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Theodors Verhaftung wurde zunächst die Veranlassung, daß Ejgil die Gerichtsschreiberei verließ, dann, daß er aus dem Strobelschen Heim fortkam.

»Nicht einen Tag darfst du mehr in dem verbrecherischen Gebäude sein«, sagte Frau Strobel. »Das Blut deines Bruders schreit dort zum Himmel! Du wirst deine Stelle zum Ersten kündigen!«

Theodor bekam acht Monate, die er in der Nyborger Strafanstalt für jugendliche Verbrecher verbüßen mußte. –

»Ejgil kann nicht länger in unserem Heim bleiben«, sagte Frau Strobel zu Kirsten. »Das Haus hat einen Schandfleck bekommen, der einem Unschuldigen nicht schaden soll. Er ist ein elternloser Knabe, der nicht büßen soll für Familien, die nicht einmal seine eigenen sind! Ich bin dem Geheimnis seiner Geburt auf der Spur. Morgen tue ich den entscheidenden Schritt!«

An diesem Abend träumte Kirsten, ehe sie einschlief, von Kaspar Hauser und dem Mann mit der eisernen Maske, die beide Königssöhne waren.

Frau Strobel hatte ihre Papiere betreffs Ejgil nicht ganz in Ordnung, es zeigte sich aber, Gott sei Dank, daß sie gar nicht nötig waren! Es war stets – denn die Erfahrung hatte sie selbst gemacht – der persönliche Eindruck, auf den es ankam. Und sie trat für Ejgil ein. Sie hatte sich seiner Sache angenommen; das war zugleich Beweis genug.

Theodors Schicksal hatte Eindruck auf Ejgil gemacht, wenn er und der Vetter auch sehr wenig miteinander gemein hatten.

Aber er verstand, daß der junge Theodor einer von denen gewesen war, die auf eigene Hand versuchten, sich ein wenig ungesetzliches Glück zu erkämpfen. So ging es also allen jungen Vagabunden, die versuchten, über die Stränge zu schlagen und einige von den schönen Karotten zu erwischen, mit denen sie unter den Peitschenschlägen des Kutschers zu Markte zogen. Stets wurden sie wieder eingefangen und kriegten eine Hungerkur im Stall. –

Tante Strobel trat in Ejgils Stube. Es war der erste September und Ejgils erster freier Tag. Ejgil wandte sich vom Fenster ab, wo er seine Zettel und Papiere hatte.

Die Tante setzte sich auf einen Rohrstuhl. Ihr Gesicht wurde bläulich, und kurz darauf begann sie zu schluchzen. Erst dann kam sie wieder zum Bewußtsein und konnte fließend reden, anfangs von vielen anderen Dingen, namentlich von Möbeln, die sie am nächsten Tage erwartete, einer reizenden Veranda, die verkauft war, als lediglich in einem neuaufgenommenen Film gebraucht, in dem die Bewohner Grafen und Gräfinnen waren.

Endlich schwieg sie, sah Ejgil fest an. Sie erstickte noch einmal ihr Schluchzen:

»Ejgil! Es ist ein großer Tag in deinem Leben. Komm!«

Sie nahm ihn mit in Theodors Zimmer, dort weinte sie noch ein bißchen bei der Erinnerung. Sie nahm aus Theodors Kleiderschrank einen funkelnagelneuen blauen Anzug mit Bügelfalten und einem Zipfel lila Taschentuch, der zur Tasche heraussah.

»Bitte, Ejgil! Zieh' ihn ruhig an, mein Junge. Das arme Theodorchen kann ihn jetzt doch nicht tragen.« Sie schluckte an den Tränen. »Jetzt trägt er die graue, einfache Uniform der Schande. Du darfst ihn so lange leihen, bis du eigenes Zeug bekommst, das nach Maß angefertigt ist. Und dann wird der arme Theodor heimgekehrt sein zu allem, was sein ist, und zu seiner Mutter!«

Verwundert zog Ejgil Theodors Zeug an. Es paßte nur teilweise, aber Tante Strobel fand, daß es ihm gut stand. Er war so schlank und elegant, feingebaut und doch elastisch, fand sie, ein richtiger kleiner Kavalier. Das konnte er auch gut brauchen, dort, wo er hinkam, mußte er eine gute Figur machen!

»Nun verabschiede dich vom Onkel Strobel«, fuhr die Tante fort. Und Ejgil mußte den Kopf in die Kammer stecken, wo der Kranke jetzt still lag und mit einem Stückchen Bimsstein und einer Nagelbürste in den Falten seines Oberbetts spielte. Sie glitten wie Schiffe oder Flöße durch kleine Kanäle.

»Jetzt verläßt Ejgilchen uns!« sagte die Tante.

»So?« sagte Strobel nur, ohne aufzublicken. Dasselbe hatte er an dem Tage gesagt, als ihm äußerst schonend erzählt wurde, daß Theodor festgenommen worden war.

In der Küche fiel Kirsten Ejgil um den Hals.

»Du kommst wieder!« sagte Kirsten weinend. »Du kommst zurück, und dann spielen wir wieder Baron Tottenberg in den Alpen. Nicht wahr, du kommst? Und sie hat nicht mehr Anrecht auf dich als wir!«

»Wer?« fragte Ejgil, ohne zu verstehen, was das Kind meinte.

Aber die Tante hieß Kirsten schweigen und zog Ejgil mit zur Tür. »Selbstverständlich wird Ejgil häufig Tante und Kusine Kirsten besuchen, die ihm all die viele Güte erwiesen haben!« In Tränen schwimmend, starrte Kirsten auf Ejgils Rücken in der neuen Jacke mit dem aufgenähten Gürtel, die sich ihm eng an den Seiten anschmiegte, so daß er die reizendste Figur bekam. Kirsten dachte, jetzt käme Ejgil nie wieder. In dem neuen Anzug schien er schon zum Prinzen verwandelt, wenn sie auch oft Theodor in demselben Sonntagszeug gesehen hatte, aber es stand Ejgil viel besser; und sie wußte gut, wohin er jetzt ging; es war traurig, wenn es auch noch so sehr sein Glück bedeutete!

Die Mutter strich Kirsten übers Haar. »Weine nicht, Liebling!« Sie wischte sich selbst eine Träne aus dem Auge; sie hatte nicht die Hoffnung in bezug auf die beiden aufgegeben, im Gegenteil, aber Ejgil brauchte auch etwas, um mit Kirsten auf gleichem Fuße zu stehen.

Tante Strobel trug ihr neues fußfreies Homespunkostüm. Aufrecht, die Hände in den Jackentaschen und den Busen unter der Bluse wogend, ging sie die Westerstraße hinunter. Ejgil begleitete sie ziemlich schlaff, er kannte ihre Einfälle, die meistens auf Unsinn hinausliefen, etwas zu gut. Als aber Tante Strobel einem Taxameter winkte, wurde er wach. Diese Art Flottheit lag der Tante nur wenig, wenn sie nicht auf Rechnung eines Klienten fuhr.

Die Droschke hielt vor einer Villa am Platanenweg. Hier war eine hohe Hecke, und drei Steinstufen führten zu dem höher gelegenen Garten. Die Gitterpforte stand weit offen. Über den Kies waren schleimige, feuchte Blätter von einem schlechtgehaltenen Spalier aus wildem Wein gestreut. Fünf Stufen führten zu einer Eingangstür hinauf, auf deren Schild ein Name in das angelaufene Messing geprägt war: »Thorvald Schnakkenborg, Inspektor.«

»Kümmere dich nicht darum«, sagte Frau Strobel außer Atem. »Das ist der vorige Besitzer, er starb vor anderthalb Jahren, und sein Schild sitzt noch da. Aber die Adresse stimmt schon, ich war selbst vorgestern hier. Warte nur, Ejgilchen!« Und sie sah ihn mit frohen, tränenfeuchten Augen an.

Sie war tief gerührt bei dem Gedanken an den Besuch, der ihnen jetzt bevorstand. Aber nichts wollte sie Ejgil sagen. Die Überraschung in seinem Gesicht wollte sie miterleben. Sie selbst hatte vor zwei Tagen hier einen Besuch abgestattet, und zu ihrer Erleichterung war gar nicht einmal nach den Papieren gefragt worden, die sie – so mangelhaft sie auch waren – in ihrer Tasche bei sich trug. Denn Hebamme Poulsen, die von 1890 bis 1905 die Gegend um das äußere Oesterbro versorgt hatte, war tot, und von ihren Protokollen wußte ihre Nachfolgerin nichts, die waren entweder bei einem Brand vernichtet oder lagen auf einem falschen Regal des Provinzarchivs vergraben, was ebenso hoffnungslos war, wie wenn sie verbrannt gewesen wären. Aber nicht allein, daß die Betreffende sich mit Frau Strobels mündlichen Berichten begnügte – nein, sie kam ganz außer sich vor Dankbarkeit und Freude! Getrost drückte Frau Strobel nun auf den elektrischen Knopf, der neben der Tür saß. –

Es verging fast eine Minute, ehe geöffnet wurde. In dem von der Sicherheitskette gehaltenen Spalt sahen sie eine Dame in Schwesterntracht. –

Sie schüttelte den Kopf. Nein, die gnädige Frau sei ausgegangen. Sie wisse nicht wohin, aber das Mädchen sei zu Hause, es werde gleich kommen. Und ein kleines, altes Mädchen zeigte kurz darauf sein Gesicht hinter dem Spalt. –

»Ich habe eine Verabredung mit Frau Funch-Petterson«, erklärte Frau Strobel.

Das Mädchen betrachtete sie scharf, schwieg jedoch und wollte die Tür schließen.

»Ich bin Rechtsanwältin«, sagte Frau Strobel und streckte die Lackstiefelspitze vor, wagte jedoch nicht, sie zwischen die Tür zu setzen, da der Stiefel ganz neu war.

Das Mädchen öffnete geschwind die Tür. »Wenn es sich um Geld handelt,« sagte sie, »werde ich Ihnen eine Adresse geben –«

Aber Frau Strobel erklärte, es sei ein privater, streng persönlicher Besuch, und sie kämen nach Verabredung. –

»Die Masseuse wartet schon bald eine Stunde,« sagte das Mädchen friedfertiger, »und das ist auch täglich um zwei Uhr verabredet. Aber vielleicht wollen gnädige Frau warten?«

Frau Strobel und Ejgil wurden in die Veranda geführt, zu der eine Stufe in der Mitte des Raumes führte. Dort standen Polstermöbel mit Seidendamastbezügen; schwere, weiche, in feinen Farben abgestimmte Kissen lagen rings auf dem Boden. Eine Treppe mit ganz vergoldetem Gitter führte zu einer Estrade hinauf, von der aus man in die Stuben des ersten Stocks gelangte. Oben an der Wand sah Ejgil drei große, blasse Lorbeerkränze. Lange saßen sie auf ihren Polstersesseln. Durch den Spalt zwischen zwei Portieren sahen sie einen Längsschnitt der Masseuse. Etwas später sah diese auf ihre Armbanduhr, stand vom Stuhl auf und ging fort. Die Stunde war abgelaufen; sie hörten die Tür gehen.

Ejgil betrachtete mit Verwunderung dieses Zimmer, das mit weichen Kissen und mit Spielzeug überladen war. Auf der Etagere standen Nippes in Gold, Emaille und Schildpatt, und auf einem kleinen Wildlederkissen saß eine fleischfarbene, nur mit Strümpfen und Seidenhut bekleidete Dame aus Guttapercha. Auf Borden standen Photographien in endlosen Reihen.

Sie hörten Schlüssel in der Haustür rasseln, zwei Damenstimmen sprachen flüsternd und forciert; auch die Stimme des Mädchens ertönte und gab wortknappe Antworten.

Plötzlich wurde der Portierenzipfel beiseite geschlagen, und ein paar Sekunden lang stand eine dunkelgekleidete Dame da und betrachtete sie.

Sie war schlank, nicht groß, ihre Haltung hatte eine eigentümliche Stärke, die Handbewegung, die die Portiere entfernt hatte, zeigte Energie und Anmut. Sie trug Überzeug, ein straffsitzendes blaues Kostüm mit weißer Verbrämung. Ejgil begegnete ihrem Blick; er war strahlend und warm. Der Mund war schmal, schön und resolut. Jetzt ließ sie die Portiere fallen.

Nochmals ertönten die flüsternden Stimmen. Gleich darauf wurde die Haustür wieder geöffnet und geschlossen. Von seinem Platz aus konnte Ejgil durch die Wintergartenscheibe sehen, wie die dunkelgekleidete Dame sich nach der Gartenpforte entfernte. Sie wandte sich nicht um, wie er bis zum letzten Augenblick gehofft hatte. Jetzt waren sie fort.

Frau Strobel lächelte zufrieden. »Nein, Ejgil, die war es nicht, die wir treffen sollten.«

Sie wandte sich mit einem Ruck in dem Sessel um, daß die Rollen kreischten. »Ejgil!« sagte sie. »Die wir heute hier treffen werden, ist deine Mutter.« Sie schnaubte ein paarmal ins Taschentuch, aber die Gemütsbewegung war zu groß gewesen. Das Bewußtsein schwand aus ihren Zügen, und sie saß stumm da und schluchzte ein Weilchen.

Ihre Äußerung hatte Ejgil nicht verwundert. Etwas Derartiges hatte er im Grunde erwartet. Es sah Tante Strobel ganz ähnlich, solche Begegnungen zu arrangieren. Aber das mattweiße, fast goldene Gesicht, das er hinter der Portiere gesehen hatte, stand noch vor seinen Gedanken. Noch nie hatte er Frauenaugen so strahlend heiß und klar intelligent zugleich gesehen. Es war wie zu Kristall erstarrte Glut. Aber sie war es ja nicht, die sie treffen sollten. Nur ein zufälliger Gast. Er fühlte sich müde, traurig und gleichgültig gegen das, was ihm jetzt bevorstand.

Sie warteten fast zwanzig Minuten. Dann wurde eine Dame oben auf der Galerie der Verandahalle, wo sie saßen, sichtbar.

»Steh auf!« sagte Frau Strobel hektisch. »Das ist sie

Die Dame war klein, babyhaft und blond mit Bubilocken. Sie beugte sich über das Geländer und sah auf die zwei wie ein Kind auf Petz im Bärenzwinger herunter. Ihre großen, violetten Augen standen weit offen in erschrockener Verwunderung. Die Hand hielt sie gegen die Wange gedrückt, wohl eine Geste, die darauf berechnet war, ein dramatisches Entree zu unterstützen, ihr aber jetzt nur das Aussehen gab, als hätte sie Zahnschmerzen. Sie schien ganz aus der Fassung gebracht.

Schließlich kam sie die Treppe herab, wobei sie die Falten des losen Tea-gowns fest um die zierlichen Puppenbeine spannte, die in rotlackierten Schuhen trippelten. Sie blieb gerade vor Ejgil stehen, die purpurroten Lippen weit getrennt und noch mit großen, runden Augen. Sie reichte Ejgil fast bis zum Kinn.

Auch Frau Strobel schien ganz aus der Fassung gebracht.

»Das ist Frau Funch-Petterson«, brachte sie aber doch, zu Ejgil gewandt, heraus. Und verwirrt fügte sie hinzu: »Das ist sie – sie, von der ich dir vorhin sprach!«

Frau Funch-Petterson sank schlaff auf einen Puff, beide Füße seitwärts auf den Boden gelegt, und spielte nervös mit einem kleinen Spitzentuch, das sie über das linke Knie spannte.

»Das ist Ejgil!« Frau Strobel erhob sich wieder und beschäftigte sich mit ihren Handschuhen. »Ja, damit habe ich also meine Pflicht getan!«

Die blonde Dame beugte graziös, aber tonlos den Kopf. »Selbstverständlich. Ich danke Ihnen.«

Frau Strobel stand einen Augenblick vollkommen verwirrt da. Das Ganze war anders verlaufen, als sie es sich gedacht hatte. Der erste Besuch, bei dem sie Frau Funch-Petterson alles geradeheraus erzählt hatte, hatte dramatisch geendet: sie selbst beherrscht, wenn auch nicht ohne Tränen, die andere ganz in Tränen aufgelöst. Jetzt hatte sie ein ergreifendes und schönes Wiedersehen zwischen Ejgil und seiner Mutter erwartet.

»Ich glaube,« sagte sie, »ich werde Sie und den Knaben jetzt allein lassen. Sie haben sicher viel miteinander zu reden. Und ich störe nur.«

Sie ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und brach einen Augenblick zusammen. »Leb' denn wohl, Ejgil! Und vergiß mich nicht ganz!«

Ejgil und Frau Funch blickten ihr nach. Dann standen sie da und starrten sich leer und ganz stumm an.

 

* * *


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