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Ejgil war ein neues Schlafzimmer angewiesen worden. Es lag in der leeren Wohnung: das Mädchenzimmer, wie er erkannte. Darin befanden sich eine eiserne Bettstelle und ein zylindrischer, übelduftender Waschtisch. Genug für einen Knaben! Er kämmte sich vor einem Spiegelscherben, den Kirsten ihm geschenkt hatte. Der Scherben zeigte ihm eine Hälfte seines Gesichtes; fächelte er aber damit, so konnten die beiden Teile in eins zusammenfließen. Er wurde scheu, wenn er sich im Spiegel betrachtete. Er sah, daß seine Züge harmonisch, die Linien fest und rein waren, daß das Haar blank und braun war. Den Blick konnte er nicht erfassen, nur ein starrendes Fragen. Er verstand, daß seine Züge ansprechend wirken mußten. Das machte ihn unruhig, es konnte ihm Ungelegenheiten aller Art bringen! Herrschte erst Nachfrage nach einem, so bedeutete das ewig neue Lasten, Quälerei von aller Art Menschen!

In diesen Tagen machte er die nähere Bekanntschaft Onkel Strobels.

Er hatte den Onkel eines Morgens durch die Türspalte gesehen, als die Tante die besonderen Vollmachten für die Angelegenheiten des Tages brachte.

Zwischen den beiden Zimmern, die zum Möbelverkauf gebraucht wurden, befand sich ein großes Eßzimmer. Onkels Schlafzimmer lag über dem Eingang zum Zwischengebäude und hatte eine Tür zum Eßzimmer, das zurzeit unbenutzt dastand mit zerfetzten blauen Tapeten und einem Geriesel von der Gipsdecke auf den Boden. Von hier führte ein kleiner Korridor zur Küche hinaus, wo Tröge, alte Waschtische, Porzellanscherben und in Zeitungspapier eingepackte Archivsachen vom Rechtsanwaltsbureau über dem muffigen Küchentisch und selbst in dem Aufwasch aufgestapelt waren. Prozeßakten waren, in blaues Packpapier gebunden, fachweise und mit Rotstiftnummern versehen, von Tante Strobel auf das Tellerregal gelegt. Von dem kleinen Korridor führte eine Wendeltreppe in die Strobelsche Wohnung hinunter. Über sie kamen Tante Strobel jeden Morgen und Kirsten dreimal täglich mit dem Essen auf einem Blechtablett, zugedeckt mit den Tageszeitungen und dazu einmal wöchentlich mit dem Familienjournal.

Der Hund Christian kam ebenfalls die Wendeltreppe herauf, er konnte sich selbst die Tür öffnen. Christian hatte freien Zutritt zu Onkel Strobels Schlafzimmer, das Onkel selbst mit einer Schnur vom Bett aus öffnen und schließen zu können schien, wenn Christian daran kratzte.

Christian schlief nachts in Tante Strobels Bett, das ursprünglich als Doppelbett gedacht war. Den Tag verbrachte Christian teils in Kirstens Bett, teils in der Küche, wo Kirsten ihm einen Karbonadenknochen oder sonst etwas Gutes gab, teils im Hofe bei den Mülleimern. Auf die Straße kam er fast nie. Bei Onkel Strobel waren seine Besuche häufig. Ohne den Kopf zu wenden, trottete er an Ejgil vorbei, der am Fenster saß und las, er zählte Ejgil nicht so recht mit zur Familie.

Tante Strobel war im Überzeug und mit ihrer Wildledermappe die Wendeltreppe heraufgekommen. Sie streichelte Ejgil freundlich die Backe.

»Hast du Lust, zu Onkel hineinzugehen, Ejgil?«

Ejgil folgte ihr ins Eßzimmer, und sie öffnete leise Onkels Tür. Ejgil wußte, daß Onkel still daniederlag, seit der Schlag ihn getroffen hatte.

Jetzt sah er durch den Spalt, wie ein wachsgelbes Gesicht mit krausem, grauem Bart sich auf dem Kissen eines hohen Hospitalbettes umwandte. Strobel blinzelte mit den Augen, um den Knaben zu sehen. Es waren kleine, schmale Augen mit pfiffigem Ausdruck. Die Nasenspitze war porös und bläulich.

Ejgil nickte dem Onkel zu. Die Tante sah mit gerührtem, mütterlichem Ausdruck zu und nahm die Vollmacht nebst einem Füllfederhalter heraus. –

Kirsten sprach höhnisch vom Vater, wenn Ejgil sie in der Küche besuchte. Sie steckte dem Pflegebruder gern gute Dinge zu. Augenblicklich machte sie Erdbeeren und Johannisbeeren ein. Den Schaum von den Töpfen legte sie Ejgil in einer Untertasse mit Teelöffel vor. Sie sah ihn mit warmen, guten Augen durch die runde Stahlbrille an.

»Mutter hat gesagt, ich müsse nett zu dir sein«, sagte sie erklärend.

»Das bist du auch, Kirsten. Vielen Dank!«

»Nichts zu danken! Jetzt gehe ich mit einem kleinen Teller zu Vater. Ich mache keinen Unterschied.«

Eigentlich mochte sie den Vater nicht leiden. Sie nannte ihn sogar bei seinem Spitznamen vom Gericht: Niels Massenmörder. Sie hatte keine Achtung vor ihm, das sagte sie geradeheraus.

»Er hat ein schlechtes Leben geführt, ehe er seinen Schlaganfall erlitt«, erzählte sie. »Er war Mutter untreu mit einer Witwe, die jetzt bereut hat und Mutters Klientin ist. Sie hat alles gestanden.«

»Und nicht einmal für die Grundstücke und die Prozesse sorgte Vater ordentlich«, fuhr Kirsten fort. »Es geschah mehrmals, daß ihm Prozesse mißlangen und verloren wurden, weil er die Termine nicht wahrnahm, und der Klient mußte noch Strafe bezahlen. Jetzt, seit Mutter die Sachen wahrnimmt, gehen sie glänzend.

Aber deshalb soll Vater kein schlechteres Essen als ihr anderen haben«, sagte Kirsten und sah gerecht aus. »Im Gegenteil! Ich will keinem etwas nachtragen!«

Die Portionen, die sie dem Vater hinauftrug, waren auch wirklich reichlich, und es gab oft gebräunte Kartoffeln, die er liebte.

»Aber Portwein kriegt er nicht«, sagte Kirsten, »der ist nicht gut für seine Apoplexie und zudem schuld an seiner Krankheit. Er saß gerade in einer Weinstube mit Rechtsanwalt Frölund und der Witwe! Die Flasche Portwein dort auf dem Regal gehört Mutter persönlich, daß du es weißt! Damit stärkt sie sich, wenn sie vom Gericht nach Hause kommt. Sie arbeitet sich zu Tode für uns! Arme Mutter!«

Kirsten krempelte sich die Ärmel auf und tauchte ihre blaugefrorenen Kinderarme in das eiskalte Trogwasser, in dem sie die Frühstücksteller und Mundgläser von sämtlichen Waschtischen abspülte.

Hin und wieder steckte die Schwester ihre Nasenspitze zu Kirstens Küche herein und schnupperte nach Erdbeersaft. Sie trug immer ein neues ausgeschnittenes Kleid und hatte kurzgeschnittenes Haar, was etwas ganz Neues in der Stadt war. Kirsten drohte der Schwester mit dem Kochlöffel:

»Mach' bloß, daß du wegkommst zu deinen Lebegreisen im Tivoli, du Bostonfratz! Du willst durchaus verführt werden und als Maria Magdalena enden, wenn du auch nicht ihr herrliches langes Haar hast, von dem in der Bibel die Rede ist!«

Aber Aase lachte: »Pah! Hätte Maria Magdalena jetzt gelebt« – Aase schüttelte ihre kurze Mähne –, »dann hätte sie sich wohl auch einem Bubikopf schneiden lassen! Und glaub' nur nicht, daß es gesünder sei, jeden Sonntag nach Bethesda zu gehen, dorthin kommen auch Herren, wie ich gehört habe, und das sind die Allerschlimmsten!«

»Ich erzähle Mutter von dir«, rief Kirsten ärgerlich.

»Mutter! Sie sagt, daß jede Frau ihre volle Freiheit auf eigene Verantwortung hat. Das In-der-Küche-Stehen, wie du es tust, ist nur etwas, das die Männer erfunden haben, damit wir Sklavendienste für sie leisten sollen. Aber das Neueste ist, daß sie jetzt für uns Sklavendienste tun sollen!« –

Ab und zu sah Ejgil flüchtig Aases Freundin Emmy. Sie war schwarzhaarig, weißhäutig wie Stearin und hatte einen Mund wie eine Schnittwunde; wenn sie Ejgil betrachtete, standen ihr kleine Perlen auf den Lippen. Wie sie dachte er sich Herodias' Tochter. Eines Tages nahm sie eine Nelke aus ihrem Gürtel, legte sie auf die Handfläche und knipste sie ihm wie in Gedanken zu.

Als er unruhig aufblickte, zog sie beleidigt den halblangen schottischen Rock über die Wade herunter, und er hatte Zeit, zu sehen, daß das Bein schlank und zierlich in einem grasgrünen Strumpf steckte. Hastig senkte er den Blick.

Ejgil trieb seine Studien daheim am Hoffenster. Die Schulaufgaben waren nur Nebensache, die machte er meistens in den Pausen. Er war immer noch der Zweitletzte in der Klasse, aber beim Übergangsexamen nahm er sich zusammen und gab die Antworten, die die Schule verlangte.

Im übrigen fehlte Ejgil sehr oft in der Schule. Er schützte Krankheit vor, und bei den Lehrersitzungen wurde erwähnt, daß der Bengel sicher tuberkulös sei. Seit er bei Strobels wohnte und nicht mehr Kammerjunker Sanders' Adoptivsohn war, nahm man jedoch weniger Notiz von ihm als früher.

Die Wahrheit war indessen, daß er die Schule schwänzte. Er war teils in den Bibliotheken, teils trieb er sich in den äußeren Stadtvierteln herum, sprach mit Straßenjungen, die er zufällig auf einem Holzplatz traf, oder unterhielt sich mit Bauarbeitern auf irgendeinem Neubau draußen am Tagensweg oder in Brönshöj. Stundenlang saß er bei ihnen oben auf dem Gerüst. Er fand, daß sie äußerst intelligent waren und über unzählige Dinge Bescheid wußten, viel besser als Onkel Sanders, ja selbst als Willibald Olsen, der meistens über Kunst und nur sehr selten über das Sargfach sprach, das doch viel interessanter war, da es von Menschen und namentlich von Toten handelte. Maurer Jonsson hatte eine Fachreise durch Rumänien, Serbien und weiter nach Osten bis tief in das asiatische Rußland gemacht. Von seinen Wanderungen zu hören, war sehr lehrreich. Und was die anderen vom Fortschritt des Sozialismus in der ganzen Welt erzählten, war oft klug und selbst für Ejgil ganz neu.

Kirsten schrieb die Entschuldigungszettel für die Schule. Sie lauteten in der Regel: »Ejgil Sanders hatte heute wieder hohes Fieber und lag mit warmen Umschlägen auf der Lunge. Ergebenst K. Strobel.«

Sie war reizend zu Ejgil und gab ihm oft Apfelsinen, die sie als Zugabe beim Kaufmann erhielt, oder Eingemachtes.

Er saß gewöhnlich bei ihr in der Küche auf der Kochkiste, während sie geschäftig und erhitzt Kartoffeln schälte oder in ihren kleinen Filzpantoffeln am Plättbrett stand und gerolltes Zeug bespritzte.

»Erzähl' mir Geschichten, Ejgil!« bat sie. Ihre Augen wurden gierig hinter der Stahlbrille.

Er erzählte irgend etwas, das er gelesen hatte, und erfand ein Teil dazu, um es amüsanter für Kirsten zu machen, als er selbst es brauchte.

Kirsten hatte gerade im Familienjournal über Kaspar Hauser und den Mann mit der eisernen Maske gelesen.

»Kaspar Hauser war ein Findelkind!« sagte sie wichtig, weil sie Bescheid wußte. »Aber in Wirklichkeit war er ein Königskind. Nicht wahr?«

Ejgil verschwieg, daß er Hauser für einen epileptischen Schwindler hielt. – »Er war ein vertauschter badischer Prinz.« Kirstens Augen träumten romantisch hinter der Brille, während Ejgil das Märchen von der schönen Prinzessin Stephanie Beauharnais und ihrem verlorenen Sohn einfiel.

»Auch der Mann mit der eisernen Maske war ein Königssohn«, bestätigte er ganz wider besseres Wissen.

Kirstens Brille betaute sich. Auch Ejgil war, wie sie wußte, ein Findelkind, vielleicht war auch er ein Königssohn. Sie durchlief, so gut sie konnte, die letzten Glieder der Königsreihe. Sie hatte von mehreren heimlichen Kindern gehört, die König Christian dem Achten geboren waren; das war jedoch sicher so um siebzehnhundert herum gewesen und konnte also nicht stimmen. Aber Ejgil konnte ja aus einem Königshause in Deutschland oder der Schweiz stammen! Beklommen stand sie da und rührte in der Beefsteaksoße. Ejgil mochte gern glauben, daß die Zwiebeln schuld an ihren Tränen waren, sie wollte ihn nicht verletzen, indem sie ihm zeigte, wie tief das Geheimnis seiner unglücklichen Geburt sie rührte!

Ejgil erzählte auf ihre Bitte von berühmten Schönheiten.

»Ninon de Lenclos!«

»Das war die, die – – –?«

»Und Tullia d'Aragona?«

»Occhi belli,
Occhi leggiadri, occhi amorosi e cari«,

zitierte Ejgil und übersetzte die Ode von Tullias schönen, liebesheißen Augen.

»Und Madame Roland,« fuhr er fort, »deren wunderbaren Hals das Messer der Guillotine zuletzt tranchierte!«

»Hu!« ächzte Kirsten und wischte sich nervös die Finger an der Schürze ab.

Der Bratenduft lag brandig-süß über der Küche. Ejgil erhob sich von der Kochkiste, damit Kirsten die dampfende Kartoffelschüssel herausnehmen konnte.

»Und Lady Hamilton!«

Kirsten wollte wissen, was die großen Schönheiten angehabt hatten, und wie ihre Frisuren gewesen waren. Sie beschloß, mit Aases Brennschere zu versuchen, lange Locken wie Madame Roland zu bekommen.

Der Kindergottesdienst in Bethesda hatte religiöse Skrupel bei ihr verursacht. Nicht, daß sie an der Dreieinigkeit, der Taufe oder dem Abendmahl gezweifelt hätte; aber mehreres im Alten Testament bereitete ihr Anfechtungen. Namentlich Jonas im Walfischbauch! Wie konnte er hineinkommen, da ein Walfisch doch, wie sie wußte, nur ganz kleine Heringe verschlingen konnte!

Ejgil tröstete sie: der Walfisch war in Wirklichkeit ein sehr großer Tintenfisch. Der bestand nur aus Armen und einem ungeheuren Magen. Der französische Dampfer »Alekto« beobachtete im Jahre 1861 ein Riesenexemplar, dessen Körper sechs Meter maß, und das 4000 Pfund wog. –

Aber die Arche Noah! Kirsten grübelte darüber, wie alle Tiere der Erde in ein Schiff gehen konnten, das nicht größer als die im Neuen Hafen waren!

»Alle Tiere der Erde«, erklärte Ejgil freundlich, »stammen, wie Darwin uns gelehrt hat, von einigen ganz winzig kleinen Tieren ab, die Protozoen genannt werden und so klein sind, daß man sie nicht sehen kann, so zum Beispiel Phoraminiphen, Amöben und Radiolarien. Und von denen kann Noah so viele mit in die Arche genommen haben, wie er wollte!«

»Erzähl' mir noch ein bißchen«, sagte Kirsten, drehte den Gaskocher aus und richtete die Soße an. »Gleich nach dem Essen, wenn ich aufwasche. Willst du?«

Im geheimen schien es Kirsten, daß Ejgil der hübscheste Junge war, den sie je gesehen hatte: seine Augen waren klar und klug wie zwei Sterne, seine Haare so dunkel und glatt wie Atlas. Sie schwelgte in Phantasien, in denen er ihr Held war. Er war der Prinz mit der eisernen Maske, der in die Bastille, die finstere Seitenhauswohnung unten, geworfen war. – Sie erlebte mit Ejgil die Geschichten, die er auf seinem Platz auf der Kochkiste in ihrer Küche erzählte. –

Es war mehrmals geschehen, daß eine Apfelsine oder Schokolade, die Ejgil auf seinen Arbeitstisch am Fenster gelegt hatte, verschwunden war, wenn er aus der Schule nach Hause kam.

Kirsten konnte es nicht sein, da sie selbst die Stifterin war, Aase war stets unterwegs und sauste, wie sie es selbst nannte, und Theodor verachtete die Küche; er war intim mit seinem Bureauchef befreundet und rauchte parfümierte Zigaretten.

Außerdem entdeckte Ejgil, daß unter seinen Notizen und Aufzeichnungen von der Bibliothek, oder den Einfällen, die er hin und wieder niederschrieb und mit bescheidenen kleinen Zeichnungen illustrierte, die eigentlich nichts darstellen sollten, gekramt war. Sie lagen in anderer Ordnung als er sie verlassen hatte und trugen die Spuren fettiger Finger.

Eines Tages beschloß er, eine Falle zu legen. Er ging plötzlich zur Eingangstür hinaus, kam aber fünf Minuten später auf Zehenspitzen zurück und öffnete lautlos die Tür.

Am Fenster stand ein Mann in bloßem Hemd, mit Glatze, Zottelbart und dünnen, zottigen Beinen, die in gestrickten Morgenschuhen steckten: Onkel Strobel. Er stand da und drehte einen Papierfetzen in der Hand, offenbar irritiert durch die verkürzten Wortbezeichnungen, die Ejgil der Einfachheit halber gebrauchte.

Der Onkel drehte sich mit einem Ruck um, entdeckte Ejgil, hob hastig eine Steppdecke vom Boden auf, wickelte sie um sich und verschwand in seiner Kammer, wobei er murmelte, daß er sich ein Glas Trinkwasser hatte holen wollen.

Ejgil freute sich: Onkel Strobel war ja lahm und lag still danieder, aber jetzt befand er sich augenscheinlich auf dem Wege der Besserung.

Kurz darauf rief die Stimme des Onkels vom Schlafzimmer:

»Ejgil, komm zu deinem Onkel!«

Auf Zehenspitzen ging Ejgil ins Krankenzimmer. Der Onkel lag in seinem hochbeinigen Bett und drehte ihm auf dem Kissen matt sein rotbrennendes Gesicht zu.

»Was, zum Teufel, soll das heißen, Junge, daß du nicht in der Schule bist?«

Ejgil beugte den Kopf. »Ich bin krank gemeldet«, sagte er.

Die kleinen blaßgelben Augen des Onkels wurden scharf.

»Ach so!« sagte er. »Du schwänzt! Was?«

Ejgil schwieg.

Der Onkel lag einen Augenblick still, dann begann es hinter seinen losen Schneidezähnen zu schlucken, daß sie ihm fast wagerecht zum Munde herausstanden, aber wieder zurückschwappten.

Ejgil merkte, daß Onkel Strobel zu grinsen versuchte; aber die Zähne rutschten ihm weg.

»Also du schwänzt!« gluckste es in ihm. »Was für ein kleiner Teufel!«

Vom Lampenhaken über dem Bett hing eine Schnur mit einem Hängsel herab, wenn der Kranke sich erheben wollte; aber es war ein Knoten hineingemacht, so daß er sich nicht mehr in Reichweite des Onkels befand. Vermutlich hatte Tante Strobel damit gerechnet, daß der Patient sich nicht mehr erheben würde. – Onkel Strobel sah lauernd auf Ejgil.

»Ich freute mich so, daß es dir besser ging!« sagte Ejgil. »Du warst doch wirklich gut auf den Beinen!«

»Wenn du Tante ein Wort sagst,« Onkel Strobel sah drohend aus, »dann – dann erzähle ich ihr, daß du die Schule schwänzt!«

Unter dem Bett sah Ejgil neben vielem anderen alte Apfelsinenschalen und Schokoladenpapier. Die Stube war niedrig, aber geräumig. Alle Wände waren von der Decke bis zum Fußboden mit Ausschnitten aus Wochen- und Monatsblättern, Zeichnungen und Anekdoten, meistens Karikaturen und Witze, aber auch mit romantischen Bildern aus Filmprogrammen beklebt, die Tante Strobel mit nach Hause gebracht hatte. Nicht ein Fleck der Tapete war sichtbar vor lauter Leseschrift.

Onkel Strobel zeigte auf die Bilder:

»Die hat Tante selbst aufgeklebt, als ich krank wurde und nicht aufstehen konnte, und so hatte ich genügend Unterhaltung. Hiermit kann ich selbst die kleinste Schrift an der Wand lesen!«

Er suchte unter dem Kopfkissen und holte ein altes Opernglas hervor.

»Das ist ebensogut wie ein echter Zeiß,« sagte er, »das kann die kleinste Schrift auf viele Kilometer lesen!«

Er stellte das Glas ein: »Sieh mal; dort oben über der Tür steht ein Vers aus einem Weihnachtsbuch:

In der Kirche schnarchte mal der Marschall Mac Mahon,
Er sollte totgeschossen werden, kam aber noch davon.

Stimmt das nicht?« sagte Onkel Strobel stolz. »Über den Vers habe ich mich manche schlaflose Nacht amüsiert.

Und dann dort über dem Waschtisch: die drei kleinen Männer mit Fliegenpapier auf der Löwenjagd! Stimmt das nicht? Das ist mein Lieblingslied! Und gleich daneben siehst du Kaiser Wilhelm in Admiralsgala, dem zwei Abteilungen Matrosen von je zehn Mann den Schnurrbart hochzwirbeln. Das ist aus dem englischen Witzblatt Punch und ein sehr seltenes Stück. Und – zwei – drei – fünf Plätze weiter rechts siehst du Harriet Funch-Pettersson in vollem Trikot als Jeanne d'Arc, sie ist Tantes Lieblingsprimadonna. Kannst du sie finden? – Gerade unter dem Bilde von den beiden, die vierhändig spielen, das sind sicher Beethoven und Richard Wagner aus dem deutschen Blatt › Moderne Kunst‹. Nicht wahr?

Und darunter steht ein Gedankensplitter, ich glaube, aus der Wochenrevue: Das Leben ist ein Jammertal! Am besten wäre es, man würde nicht geboren; aber das ist ein Los, das nicht einem unter zehntausend zuteil wird! – Das sind weise Worte, und so wahr, so wahr, wie deine Tante sagte, als sie das Blatt anklebte!«

Rechtsanwalt Strobel kramte unter einigen Zeitungen auf einem Stuhl neben dem Bett; darunter lagen eine Tüte Brustbonbons, ein chinesisches Geduldspiel mit kleinen roten Kugeln in einer Schachtel – und ein Spiel Sechsundsechzig-Karten. »Es ist schade, daß Tante selten Zeit hat!« seufzte er. »In Konradsens Weinstube machte ich täglich ein Spielchen mit dem Küper Niklasen!« Er sah still vor sich hin. »Oder wir würfelten manches Mal bis weit über die Polizeistunde!«

Er streckte sich: »Na, die Zeit vermisse ich jetzt nicht! Aber kannst du deinem Onkel nicht einen Roman leihen? Kirsten war nett und brachte mir, was sie in Theodors Kommodenschublade finden konnte, aber das waren nur ein Nick-Carter-Buch und die ›Grüne Brillenschlange‹ und eines, das ›Handbuch für Badegäste in der Freischwimmeranstalt Codan‹ heißt, und dann noch eins, das ich noch nicht gelesen habe, es heißt › Venus im Pelz‹, das bewahre ich für die Nacht auf, wenn ich das nächste Mal nicht schlafen kann, aber vielleicht hast du ein besseres?«

Der Hund Christian öffnete die Tür von außen und sprang mit einem Satz zu dem Patienten ins Bett, der sogleich einen Zipfel der wollenen Decke lüftete, damit Christian warm an seinem Schenkel liegen konnte. Das war Christian nun einmal gewohnt sowohl von Tante Strobels Bett wie von Kirsten.

»Das ist ein echter Bernhardiner!« sagte Onkel Strobel stolz. »Er hätte prämiiert werden können, wenn er gewollt hätte! Nicht wahr, Christian?« Er strich Christian mit der großen Zehe übers Rückgrat. Christian schnarchte zufrieden.

»Du weißt wohl, mein Junge,« fuhr der Onkel belehrend fort, »daß die Bernhardiner den verirrten Pilgern auf dem Sankt Bernhard Wein und Brot bringen?«

Ja, das wußte Ejgil. »Wir könnten es ja mit Christian versuchen«, schlug er vor. »Jetzt bist du Bergsteiger, Onkel, und du bist auf dem Sankt Bernhard im Schnee liegengeblieben.«

Der Onkel blickte mißtrauisch auf. »Im Schnee? Warum das?«

»Ja! Das Oberbett ist eine Schneewehe, die dir bis zum Kinn reicht, das Kopfkissen ein Eisblock; du bist mit dem ganzen Körper in eine Gletscherspalte gefallen und liegst hilflos da, nur den Kopf über dem Schnee.«

»Bravo!« sagte der Onkel vergnügt. »Das ist fein; die Laken sehen genau wie Schnee aus, es braucht ja nicht gerade frischgefallener zu sein! – und was weiter?« Er wartete begierig.

»Jetzt ist Christian gekommen und hat dich aufgestöbert, und dann schickst du ihn wieder ins Sankt-Bernhard-Kloster nach Proviant!«

»Und Portwein?« – Onkel Strobel sah hoffnungsvoll auf Ejgil.

»Ja,« sagte Ejgil, »wenn sie im Kloster welchen haben – und damit herausrücken wollen!«

Christian verstand die Kunst, Kirsten, wenn sie in die Stadt ging, einen Korb mit Waren nachzutragen, Ejgil ging daher in die Küche und sagte: »Ach, Kirsten, leih' mir doch Christians Einholekorb.«

»Was willst du damit?«

»Wart' nur, du wirst schon sehen!« Sie sah ihm entzückt nach, als er mit dem Korb ging.

Ejgil gab Christian den Henkel ins Maul. »Wart' ein bißchen«, sagte er. »Onkel, du mußt auf einem Blatt, das du aus deiner Brieftasche reißt, ans Kloster schreiben, daß du in Gefahr bist. Aber das will ich lieber selbst für dich tun.«

Ejgil riß den Schmutztitel aus der »Venus im Pelz« und schrieb folgendes:

»An die heiligen Väter im St.-Bernhard-Kloster. Salutem in domino. Ich, Baron Kurt Blitz von Tottenberg aus Frankfurt, bin auf der Wanderung über den Col de Valpelline mit meinem Führer Andreas Hofer in eine Gletscherspalte südlich von der Tête blanche gestürzt. Wir verkommen beide vor Kälte, Hunger und Durst. Schickt einen Hund mit Brot, mit Kalbsbraten, Salamiwurst und Käse, vier Apfelsinen sowie eine mit Portwein gefüllte Feldflasche, oder wir vergehen!«

»Dann unterschreibst du einfach: Tottenberg!« sagte Ejgil. Er selbst schrieb: Andreas Hofer, und legte das Papier zusammengefaltet in Christians Korb.

Onkel Strobel mußte Christian mit der Hacke aus dem warmen Bett puffen. Der Hund blieb mit herunterhängender Rute, den Korb im Maule und mit sehr bittendem Blick stehen.

Aber Ejgil wußte Rat. »Kirsten geht zum Schlachter!« rief er. Das war ein Zauberwort für den Hund.

Eine Viertelstunde darauf kam Christian und kratzte an der Tür, zu beladen, um selbst zu öffnen, wie sich zeigte, als Ejgil aufschloß. Im Korb lagen vierzehn Stück Butterbrot, nicht nur mit Wurst und Käse, sondern mit frischgeöffneten Sardinen nebst roten Beeten. Es gab eine Flasche Bier und drei Apfelsinen – und endlich ein kleines Fläschchen mit Portwein aus Frau Strobels Privatflasche.

Auf ein Blatt aus dem Haushaltungsbuch hatte Kirsten geschrieben:

»Lieber Baron Tottenberg und Andreas! Es tut uns sehr leid, daß Ihr in eine Gletscherspalte gefallen seid. Wir haben jetzt einen Hund ausgeschickt, um die Ambulanz zu holen, haltet solange aus. Der Kalbsbraten von gestern war aufgegessen, aber ich bin zu Jensen gelaufen und habe Sardinen geholt. Der Portwein ist nur wegen der Kälte oben in den Alpen und wird nicht wiederholt. Schreibt bald wieder.

Hochachtungsvoll
K. Strobel, Mönch.«

Onkel Strobel schraubte den Pfropfen von der Feldflasche und schenkte in den Deckelbecher ein. Er nickte Ejgil zu:

»Stoß mit deinem Onkel an! Gib erst Christian eine Sardine. – Prost, Andreas Hofer! – Das wärmt ganz bis in die erfrorenen Zehen, was?« – Baron Tottenberg zog die Gletscherspalte ganz bis zur Nasenspitze herauf und freute sich. –

 

* * *


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