurück!«

»Nein«, sagte Herr Favier. Kein Muskel verzog sich in seinem Gesicht. Er sagte seine Motive nicht, sagte nur dieses eine: Nein; wiederholte es nur, fast rhythmisch, als Frau Strobel mit Drohungen und Bitten abwechselte.

»Nein!«

Er saß da und ließ ein kleines Papiermesser wippen, das wie ein Dolch geschliffen war. Seine Brauen lagen ganz niedrig und zeigten die Stirn hoch, weiß und rein. Und Ejgil ahnte, daß Herr Favier seine unbarmherzige Stärke aus irgendeinem Sieg holte, den er über sich selbst gewonnen hatte, eine mitleidslose Kraft der Gerechtigkeit, zu schlagen – zur Vergeltung, weil er in seinem eigenen Gemüt unbarmherzig Wünsche zerbrochen und eingekapselt hatte, die, wie er wußte, für andere vom Übel gewesen wären.

 

* * *


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