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In der nächsten Unterrichtsstunde wiederholte Herr Haagensen zum Vergnügen der ganzen Klasse seine Fabel von König Midas und Ejgils Eselsohren. Und die Knaben fanden alle, daß Ejgils Ohren aussahen, als wären sie eben ausgewachsen, genau wie Knospen an einer Tulpenzwiebel, wenn sie keimt. Sie fanden alle, daß er bis jetzt keine Ohren gehabt hätte.

In der Pause sammelten sie sich um ihn, jedoch in gutem Abstand, und riefen:

»Der Engel mit den Eselsohren! Der Engel mit den Eselsohren!«

Auch die Lehrer fanden, daß das Eselartige in der Natur des kleinen Sanders jetzt mehr hervortrat als früher. Er erlaubte sich Dinge, die man bei einem Knaben nicht dulden konnte.

Der Geographielehrer hieß Herr Medinger, mußte aber Herr Doktor genannt werden. Er war ein majestätischer Mann mit großem Bart und einem Zeigestock, der wie ein Trommelschlegel den Takt auf der Karte schlug. Wie der Primus von seinem Vater, einem Professor, wußte, sollte Herr Medinger im ganzen Ausland wegen seiner Geographie berühmt sein.

Herr Medinger erklärte den Schülern den Lauf der Erde und der anderen Planeten um die Sonne. »Sie bewegen sich in Ellipsen«, sagte er und zeichnete ein Oval auf die Tafel.

Ejgil hörte genau zu. Es fiel ihm auf, daß es doch nur vom Zentrum des Sonnensystems aus gesehen ein Oval wurde; sah man es von draußen im Himmelsgewölbe zum Beispiel von einem Fixstern, so wurde es eine ganz andere Figur, da sich das ganze Sonnensystem, wie Herr Medinger selbst sagte, ja auch verrückte. Herr Medinger sprach ganz unsagbar bestimmt, und von seinem Standpunkt – mitten in der Sonne – aus, hatte er natürlich recht. Aber die Fixsterne hatten ebensogut recht. Beide Teile waren also gleich richtig.

Herr Medinger rief Ejgil an die Tafel:

»Willst du mir nun erzählen, Sanders, warum die Planeten im Kreis um die Sonne laufen?«

Ejgil wußte, daß er antworten sollte: »Die Anziehung der Sonne hält die Planeten in ihrer Bahn um dieselbe (nämlich die Sonne).« Er kannte die Sätze des Buches auswendig. Aber er glaubte nicht sehr an das Buch, das Herr Medinger ja geschrieben hatte.

Herr Medinger pflegte zu sagen, die Weltkörper liefen wie ein kleiner Hund, den man stramm an der Leine hält und um sich herumlaufen läßt. Der kleine Wauwau möchte am liebsten geradeaus, aber die Leine zieht den kleinen Wauwau, so daß er immer herum und herum und herum muß.

Alle Knaben wußten, daß Herr Medinger einen kleinen Terrier hatte, der Wauwau hieß. Der begleitete ihn zur Schule und lief dann selbst nach Hause.

Ejgil dachte daran, daß die Geschichte von der Sonne, die die Planeten anzöge, gar nichts sagte. Herr Medinger hatte nun mal seinen Wauwau, den er sehr liebte, und wenn er den Lauf der Planeten verstehen wollte, so dachte er sich selbst als Sonne, und die Erde, das war Wauwauchen, den er an der Leine hielt und der der klügste Hund von der Welt war. Solche Schlüsse machten die Erwachsenen immer, wenn sie eine Sache verstehen wollten: von einem Standpunkt, den sie selbst gewohnt waren und liebten – selbst wenn es galt, Gott oder die Sterne des Himmels zu verstehen. Die, welche am besten in der Dunkelheit schimmerten, waren die feinsten von allen Sternen.

»Nun, du weißt es also nicht?« sagte Doktor Medinger sehr streng.

Ejgil wurde gereizt. »Es sind eine ganze Menge Erklärungen denkbar«, sagte er und sah auf seine Knöpfschuhe hinab.

»Sieh mal an!« Herr Medinger strich sich seinen langen Seidenbart und betrachtete seinen Schüler ironisch. »Hast du vielleicht deine eigene Erklärung, Sanders? Behalte sie nicht für dich, o hochgelahrter Herr! Warum laufen die Planeten denn herum?«

»Weil der Weltraum selbst krumm ist!« sagte Ejgil leise, aber nicht ohne Trotz.

Herr Medinger mußte sich zurücklehnen. »Haltet mich fest,« stöhnte er, »ich sterbe! Sanders hat ein neues Prinzip für die Ordnung des Universums entdeckt. Mein ganzes Leben ist vergeudet, all mein Tun war vergebens. Ich habe in einer kosmogonischen Finsternis des Mittelalters geschwebt. Erkläre mir denn, o großer Professor: Was meinst du damit, daß der Weltraum krumm ist?«

»Das ist eine Eigenschaft des Raumes«, sagte Ejgil ärgerlich. Er dachte, das wäre doch eine Erklärung dafür, daß alles im Raum rund war oder im Kreise lief. Wie es eine Eigenschaft des Herrn Medinger war, daß er einen häßlichen, langen Bart trug, und die eines Affen, daß er unter anderem einen Schwanz hatte.

»Wenn dem so wäre,« Herr Medinger sah Ejgil drohend an, »müßte alles, was durch den Raum geht, krumme Bahnen haben! Wie? Sonnenstrahlen zum Beispiel. Antworte mir hierauf!« Er blickte triumphierend über die Klasse hin, die zu kichern begonnen hatte.

»Ja«, sagte Ejgil. »Wenn der Weltraum krumm ist, müssen auch die Strahlen der Sonne krumm sein.«

Herr Medinger schlug sich auf die Schenkel: »Bravo! Da hört ihr, würdige Mitgeschöpfe! Herr Professor Sanders hat eine neue Art gefunden, um die Ecke zu sehen. Er sieht im Bogen! Er kann einen Stern sehen, selbst wenn er hinter einem anderen steht! Heil dir, du größter Entdecker unserer Zeit!«

Aber nun wurde er auf einmal böse. Ihm fiel ein, daß Ejgil wohl eher witzig sein wollte – sich über die ganze Wissenschaft lustig machte! Kopernikus und Newton waren für Herrn Medinger Evangelisten, er zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß Euklids plane Geometrie auch für das ferne Universum gälte. Diese drei Großen zu verhöhnen, war für ihn ein Sakrileg ohnegleichen!

Er packte Ejgil am Ohr: »Du kleiner Esel! Also du willst die Wissenschaft unserer Zeit verbessern! Ich will dich lehren, warum die Planeten im Kreise wandern. Weil der Weltraum krumm ist, sagst du! Sie laufen wie die Straßenbahnwagen in einer Kurve! Wie? Ja, ich will dich krümmen, du kleiner Schlingel!«

Er ließ Ejgil zwei Stunden nachsitzen wegen Störung in der Klasse. Ejgil fand sich ruhig darein, war deswegen aber nicht überzeugt, daß Herrn Medingers Weltbild richtiger war als das seine.

Aber er beschloß, sich von jetzt an an die Erklärung der Schulbücher zu halten. Sich weiter vorzuwagen, war noch zu riskant, und die Lehrer glaubten offenbar selbst jedes Wort darin, das war nun einmal ihre Eigenschaft.

Veronika pflegte den Knaben mit in Willibald Olsens Atelier hinaufzunehmen, wenn sie ihren Malunterricht hatte. Das fand sie am passendsten, wie sie zu ihrem Bruder sagte.

Sie hatte schon als junges Mädchen zusammen mit der Komtesse Altenberg, Lillemor Holten und ein paar anderen aus ihrem Kreise die Blumenmalerei auf Porzellan oder mit dem Brandstift auf Samt, die damals modern war, gepflegt. Jetzt sah sie, wie leicht es war, eine wirkliche Künstlerin zu werden, wenn man nur Farbensinn besaß – und hatte sie nicht mehrere Jahre lang selbst ihre Hüte geputzt? Daß sie nicht zeichnen konnte, hatte nicht das geringste auf sich, Willibald Olsen schalt nie, verbesserte nur wenig. »Machen Sie nur weiter! Drücken Sie aus, was Sie fühlen«, sagte er und blickte sie ermutigend an.

Veronika sah bald ein, daß das Ganze nicht so schwer war. Etwas von alledem, was sie fühlte, brachte sie doch zum Ausdruck, wenn auch vieles verborgen und still zurückblieb. Aber zuversichtlich war sie.

»Zeichnen, was man sieht oder im Gedächtnis hat, das kann jedes Kind«, sagte Willibald Olsen. »Sehen Sie nur!«

Er nahm einen Bogen Papier, den Veronika Ejgil überlassen hatte, damit er beschäftigt war. Auf den hatte der Knabe zwei Pferde im Galopp und ein drittes, das mit seinem Reiter gestürzt war, gezeichnet. Man sah den Bauch des Tieres und die Unterseite der schlagenden Hufe, auch der Reiter, dessen einer Fuß noch im Steigbügel stak, war in starker Verkürzung gezeigt.

»Das sehen Sie selbst, Fräulein Veronika«, Willibald Olsen nahm die Shagpfeife aus dem Munde. »Selbst ein Knabe kann schildern, was er gesehen hat. Deshalb wird es doch keine Kunst – bestenfalls nur eine Rekonstruktion der Dinge aus der Umgebung.«

»Ich selbst«, fügte er hinzu, »kann gar kein Pferd aus dem Kopfe zeichnen. Und das zeigt am besten, wie wenig es bedeutet, daß Ejgil es kann!«

»Kunst«, fuhr Willibald Olsen fort, »ist der Ausdruck des Gefühls für Farbe und Linie. Die Farbe – sie ist Rhythmus und Ton! Die Farbe – sie ist wie ein Rausch!«

In dem dünngeschlissenen Hemd spannten sich seine Rückenmuskeln. Er hatte schwere Hanteln in einer Ecke liegen, und nachmittags fuhr er auf seinem Rade nach dem Bootshafen, wo einer seiner Freunde, auch ein Maler, ein Segelboot hatte. Oft blieben sie tagelang draußen auf See.

Ejgil wurde bald klar, daß Willibald Olsen klüger war als irgendein Mann, den er bisher getroffen, und ein ganz Teil mehr wußte als sämtliche Lehrer der Schule. Man hatte mit ihm zu rechnen.

Mehreres, was Willibald Olsen betraf, verstand Ejgil nicht. Herr Olsen redete immer davon, daß er arbeitete. »Jetzt muß ich an die Arbeit«, pflegte er zu sagen – oder: »Ich muß hinauf und schuften.« Ejgil konnte nicht begreifen, was er meinte, denn das Malen konnte er doch nicht Arbeiten, geschweige denn Schuften nennen.

Für Ejgil bedeutete Arbeit nur Unannehmlichkeiten; Arbeit war nur, wenn man etwas tun mußte, was man ungern wollte, also auf Kommando und zu einer Zeit, die einem selbst nicht paßte. Aber Willibald Olsen hatte keinen Lehrer, der mit ihm herumkommandierte, und das Malen machte ihm sicher nur großes Vergnügen. Wenn er vor der Staffelei stand, funkelten seine Augen, der Pinsel sprang vor und traf wie ein Pfeil sein Ziel, und es war wunderbar zu sehen, wie der kleine, grüne Farbfleck, der jetzt entstand, das Feld dahinter, das zuvor bleigrau und tot gewesen, geradezu zum Glühen bringen konnte.

Aber war das Arbeiten? Zwar verstand er, daß Willibald Olsen früher davon gelebt hatte, Leute in Särgen fortzutragen und andere langweilige Dinge zu tun. Und das war doch immerhin Arbeiten gewesen, meinte Ejgil. Damit hatte Willibald Olsen nun aufgehört, dessen war er müde geworden, begreiflich genug. Ob Herr Olsen nur, um keine Särge mehr machen und mit Leichenwagen fahren zu müssen, auf das Malen verfallen war? Damals hatte er sich zehn Stunden täglich schinden müssen, und jetzt malte er ein Bild in einer oder zwei Stunden und sagte, er würde es nicht unter vierhundert Kronen verkaufen. Willibald Olsen mußte sehr gerissen sein! –

Ejgil versuchte heimlich, nicht nur zu zeichnen, sondern auch Farben zusammenzusetzen. Beides fiel ihm leicht. Aber er hütete sich, sein Werk Willibald Olsen zu zeigen, obwohl er die Farben aus seinen Tuben stahl und sie auf einem Zigarrenkistendeckel auspreßte, ohne daß Herr Olsen es sah. Herr Olsen verschwendete ja doch seine Farben in dicken Klecksen, während Ejgil die seinen mit Petroleum verdünnte, um zu sparen. Er malte auf Packpapier die Aussicht von Tantes neuer Rumpelkammer über den Schwarzdammsee: an einem Tauwettertage mit grünen Waken in dem grauen Eis und weißen Möwen. Weniger als je verstand er, daß man das arbeiten nennen sollte. Es war doch nur angenehm, Bilder zu malen! Weltgeschichte voll von aufgelegten Lügen auswendig zu lernen, das war arbeiten!

Aber am allerwenigsten konnte er verstehen, daß die Tante böse wurde, als er einmal sagte, er wolle Maler werden.

Sie warf den Kopf zurück: »Maler? Du? Nein, du sollst studieren, Jurist werden und mit der Zeit einmal ein Amt bekommen wie dein Onkel. Maler! Das ist ein elender Beruf und nur zum Schaden für deine Zukunft!«

Ejgil sah jedoch ein, daß ihm die Tante nicht ihre wahre Meinung über die Malerkunst sagte, denn zu Herrn Olsen sprach sie ganz anders. Dafür hatte sie wohl ihre Gründe!

Veronika sah sich selbst als eine Art Vorsehung für Willibald an. Die kaum neuneinhalb Jahre, die sie älter war als ihr Schützling, nahmen ihrer Freundschaft für ihn alles Anstößige. Sie fand, daß sie ihn so vieles lehren konnte, was er in seiner armen, bedrängten Jugendzeit zu lernen versäumt hatte – nicht zuletzt Manieren. Trotz seiner männlichen Kraft und seines nicht unglücklichen Äußeren konnte er oft, wenn er eifrig wurde, einen proletarierhaften Zug erhalten, ja geradezu plebejisch wirken. Seine Armbewegungen holten weit aus, als ob er Bretter hobelte, oder er konnte mit einer salbungsvollen Miene lauschen wie ein Leichenträger beim letzten Choralvers, bevor er den Sarg hinunterläßt.

Aber sie war ganz begeistert, wenn er von all dem erzählte, was er erreichen wollte: reisen, die Museen der großen Städte sehen, im Pariser Salon ausstellen und die Medaille erhalten, das große Stipendium der Akademie bekommen, seine Bilder zu hohen Preisen verkaufen und ein großes Werk schaffen, das er bereits als Freskomalerei für die neue Volksturnhalle skizziert hatte. Selbst der Klang seiner Stimme hatte Macht; wenn sie ihn reizte und ihm widersprach, spürte sie sie wie harte Muskeln, die sich ihr entgegenspannten.

Eines Tages traf sie auf der Treppe ein rothaariges Mädchen. Sie hatte eben gehört, wie die Tür ihres Lehrers geschlossen wurde. Die Augen des jungen Mädchens begegneten ihr eine Sekunde lang scharf. Veronika wurde etwas verlegen. Das Mädchen gehörte einer anderen Klasse an als sie, und dann wechselte man keine Blicke! Sie ging unruhig ins Atelier.

Willibald Olsen stand in dem kleinen Seitenraum; sie hörte, wie er drinnen seine Palette mit dem Spachtel reinigte. Die Staffelei war leer, aber eine größere Leinwand stand mit der Bildseite gegen die Wand gelehnt. Veronika drehte sie ohne Bedenken um. Das Bild stellte das junge Mädchen dar, und es war nackt.

Veronika ließ die Leinwand los und setzte sich an ihre Staffelei. Sie spürte ein Prickeln in der Haut, ein Saugen ums Herz. Und was war denn natürlicher, als daß ein Maler ein unbekleidetes Modell hatte – wenn das Mädchen nur Berufsmodell war!

Kurze Zeit darauf stellte Willibald Olsen gemeinsam mit acht Kameraden in einem Zelt aus, das sie auf einem Bauplatz hatten aufschlagen lassen. »Die Neun«, nannten die Blätter sie und ein Mittagsblatt sogar »Die neun Musen«, ein anderes »Die neun Kegel«.

Veronika ging zur Eröffnung und sah zum erstenmal eine Welt, die, wie ihr klar wurde, der neuen Kunst gehörte: junge Männer mit runden Hüten und kurzen Backenbärten und ihre Liebsten mit Cleo-de-Mérode-Frisuren und großen Unterklassenfüßen. Willibald Olsens Modell war auf einem Ehrenplatz ausgestellt. Es hatte große Schlüsselbeine und flache Hüftpfannen. Veronika dachte nicht ohne Stolz daran, wie sie selbst im Tableau die Venus von Milo dargestellt hatte. In ihrem Nähkorb barg sie noch einen Ausschnitt aus einem fashionablen Blatt, das sie bildschön nannte.

Dennoch lag ihre Schönheit in ihren Farben. Das hatte Willibald ihr eines Tages erklärt: »Ihre Haut spielt auf amüsante Weise von Elfenbeinweiß über Bleigrau in Rosa hinüber. Sie sagen, Ihr Haar sei einmal weißblond gewesen. Dann hat es mit den Jahren Blut getrunken, jedes Löckchen ist wie ein Spitzglas voll Sherry, nur hat die ganze Masse noch einen eigentümlichen, verschleierten Schimmer, ungefähr wie Altweibersommer über einem Kleefeld. Sollte ich Sie malen, so müßte es auf oxydiertem Stahl sein, der durch Weiß und Rosa hindurchleuchtete, und in Ihren Augen ließe ich den Stahl blauschwarz stehen!«

Willibald Olsen verkaufte fast nichts auf seiner Ausstellung, aber Veronika ging zu ihren wenigen Bekannten aus den reichen Kreisen, bei denen man sie noch in der Erinnerung hatte, und verkaufte ein Bild für Willibald, so daß er reisen konnte. Auch der Bruder wurde überredet und nahm ein Bild, noch dazu das teuerste, dafür aber auch das größte. –

Fast zwei Jahre blieb Willibald im Süden, und in der ganzen Zeit war der Knabe Veronikas einzige Gesellschaft.

Sie nannte ihn Willibald, so war er ja rechtmäßig getauft, er blieb für sie Willi, Klein-Willi, im Gegensatz zu dem großen Willi, der jetzt auf Reisen war: »Im warmen Süden«, sagte sie.

Ejgil widersprach ihr nicht, obwohl die Tante gerade aus einem Brief von Willibald vorgelesen hatte, daß in Rom, wo er sich befand, Schneewetter herrschte. Trotzdem sagte die Tante »der warme Süden«. Und er selbst spürte stets Wärme, wenn der Süden nur erwähnt wurde, und auch Willibald Olsens Name gab ihm eine gewisse Wärme. Auf jeden Fall wurde die Stimme der Tante wärmer, wurden ihre Liebkosungen zärtlicher, wenn Ejgil ihren Arm um seinen Hals fühlte, während sie aus einem von Herrn Olsens Briefen vorlas.

»Setz' dich zu mir, Willichen, dann will ich dir vorlesen, was der große Willi uns aus Firenze schreibt. Firenze ist, wie du wohl weißt, dasselbe wie Florenz.«

»Ich habe täglich eine Stunde vor Tizians Flora verweilt«, schrieb der Maler. »Sie trägt Ihre Farben, Veronika, sie hält in ihren Armen eine Garbe von Blumen, die ihrem Busen entsprossen scheinen, sie ist selbst ein Garten, sie steht in voller Blüte. Sie ist selbst diese Stadt, wo ich wohne, das blühende Firenze. Wenn ich hier einsam bin, gehe ich zu Tizian und atme Floras Morgen ein!«

Veronika suchte das Bild in dem Kunstbuch über Tizian heraus, zeigte es aber Ejgil nicht, denn die eine Brust Floras war fast ganz entblößt. Aber sie verstand: Wenn so große Künstler wie Tizian furchtlos die Nacktheit des Weibes zeigen durften, so war es, weil die Schönheit nicht nur die Macht, sondern auch das Recht hatte, sich hüllenlos zu zeigen. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie in einer engen und prüden Welt gelebt und daß ihre Eltern, Freundinnen und Kavaliere der Ballsaison, ja selbst der Bruder nichts von der wahren, großen, schönen, offenen und freien Welt gewußt oder sie absichtlich in Unwissenheit darüber gehalten hatten.

Sie begann in Kleidern zu gehen, die in einem Stück aus Seide oder Samt genäht waren wie ein Chiton, der sich weich um ihren Leib schmiegte, dessen üppige Rundung um Hüften und Busen sie jetzt zu interessieren begonnen hatte. Sie hängte Filigranschmuck über die Brust, ging mit ausgeschnittenen Schuhen und weißen Strümpfen und nähte sich breite, pittoreske Hüte. Und sie nahm Ejgil zu Kunstvorträgen mit.

Wieviel der Knabe eigentlich begriff, war ihr nicht klar und beschäftigte sie auch nicht. Ejgil, der aus Onkels Knackfuß-Ausgabe das meiste Material kannte, ließ die Tante geduldig reden und erklären.

Veronika konnte ihn zuweilen dicht an sich ziehen. An jeder seiner Wangen fühlte er den zarten, weichen Druck ihrer Brust, die, wie er zu seiner Verwunderung merkte, in zwei Erhebungen geteilt war. Wie das leise Wiegen eines fernen Gongs konnte er ihr Herz hören. Ihre Arme konnten sich fest um seinen Hals schmiegen, ihr Mund lag heiß und feucht dicht an seiner Stirn.

»Klein-Willi!« konnte sie dann flüstern, und für Ejgil waren diese Liebkosungen neu, nie zuvor hatte eine Frau ihn in die Arme geschlossen, und jetzt konnte er einen so wunderbar seligen Schmerz fühlen, eine Entbehrung, die ein seltsames Glück in sich barg, einen Kummer, der nur Linderung fand, wenn er sich immer tiefer in der weichen Umarmung mit dem Veilchenduft bergen konnte, die sich jetzt um ihn schloß.

Sie saßen oft zusammen auf dem Balkon, namentlich im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen der Dossering fielen und der Fußsteig von Goldschuppen leuchtete.

»Jetzt ist Willi in den Bergen,« sagte sie, »oben in Rocca del Papa, dem alten Felsenschloß der Päpste. Und jetzt geht er in die Vignen und sieht, wie die Bauern die großen blauen Trauben pressen. Und heraus fließt der Saft, Ejgil, der wird zu Wein, weißt du, und so preßt auch er die Farben aus seinem Gemüt, die glühende Ernte ganz Italiens: Trauben, Orangen und Limonen.«

Sie lauschte zu dem abendgrauen Himmel empor. »In diesen Nächten reisen die Zugvögel,« sagte sie, »sie reisen südwärts, Ejgil, nach Italien, nach Rocca del Papa und zum großen Willi. Ich lag heute nacht wach und konnte sie fliegen hören! Ach, wenn wir beide mitfliegen könnten, Willichen!«

Sie preßte den Kopf des Knaben gegen ihre Brust, sie spürte seine Wangen wie im Fieber brennen, seine Atemzüge gingen schneller, als wenn er schlief. Jetzt brannten auch seine Hände.

Unruhig entfernte sie sich von ihm. Und auch sie kannte keine Linderung. Sie hatte das Gefühl, als spannte sich ihre Brust in qualvoller Entbehrung, als hungerte ihr Blut danach, zu geben und zu nähren, als wartete ihr Herz auf einen anderen Herzschlag gegen den ihren – auf etwas, das ihr eigen, ein Teil von ihr selbst, ihr von einer Kraft geschenkt war, die zu ihr kam von dem, den sie liebte, und der an ihrer Brust liegen und dort in Schlummer gewiegt werden sollte. –

Ejgil kam eines Tages verstimmt und müde aus der Schule.

Das Mädchen schloß auf, aber im Vorraum stand der Onkel, am ganzen Leibe zitternd.

»Ach, du bist es nur? – Ich glaubte –!« Er ließ den Knaben voran in die Stube gehen, demütig, als wäre Ejgil ein Vorgesetzter; er trippelte umher, sah bald zum Fenster, bald zur Tür hinaus; mit einem Ruck fuhr er zusammen: »Hat es nicht geklingelt?«

Er sank schlaff auf seinen Stuhl.

»Deine Tante muß verreisen!« Die Stimme war gebrochen. »Heute abend«, fügte er hinzu. »Sie ist jetzt ins Reisebureau gegangen.«

Er saß da und schüttelte den Kopf.

»Wir haben ein Telegramm bekommen«, erklärte er und senkte die Stimme betrübt. »Willibald Olsen ist sehr krank.«

»Typhus,« fuhr er fort, »bösartig.« Er lauschte wieder nach der Tür.

Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, indem er versuchte, ruhig auszusehen.

»Es ist ja nur selbstverständlich, daß Tante reist.«

Veronika kam heim, sie trat in die Stube, groß, rauschend und hektisch, behielt den Hut mit den wehenden Federn auf dem Haar, warf die langen Handschuhe auf den Eßtisch neben die Terrine, wo die Blaubeerensuppe stand und kalt wurde.

»Ich fahre über den St. Gotthardt«, sagte sie abgerissen. »Über den Brenner hätte ich in Innsbruck übernachten müssen.« Sie nahm ein Couponheft aus dem Muff: »Berlin, Basel, Luzern.«

Sie setzte sich auf einen Korbsessel und starrte vor sich hin. »Mailand – Verona – Venedig ... Hotel Terminus, sagten sie im Bureau, soll komfortabel sein und mäßige Preise haben.«

Plötzlich begann sie zu schluchzen, ohne daß sich eine Miene um ihren Mund verzog.

Sie öffnete ein Sparkassenbuch, ein dickes Bündel ausländischer Geldscheine fiel heraus.

»Ich hab' das Ganze erhoben«, sagte sie. Der Hals des Onkels zuckte, als verschluckte er etwas.

»Ja, natürlich, Veronika. Aber ist das nun auch genug?«

Sie nickte. »Zur Reise für mich selbst. Aber ich weiß ja nicht –! Wir können hier ja nicht wissen – was er vielleicht braucht –!

Ich habe eine Obligation verkauft – eine von denen mit den roten Buchstaben oben.«

Der Bruder sah bekümmert aus: »Sie stehen nur 90,25. Du hättest eine von den blauen nehmen sollen. – – – Nun, aber«, tröstete er, »wenn es ein Menschenleben gilt – so –!«

Sie sah vor sich hin: »Italien!« flüsterte sie. »Italien sehen – –! Aber wenn er dann –!« Sie preßte die Hände zusammen.

»Selbstverständlich mußt du die schnellste Strecke nehmen, Veronika." Sanders nahm den Deckel von der Terrine. "Aber versuche nun, ein wenig zu dir zu nehmen, du wirst sehen, das wird dir helfen!«

Veronika packte. Verstaubte Koffer aus der Zeit der Eltern, noch mit verblichenen Marken aus Karlsbad und Ems, wurden vom Boden heruntergeschleppt. Veronika suchte Sommerkleider heraus: Jetzt im April war es wohl schon warm in Venedig! Ob man mit einem großen Panamahut am Lido gehen konnte?

Sie legte Bücher über italienische Kunst in den Koffer und eine Thermosflasche für Tee sowie eine Schachtel Pelmanns Blutreinigungstabletten, dachte im letzten Augenblick an ein Fieberthermometer und saß endlich weinend und hin und her schwankend auf dem Kofferdeckel, während der Bruder mit seinen dünnen Fingern den Schnapper ins Schloß zu drücken versuchte.

Aber in der letzten Stunde, als alles fertig war, stand Veronika in voller Reisetracht, mit Schleier und in einem langen Cape mit silberner Spange, da und wartete auf den Wagen; es umgab sie wie ein Rauschen von Luft, ihre Augen sahen weit über Berge hinaus.

»Basel!« wiederholte sie, »– morgen abend. – Milano – – Venezia! Ejgil – soll ich den großen Willi von dir grüßen – viele, viele Male? Und denkt ein bißchen an mich, alle beide, werdet ihr das?« Sie lachte und wischte sich die Tränen aus den Augen. –

Sanders setzte sich, als sie von der Bahn kamen, wie gewöhnlich an den Schreibtisch. Er hatte die Jahresbilanz des Bureaus mit nach Hause gebracht. – Er seufzte über die schwierigen Zahlen. Ejgil mußte ihm helfen, er war so tüchtig im Rechnen und wurde mit seinen Kolonnen lange vor dem Onkel fertig, der nicht verstehen konnte, daß der Knabe doch der Vorletzte in der Klasse war.

Der Onkel sah von den Papieren auf und blickte dann nach der kleinen Tafeluhr auf dem Kamin.

»Jetzt ist Tante bald auf der Dampffähre«, sagte er.

Er seufzte. »Es war gut,« sagte er kurz darauf, »daß Tante gerade ihre Klosterrente ausbezahlt bekommen hatte. Sonst hätten wir noch eine Obligation verkaufen müssen. Und sie sind fast zu Pari gekauft.«

Er schwieg lange. Die beiden Bleistifte schrieben Zahlen: Inventarkonto ... Zugfenster in der Arrestantenzelle ... Tinte 40, Löschpapier 54 ... »Vierundfünfzig für Löschpapier! Das ist doch enorm! Schreiber Mogensen legt es sich in die Gummischuhe, wie ich gesehen habe. Das Löschpapier des Staates!«

Er blickte wieder auf die Tafeluhr: »Nun fährt Tante auf dem Meere«, sagte er bekümmert und klopfte mit dem Knöchel auf das kleine Barometer über dem Schreibtisch.

 

* * *


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