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Die Kaiserfrage. – Rivalität zwischen Habsburg und Valois. – Stimmenhandel der Kurfürsten. – Die Stellung des sächsischen Kurfürsten und die fürstliche Opposition. – Die Fürsten und das Kirchengut. – Niederer Adel, Ritterschaft und Geschlechter. – Tod Maximilians. Karl V. – Die oppositionelle Agitation. Hutten. Luthers drei große Schriften. Ihre Bedeutung. – Des Papstes Bulle gegen Luther. – Verbrennung der Schriften Luthers. Dessen Antwort: Verbrennung der Papstbulle. – Luther wird gebannt. – Der Kaiser und die lutherische Agitation. – Der Reichstag in Worms und die Fürstenpartei gegen den Kaiser. – Luthers Sache der Fürsten Sache. – Luther vor dem Reichstag. – Prozeß Luther und Auslieferungsverlangen des Kaisers. – Internationale Kaisermacht, revolutionäre Volksstimmung; die Fürstenpartei zwischen zwei Feuern. – Beseitigung Luthers im fürstlichen Interesse. – Luther auf der Wartburg; die Reichsacht. – Satire und Karikatur.
Die große Bewegung gegen das Papsttum, welche zu Ausgang des zweiten Jahrzehnts des sechzehnten Jahrhunderts ganz Deutschland ergriffen hatte, lief parallel mit einer politischen Bewegung, deren Mittelpunkt die deutsche Kaiserwürde war.
Die Kaiserwürde des deutschen Reiches beruhte mehr auf einem glänzenden Ansehen nach außen hin als auf territorialem Besitze und Machtentfaltung nach innen. Sie war nicht erblich; der Kaiser wurde »erkürt« von den wahlfähigen geistlichen und weltlichen Fürsten des Reiches unter Zustimmung des Papstes. Auch alle Reichsangelegenheiten konnte der Kaiser nicht autokratisch entscheiden, sondern unter Zusammenwirken von »Kaiser und Reich«. Trotzdem aber die Kaiserwürde dergestalt mehr ein glänzender Name war, wurde sie dennoch heiß begehrt. Die römische Kaiserwürde gewährte wie keine andere Krone dem starken Besitzer ein kostbares Archiv alter Ansprüche, sie eröffnete, zugleich zu ihrer Durchsetzung eine Rüstkammer vortrefflicher Waffen+… Die Rechte, welche der mittelalterliche Kaisermantel in sich schloß, der alte Nimbus, der ihn umstrahlte, boten dem Ehrgeize eines Mächtigen unschätzbare Handhaben. (Rösler.)
Um die Zeit, da die Volksbewegung gegen das Papsttum losbrach, stritten zwei Herrscherhäuser, Habsburg und Valois, um die deutsche Kaiserkrone. Beide wollten ihre Herrschaftspläne vermittels des Ansehens, welches die Würde des »römischen Kaisers deutscher Nation« gab, fördern. Während Kaiser Maximilian (Bild 197) die Krone seinem Enkel Karl (Bild 203) verschaffen wollte, wurde von französischer Seite alles versucht, sie König Franz I. von Frankreich zu verschaffen.
Was galten diesen beiden Herrscherhäusern die nationalen oder sozialen Interessen der Bevölkerung Deutschlands! Für sie handelte es sich nur um die Würde, das Volk war ihnen gleichgültig. Im deutschen Lande kannten sie nur die paar reichen Städte, die dem Träger des Kaisertitels einen glänzenden Empfang und Aufenthalt bereiteten, um gleichzeitig seine Anwesenheit zu gründlicher Schröpfung der zu den Festen und Reichstagen heranströmenden Gäste zu benutzen. Nur in den wohlhabenden und kulturell fortgeschrittenen Gegenden des deutschen Südens und am Rhein ließ sich das Oberhaupt des Reiches einmal sehen; in den armen Strichen des deutschen Nordens kannte man es nicht. Franz von Frankreich, der sich um die Kaiserkrone bewarb, kannte nicht einmal die deutsche Sprache und dem Enkel Maximilians, Karl von Spanien, war sie direkt verächtlich. Er und seine Umgebung redeten wallonisch, der deutschen Sprache war er »nit bericht«.
Wenn die nach der Kaiserwürde lüsternen Herrscherhäuser diese Würde nur um bestimmter persönlicher oder dynastischer Interessen willen begehrten, so sprachen bei den zur Kaiserwahl berechtigten Kurfürsten erst recht keine nationalen oder sozialen Volksinteressen mit, sondern eben auch nur ihre persönlichen Interessen. Einem der Bewerber mußten sie ihre Stimme geben, und da sie sehr gut zu taxieren wußten, wieviel demselben die Würde eines »römischen Kaisers deutscher Nation« wert war, so wählten sie den, der für ihre Stimme das meiste bot. Das um die Krone sich bewerbende Herrscherhaus mußte die Kurfürstenstimmen um den Preis aller möglichen Vorteile, die es diesen Territorialherren bot, kaufen. In der Zeit der Naturalwirtschaft verlangten die Kurfürsten Land, als die Geldwirtschaft aufkam und Gold und Silber größeren Wert hatten, wurde bares Geld ihre Losung. Denn die Belastung des Handels durch Wege- und Flußzölle, der Hintersassen durch Abgaben aller Art brachte nur mühsam die Mittel zur Bestreitung des kostspieligen Hoflebens auf. Eine Kaiserwahl aber brachte, wenn man klug diplomatisierte, einen plötzlichen großen Geldstrom an den Hof.
Das gerade in der Übergangszeit von der Natural- zur Geldwirtschaft besonders große Geldbedürfnis der deutschen Fürsten im Verein mit der Rivalität zwischen Habsburg und Valois hatte den Preis der deutschen Kaiserkrone auf eine schier unerschwingliche Höhe hinaufgetrieben. Die ausländischen Unterhändler feilschten und handelten mit den wahlberechtigten Fürsten und versprachen ihnen goldene Berge. Sie nahmen von beiden Häusern Geld und namentlich die beiden Brüder Kurfürst Joachim von Brandenburg und Kurfürst Albrecht von Mainz geberdeten sich dabei als eifrige Handelsleute. Frankreich erkaufte sich Joachims Stimme. 1517 wurde zwischen beiden der Vertrag von Abbeville abgeschlossen, kraft dessen Kurfürst Joachim sich verpflichtete, die Wahl des französischen Königs zu befördern, wofür die Prinzessin Renata mit dem Sohne des Kurfürsten vermählt werden und eine Mitgift von 150 000 Sonnentalern, ein Jahrgeld von 4000 Livres erhalten sollte, außerdem übernahm der Kurfürst für 8000 Livres Jahrgeld Werbungen auf Kosten des Königs. Mit Albrecht von Mainz kam ein ähnlicher Vertrag zustande. Im Sommer des nächsten Jahres fielen aber die beiden Brüder um; Kaiser Max, der Habsburger, wirkte für Albrecht den Kardinalshut in Rom aus, dem Brandenburger bot er die Hand seiner Enkelin, der Infantin Katharina, für den Sohn und 400 000 Gulden Mitgift »als Ehegeld und Schmuck«; der vierte Teil dieser Summe sollte sofort vom Handelshause Fugger ausbezahlt werden. »Der Markgraf kostet viel,« schrieb Kaiser Max nach Spanien, »aber seine Habgier ist meinem Enkel vorteilhaft, durch sie gelangt er zu seinem Ziel.« (Mehring.)
Nur der Kurfürst von Sachsen, Friedrich (Bild 207), machte eine Ausnahme. Die reichen Erz- und Silberbergwerke im Erzgebirge, deren Ertrag an Bergzehnten, Schlagschatz, Stollenneuntel, Hüttenzins usw. den Herren von Sachsen ungeteilt zufloß, füllten ihm allezeit die Tasche, so daß er stolz über die Provisionen lachen konnte, mit denen sich die Bewerber um die Kaiserkrone die Kurfürstenstimmen erkauften. Hatten ihm die Kurfürsten, lüstern nach seinen Schätzen, doch schon selbst die Kaiserkrone angeboten. Er schlug sie aus. Für einen spanischen oder französischen Herrscher hatte der Titel Bedeutung, einem Territorialherrn, der nur innerhalb Deutschlands Besitz hatte, war sie ohne Wert. Kurfürst Friedrich agitierte für die Wahl eines Habsburgers, nicht etwa weil ihn sein kapitalistischer Überfluß zu einem Engel idealer Selbstlosigkeit gemacht hätte, sondern eben auch aus persönlichen Interessen. Brauchte er kein Geld, so verlangte er dafür größere Unabhängigkeit. Er wollte auf seinem Territorium unabhängiger Eigentümer und Herrscher sein, dem gegenüber die auswärtigen Machthaber, Papst und Kaiser, keinerlei wirkliche Oberhoheit hatten. Das war das Streben des sächsischen Fürsten. Und in diesem Streben fand er Unterstützung und Bundesgenossenschaft bei allen fürstlichen Territorialherren Deutschlands, die ebenfalls nach Unabhängigkeit auf ihrem Grund und Boden strebten. Das Fürstentum erhob kraftvoll sein Haupt, für den internationalen Papst wie den internationalen Kaiser gleich gefährlich.
Während der Wahlkaiser wenigstens etwas einbrachte und gelegentlich von Nutzen war, kam das Fürstentum in immer schärferen Gegensatz zur Papstkirche. Mitten zwischen den Landgebieten der Fürsten lag der Besitz der Kirche: die Erzbistümer, Bistümer, Abteien, Pfarreien, Kirchen und Klöster. Die größten Landkomplexe, die herrlichsten Anlagen gehörten ihnen, im Norden wie im Süden (Bild 204), im Osten wie im Westen. Den fettesten Boden hatten die geistlichen Pfründner seit altersher. Zu dem Besitz an Grund und Boden kamen die enormen Geldmassen, welche die Kirche durch Ablaß und Abgaben aller Art aufsaugte. Mit Neid sahen die Fürsten den Papst das Geld aus dem Lande schleppen, um welches sie selbst gerne ihre braven Untertanen besteuert hätten. Solange Papst und Kirche politische Bedeutung gehabt hatten, war der kirchliche Besitz seitens der Fürsten im großen und ganzen unangetastet geblieben. Jetzt aber, da man Papst und Kirche nicht mehr nötig hatte, richteten sich die beutelüsternen Blicke des Fürstentums auf das reiche Kirchenland; der Investiturstreit Gregors, die pseudo-isidorischen Dekretalen, die angebliche konstantinische Schenkung an die Kirche, das alles wurde jetzt an den Fürstenhöfen besprochen und mächtig regte sich der Appetit, die Papstkirche zu expropriieren, das Kirchenland dem eigenen Besitz einzuverleiben. Es fehlte nur noch der äußere Anlaß zu dem waffenklirrenden Angriff auf den kirchlichen Besitz.
Diese Stimmung der Fürsten fand auch ihren Ausdruck in den Gelehrtenkreisen, die ja überhaupt von der höfischen Gunst abhängig waren. Das Zentrum dieser Gelehrtenkreise war Wittenberg, woselbst der sächsische Kurfürst Friedrich, die Seele der fürstlichen Opposition gegen Rom, 1502 die Universität gegründet hatte. An dieser Universität befand sich Luther als der besondere Schützling Friedrichs.
Während die Fürsten auf Vermehrung ihres Besitzes und ihrer Macht sannen, steigerte sich auch die Erbitterung des niederen Adels und der Ritterschaft bis zu offener Rebellion. Nur daß deren Erbitterung sich nicht bloß gegen die Kirche, sondern zugleich gegen Fürsten, Pfaffen und Städte richtete. Die Expropriation, welche die Fürsten an der Kirche noch nicht gewagt hatten, hatten sie am Kleinadel längst geübt. Die in ihrem Gebiete liegenden kleinen Baronien hatten sie aufgesaugt und die kleinen adligen und ritterlichen Besitzer unter ihre Botmäßigkeit gebracht. Die Steigerung der fürstlichen Zentralgewalt wäre nicht möglich gewesen ohne die gleichzeitige Vernichtung der Herrenrechte des kleinen Adels. Und der Widerstand des Kleinadels war nutzlos, denn gegen die stehenden Heere der Fürsten, gegen die Gewalt ihrer Artillerie konnten sie sich weder mit ihrer Handvoll Waffenknechte noch mit ihren Burgen halten. Die Schutz- und Schirmgelder, welche früher die Städte, die Verkehrszölle, welche die Kaufleute für ihre Warentransporte an den kleinen Raubadel entrichtet hatten, waren auf die Fürsten übergegangen, die dergestalt auch immer mehr alle wirtschaftliche Macht in ihren Händen zentralisierten, zum Schaden des Kleinadels. Die Kirche mit ihrem riesigen Landbesitz, ihren enormen Einkünften, ihrem ausländischen Oberhaupte, dem Papste, haßte der Kleinadel fast noch mehr als die Fürsten und mit den Städten, denen er verschuldet war, und die er nicht mehr wie früher bedrücken und plündern konnte, lag er in beständigem Kampfe.
Aber auch die bürgerliche Opposition in den Städten gegen die verlotterte, ausbeuterische Gemeindeverwaltung seitens der patrizischen Geschlechter einerseits, gegen die Pfaffenherrschaft andererseits wurde immer lebendiger und erhob laut und rücksichtslos ihre Stimme.
So standen die Dinge, als 1519 plötzlich Kaiser Maximilian starb und damit die Kaiserwahl in unmittelbare Nähe rückte. Die nach der Kaiserkrone strebenden beiden mächtigsten Herrscher in Westeuropa ließen durch ihre Agenten unter den deutschen Kurfürsten durch Haufen Geldes werben. Schließlich wurde am Wahltag zu Frankfurt am Main Karl von Spanien als Karl V. gewählt. Seine Wahl kostete ihn insgesamt 852 189 Gulden, nach zuverlässigen Anhaltspunkten. (Rösler.) Aber nicht bloß sein Geld entschied, sondern auch die erbitterte Stimmung der Bevölkerung über die würdelose Käuflichkeit der meisten Kurfürsten und – das Heer Sickingens, welches vor den Toren von Frankfurt lag.
Auf den Personenwechsel in der obersten Reichswürde waren von allen Seiten Hoffnungen gesetzt worden. Die verschiedenen politischen Interessengruppen erwarteten einen Umschlag der Dinge in ihrem Sinne. Daher begann mit der Kaiserwahl eine allgemeine literarische Agitation, die hauptsächlich ihre Spitze gegen den gemeinsamen Feind: das internationale Papsttum richtete. Am rührigsten erscheint die ritterliche Opposition durch ihren genialen Vertreter Ulrich von Hutten. Im April 1520 ließ dieser mehrere lateinische Dialoge wider das Papsttum erscheinen, die einen rücksichtslosen Kampf gegen das Papsttum eröffneten. Der schärfste dieser Dialoge war die » Trias Romana« (römische Dreifaltigkeit), so genannt weil allemal drei Dinge zusammengestellt wurden: »Drei Dinge erhalten Rom bei seinen Würden: das Ansehen des Papstes, die Gebeine der Heiligen und der Ablaßkram+… Drei Dinge sind ohne Zahl in Rom: gemeine Frauen, Pfaffen und Schreiber+… Drei Dinge begehrt jedermann in Rom: kurze Messen, altes Gold und wollüstiges Leben+… Drei Dinge bringen die Pilger aus Rom mit: unreine Gewissen, einen bösen Magen und leere Beutel usw. Wie ätzende Lauge spritzte diese und andere Satire auf den Prunkmantel der Papstmacht und brachte alle Kreise in Bewegung gegen das Zentrum der politischen und sozialen Unterdrückung: gegen Rom. Von allen Seiten stand gegen den Papst ein Chorus von Kritikern auf, den die Klasseninteressen der einzelnen politischen Schichten geschaffen hatten.
Auch Luther war um jene Zeit eifrig literarisch tätig. Er sah das Stürmen und Brausen ringsumher und ihm kam noch besonders zustatten, daß er durch seine Verbindung mit dem sächsischen Hof besser als alle anderen mit der Stimmung und den Wünschen des Fürstentums vertraut war. Er wußte, von welchen Absichten die fürstlichen Mächte in bezug auf das reiche Kirchengut beseelt waren. Er selbst hatte Wicleff und Huß eifrig studiert und hatte innerlich längst mit dem Papsttum gebrochen. Eben war ihm eine von Hutten neu herausgegebene Schrift des Laurentius Valla über die konstantinische Schenkung auf den Schreibtisch geflogen, gleichfalls die übrigen kraftstrotzenden Papstschriften des Feuerkopfes Hutten. Aus dieser Stimmung heraus warf er 1520 zunächst seine Schrift: »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« (Bild 208) in die Öffentlichkeit hinaus. Die Schrift zündete wie keine zuvor, nicht weil Luther mit ursprünglicher Kraft neue Bahnen gebrochen hätte, sondern weil er mit klaren, hiebscharfen Sätzen das aussprach, was den Interessen der Fürsten und des Adels entsprach. Mit Wucht griff er das Prunkleben des päpstlichen Hofes an. »Und wir verwundern uns noch, daß Fürst, Adel, Stifter, Städte, Land und Leute arm werden?« Darauf verlangte er, daß die Annatenzahlung an den Papst (die Hälfte der Zinsen des ersten Jahres von jedem geistlichen Lehen) einfach aufgehoben werde, und trat ein für die gänzliche Aufhebung des päpstlichen Bestätigungsrechtes bei geistlichen Ämtern und Aufhebung jeder weltlichen Gewalt des Papstes. An Stelle der Papstgewalt verlangte Luther eine deutsche oberste Kirchengewalt, eine Reorganisation des Klosterwesens unter Loslösung von Rom, Bürger als Pfarrverweser mit dem Recht sich zu verheiraten – also Aufhebung des Zölibats, des Schutzwalles gegen die Verzettelung des Kirchengutes –; weiter wollte Luther dem päpstlichen Hof alle Einkünfte beschneiden durch Aufhebung der Wallfahrten, der Ablässe und Abgaben. Schließlich verlangte Luther die völlige Loslösung der deutschen Universitäten von der römisch-kirchlichen Bevormundung. »Gott gibt uns allen einen christlichen Verstand und sonderlich dem christlichen Adel deutscher Nation einen rechten geistlichen Mut, der armen Kirche das beste zu tun (d. h. dieses Programm durchzuführen): Amen!«
Dieses Programm bedeutete nichts anderes, als daß die ganze bisherige Ordnung über den Haufen geworfen werden sollte; es war die geschriebene »Zerstörung des ganzen hergebrachten Rechtszustandes«. (Janssen.) Denn man muß sich immer wieder vor Augen halten, daß die Papstkirche die Riesenorganisation war, die durch das ganze Mittelalter hindurch die staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse umklammert hatte. »Unter den Händen der Pfaffen blieben Politik und Jurisprudenz, wie alle übrigen Wissenschaften, bloße Zweige der Theologie und wurden nach denselben Prinzipien behandelt, die in dieser Geltung hatten. Die Dogmen der Kirche waren zu gleicher Zeit politische Axiome, und Bibelstellen hatten in jedem Gerichtshof Gesetzeskraft+… Und diese Oberherrlichkeit der Theologie auf dem ganzen Gebiete der intellektuellen Tätigkeit war zugleich die notwendige Folge von der Stellung der Kirche als der allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der bestehenden Feudalherrschaft.« (Engels.) Die Durchführung des Lutherschen Programms war der Zusammenbruch der kirchlichen Organisation. Alles, was seit den Tagen des erbitterten gregorianischen Kampfes für Loslösung des Klerus von der staatlichen Bevormundung und Unterwerfung unter die Papstmacht erreicht worden war, wurde mit einem Schlage wieder vernichtet. Diese deutsche Ketzerei, die in dem wittenbergischen Augustinermönch ihr Haupt sah, übertraf an Gefährlichkeit für das Papsttum alle vorausgegangenen Angriffe auf die Machtorganisation der Kirche. Denn diese Ketzereien waren kommunistischen Charakters gewesen und hatten gleichzeitig die weltliche herrschende Klasse bedroht, daher diese denn auch dem Papsttum bei der Niederwerfung der Ketzer inbrünstig geholfen hatte. Die Luthersche Ketzerei war weit gefährlicher. Sie war von allem Kommunismus frei und kam dem Fürstentum außerordentlich gelegen. Mit Luthers Theorien ließ sich die Wegnahme des Kirchenguts rechtfertigen, auf welche die Fürstengewalt lauerte.
Der beispiellos große Absatz, den die Luthersche Schrift fand, die begeisterte Stimmung, auf welche sie stieß, die wohlwollende Haltung der Fürsten Luther gegenüber bewies denn auch, wie gut der herrschende Adel die politische Bedeutung der Lutherschen Schrift begriff. Ihrem Kern nach waren Luthers Ideen nicht neu; gerade das hatten Fürsten und Adel selbst verlangt. Aber daß ein Angehöriger des Klerus, ein Augustinermönch und Theologieprofessor diese Anschauungen nun gegenüber dem Papst mit radikaler Schärfe verfocht, gab dem Wünschen und Streben der Fürsten förmlich die für jene Zeit so bedeutungsvolle religiöse Weihe! Sie hätten sich nicht so vortrefflich auf ihre Interessen verstehen müssen, wenn sie diesen Mönch nicht vor allen römischen Angriffen beschirmt hätten.
Luther selbst befand sich in der glücklichen Lage für eine Sache zu kämpfen, die in allen Kreisen, von den Fürstenhöfen bis in die Bauernhütten, Sympathien hatte. Das gab ihm Mut zu immer radikalerem Vorstoß gegen die Papstgewalt. Oktober 1520 erschien seine Schrift: »Vorspiel von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche«, unmittelbar darauf die dritte große Schrift: »Von der Freiheit eines Christenmenschen«. Nachdem in der ersten, weitaus bedeutendsten, Schrift die mittelalterliche Kirche als wirtschaftliche und politische Machtorganisation angegriffen worden war, griff Luther in den beiden anderen das Lehrgebäude der Kirche an und versetzte ihrer religiösen Autorität furchtbare Schläge. Speziell in der letzten Schrift von der »Freiheit eines Christenmenschen« setzte er dem mystischen Formelwesen eine freie, volksverständliche, demokratische Auffassung gegenüber, die seine Sache bei allen Gläubigen populär machen mußte. Ungemein geschickt hatte er diese seine radikale Proklamation hinausgeschleudert. Zuerst den wirtschaftlichen Teil, mit welchem er sofort Fürsten und Adel, die kampfbereit der Papstkirche gegenüberstanden, für sich gewann. Sie mußten sehen: was Luther wollte, war ihre Sache. Dann erst kam seine theoretische Auseinandersetzung mit dem Klerus, die sie nun auch als ihre Sache betrachten mußten. Luther triumphierte. Der von den Römlingen verachtete Mönch stand jetzt an der Spitze des oppositionellen Deutschland gegen den Papst!
Diese Papstmacht ward nun zum Handeln gedrängt. Sich gegenüber dem ketzerischen Mönch, der in seinem Lande – dem bisher besten Lande des Papsttums! – eine ungeheure Popularität gewonnen hatte und der gegen Kirche und Papst die furchtbarsten Schläge führte, hinter dem Mönche, Fürsten und Rittertum, Städte und Volk, in offener Rebellion gegen die durch Jahrhunderte geübte Herrschaft des Papsttums und bereit der Kirche Land und Besitz zu entreißen – solcher Sachlage gegenüber konnte es für den Papst kein Besinnen mehr geben, er mußte seinen Gegner zu Boden schmettern. Alle »Papisten« in Deutschland, insbesondere Luthers Gegner, Dr. Eckh, drängten den päpstlichen Stuhl, Luther durch den Bann zu vernichten. Allein die Politiker am Papsthofe, vorsichtig geworden durch ihre vorherigen Niederlagen, wußten besser als diese Fanatiker, daß der Bannfluch unter den gegebenen Umständen gar keine Folgen für den Gebannten, wohl aber höchst schlimme Folgen für das Ansehen der päpstlichen Macht haben mußte. Konnte die päpstliche Justiz den Ketzer nicht selbst in die Hände bekommen, so war die Verfluchung und Bannung gefährlich. Wie, wenn die Landesmacht ihn auch ferner schützte? Wenn der Gebannte ganz unangefochten blieb? Wenn die gährende Opposition in Deutschland ihn mit Ehren und Beifall überhäufte? Dann war die Ohnmacht des päpstlichen Stuhles vor aller Welt offenbar, des Papstes Autorität mußte den schwersten Stoß erleiden und das in Deutschland lodernde Feuer ergriff vielleicht gar die anderen Länder.
Gleichwohl mußte etwas geschehen und so kam denn eine Halbheit zustande. Papst Leo X. erließ eine Bulle, welche die grandiose Sprache der Päpste auf dem Gipfel ihrer Macht redete, um hernach, ein deutlicher Beweis der Ohnmacht, mit einem Kompromiß zu enden. Die Bulle begann mit den Worten des 74. Psalms: »Erhebe dich, Herr, und richte deine Sache; gedenke der Schmach, die dir von den Toren widerfährt den ganzen Tag.« Neige dein Ohr zu unseren Bitten, fuhr der Papst fort, denn die Füchse wollen deinen Weinberg verwüsten. Ein Eber aus dem Walde sucht ihn zu zerstören, ein wildes Tier weidet ihn ab+… Die ärgste Ketzerei erhebe in Deutschland ihr Haupt. Es sei die Pflicht des Papstes nicht länger zu schweigen und die Verbreitung des pestartigen Giftes nicht länger zu dulden+… Nun wurden 41 Sätze aufgezählt, in denen sich Luther der Ketzerei schuldig gemacht hatte, seine Hinneigung zu den Hussiten wurde getadelt und nachdrücklich der Satz festgestellt, daß den Ketzern, dem Willen des heiligen Geistes nach, der Scheiterhaufen gebühre. Dann aber lenkte Leo ein – dieweil er wohl Holz zum Scheiterhaufen, nicht aber den Ketzer hatte – und betonte, daß er bereit sei, aller Beleidigungen gegen seine Person und den Papst nicht zu gedenken, die höchste Nachsicht zu üben und den Bruder Martinus womöglich auf dem Weg der Milde zur Einkehr in sich selbst und zum Aufgeben seiner Irrtümer zu bestimmen. Wenn er aber binnen 60 Tagen nicht widerrufe, so solle er als ein hartnäckiger Ketzer und verdorrter Ast von der Christenheit abgehauen werden; alle christlichen Gewalten sollen sich seiner bemächtigen und ihn in die Hände des Papstes liefern! (Bild 212.)
Wie mögen den Kardinälen, die auf dem prunkenden Landsitz des Papstes zu Malliano diese Bulle in langer Beratung abfaßten, in Wut die Hände gebebt haben, daß das Papsttum, welches gewohnt war, seinen Feinden mit dem Scheiterhaufen zu antworten, seine Ohnmacht kümmerlich hinter dem Tone väterlicher Betrübnis verstecken mußte. Und doch blieb kein anderer Weg. So ohnmächtig war der hochmögende Papst gegenüber dem armseligen Augustinermönch, daß er sich aus Furcht vor einer sicheren Niederlage nicht einmal mehr getraute, vom sächsischen Kurfürsten offen die Auslieferung Luthers zu verlangen. In einem Handschreiben ermahnte er vielmehr Kurfürst Friedrich, »seine Pflicht gegen den apostolischen Stuhl zu erfüllen«, den Wunsch nach Auslieferung mußte der Kurfürst zwischen den Zeilen lesen.
Weil die Bulle, trotz aller Verklausulierung, die Ohnmacht des Papstes zu deutlich zeigte, hatte sie in Deutschland wenig Erfolg. Ja, sie wurde offen verhöhnt. Der Papstmacht war das Henkerschwert gegen die Ketzer entwunden, so verhallten denn auch die frommen Flüche im Winde, ohne ein Echo zu erwecken. Alle Denkenden freuten sich, wie die Aufnahme der Bulle vor aller Welt den Zusammenbruch der Papstmacht demonstrierte. Nur der Betroffene selbst, Luther, schwankte, unschlüssig, was er zu tun habe. Er appellierte wieder und wieder an den Kaiser um »ein frei christlich Konzilium«, vor dem er seine Sache anstatt vor dem Papst verteidigen wolle, und setzte sich durch sein Zaudern beinahe selbst ins Unrecht, während die Sendlinge des Papstes alles daran setzten, die kaiserliche Reichsmacht zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Luthers Sache wäre hundertmal zugrunde gegangen, wenn sie nur an ihm gehangen hätte, aber die weit radikalere Stimmung der gesamten Volksmasse im Zusammenhang mit dem papstfeindlichen Interesse der Fürsten trug Luther siegreich empor. Der Mönch wurde von der allgemeinen Strömung dazu gedrängt, gänzlich mit dem Papste zu brechen und seinem Volke ein politischer Führer zu werden. Das erstere tat er endlich, als der Zusammenbruch der Papstmacht sich einem jeden gezeigt hatte, aber vor dem letzteren wich er scheu zurück, aus Besorgnis, die Protektion der sehr realen fürstlichen Landesmacht einzubüßen.
Die Legaten des Papstes ergriffen, da sie den Ketzer selbst nicht hatten, überall seine Schriften und überantworteten sie feierlich dem Feuer. Ein bequemes Mittel der »Widerlegung«! Wenn Luther länger dazu schwieg, mußte dies den Eindruck der Furcht oder der Reue erwecken, beides gleich gefährlich für seine Sache. Ende des Jahres 1520, am 10. Dezember, raffte er sich deshalb zu einer Tat auf und beantwortete das Feuer mit dem Feuer. Durch einen Anschlag am Universitätsgebäude forderte er die »fromme studierende Jugend« auf, sich zu versammeln, »um neun Uhr außerhalb der Stadtmauer bei der Kirche des heiligen Kreuzes, wo nach altem und apostolischem Brauche die gottlosen Bücher der päpstlichen Konstitutionen und der scholastischen Theologie verbrannt werden sollen; denn so weit ist die Verwegenheit der Feinde des Evangeliums vorgeschritten, daß sie die frommen und evangelischen Bücher Luthers verbrannt hat.« Der Anschlag rief denn auch die ganze Studentenschaft der Wittenbergischen Universität vor das Elstertor, wo Luther auf einem Scheiterhaufen die päpstlichen Rechtsbücher verbrannte und, als die Flamme emporschlug, die päpstliche Bulle mit den Worten hineinwarf: »Weil du den Heiligen des Herrn betrübt hast, so verzehre dich das ewige Feuer!« Dann kehrte er »mit der Menge der Doktoren und Magister und anderen Genossen der Universität« wieder nach Wittenberg zurück, während die Studentenschaft vor dem lodernden Holzstoß mit jugendlichem Ungestüm die literarischen Feinde Luthers verhöhnte.
Aber diese von der lutherischen Geschichtsschreibung über den Schellendaus gepriesene Tat hat keineswegs die ihr beigelegte große Bedeutung. Es war keine kühne Herausforderung, sondern nur die durch das Auftreten seiner Gegner erzwungene Antwort auf das Verbrennen seiner eigenen Schriften. Luther konnte gar nicht anders, wenn er seine Position nicht schwer schädigen wollte.
So hatte er sich denn öffentlich vom Papst losgesagt, indem er den Scheiterhaufen mit dem Scheiterhaufen beantwortete.
Freilich konnte nun auch die Papstmacht nicht anders, als zum letzten Mittel zu greifen und den gefährlichen Häretiker in den Bann zu tun. Am 3. Januar 1521 sprach der Papst feierlich diesen Bann aus. Nun wäre der Prozeß Luther für den päpstlichen Stuhl zu Ende gewesen; auf den Bann des Papstes hätte die Acht des Kaisers, die Verhaftung des Gebannten und sein Tod auf dem Scheiterhaufen folgen müssen. Aber es geschah nichts dergleichen; der Papst war nicht mehr der Herr der Erde, seine Bannflüche hatten keine politische Bedeutung mehr.
Zu seinem Teile hätte Karl V., der eben als deutscher Kaiser ins Land gekommen war, gewiß gerne einen Ketzer geschmort; er war bigott genug dazu. Ein internationaler Herrscher gleich dem Papst, stand er dem durch die ökonomische Entwicklung bewirkten nationalen Zusammenschluß der einzelnen Länder, vor allen Deutschlands, ebenso feindselig gegenüber wie der römische Stuhl. Wer dem Papst »Häretiker« war, war dem Kaiser »Umstürzler« und »Volksaufwiegler«. Allein die Kaisermacht war zu klug, der Papstmacht die Kastanien aus dem Feuer zu holen und sich dabei die Finger zu verbrennen. Karl V. hatte genug mit der Verteidigung seiner eigenen Position zu tun, die er mit so schweren Geldopfern errungen hatte, und seine Räte wußten zu gut, daß der wittenbergische Augustinermönch durch die Verkettung politischer und sozialer Umstände der persönliche Ausdruck der fürstlich-ritterlich-bürgerlichen Opposition in Deutschland geworden war. Ja, wenn er von dieser losgelöst gewesen wäre, hätte man wohl wenig Umstände mit ihm gemacht! So aber war es gefährlich, ihm an den Kragen zu gehen. Die deutsche Opposition hätte die Hinrichtung des Mönches als das Signal zu einem Angriff auf sich selbst auffassen müssen. Der Scheiterhaufen Luthers wäre der Ausgangspunkt einer nationalen Revolution gegen die brüchige internationale Zentralgewalt von Kaiser und Papst geworden.
Jedoch den vom Papst verfluchten Rebellen gänzlich unbehelligt zu lassen, ging ebenfalls nicht an, wenn nicht die Autorität der höchsten Gewalten einen zu schweren Stoß erleiden sollte. Für den vom Papst beendeten Prozeß Luther, dessen schließliches Urteil an dem Angeklagten nicht vollzogen werden konnte, wurde deshalb eine neue Instanz geschaffen. Die kaiserliche Reichsmacht lud den Ketzer vor den Reichstag nach Worms.
Auf diesem Reichstag war es zu einem heftigen Zusammenprall zwischen der deutschen Opposition aller Schichten und der kaiserlichen Zentralgewalt gekommen.
Der deutsche Reichstag, ohne dessen Zustimmung der Kaiser keine Handlung von Wichtigkeit unternehmen konnte, war eine Klassenvertretung der herrschenden, Aristokratie. Den Kern bildeten die Kurfürsten. Neben ihnen hatten die Fürsten, Fürstbischöfe, Fürstäbte, Herzöge, fürstenmäßige Grafen Sitz und Stimme. Hunderte von nicht fürstenmäßigen Grafen und Herren, Tausende von Rittern waren ohne geordnete »Reichsstandschaft«. Dieser Adel sah voll Erbitterung zu, wie über seine Köpfe hinweg das Fürstentum die Reichsangelegenheiten nach seinen persönlichen Interessen entschied und dem kleinen Herren- und Ritterstande von seinen alten Rechten eines nach dem anderen expropriierte. Aber auch der Fürstenstand schied sich nach seinen weltlichen und geistlichen Sonderinteressen. Man rechnete, daß auf den Reichstagen etwa dreißig weltliche und fünfzig geistliche Fürsten zu erscheinen berechtigt seien. Schließlich hatten im Reichstage noch die freien »Reichsstädte« – etwas über achtzig Städte – Sitz und Stimme, so daß also neben dem fürstlichen Großgrundbesitz auch die Geld- und Handelsaristokratie, das Patriziat der Städte seinen Einfluß – einen vermöge des Geldes großen Einfluß! – geltend machen konnte. Das Volk war gänzlich ohne Vertretung. Dieser Reichstag war eine ebenso eigensüchtige, vom beschränktesten Klasseninteresse geleitete, als auch schwerfällige Körperschaft. Denn die einzelnen Reichstagsmitglieder erschienen, ihrer Stellung entsprechend, mit Gefolge; die Fürsten mit Reisigen, Räten und Schreibern, die Städtevertreter mit Rechtsgelehrten, Finanz- und Kriegsleuten, so daß ein Aufenthalt beim Reichstage sehr kostspielig war (Bild 209). Wurde nun den Anwesenden infolge der Länge der Verhandlungen der Unterhalt zu kostspielig, so reisten sie wohl vorzeitig ab. Darunter litt das Zustandekommen und die spätere Ausführung der Beschlüsse. So wird bezüglich des »gemeinen Pfennigs« geklagt, »es ist damit allein bei den Worten verblieben und das Werk nicht erfolget, weil die Abwesenden nicht darein bewilligen, die Gegenwärtigen es allein nicht tun wollten«. (Brückner.) Die Vertretung herrschender Klasseninteressen hat immer den gleichen Charakter. Nur wenn das Interesse der eigenen Habsucht gewahrt werden muß, ist sie in Bewegung zu bringen.
Ein solches Klasseninteresse, und zwar ein fürstliches, machte sich jetzt wieder geltend. Die Fürstenpartei, an ihrer Spitze der sächsische Kurfürst Friedrich, trat mit dem Verlangen eines »ständischen Reichsregiments« an den jungen Kaiser heran. Aber dieser ständische Gedanke hatte nichts Demokratisches, Volkstümliches. Er wollte nicht eine Vertretung des Volkes, sondern eine straffe Zentralisation der Macht der fürstlichen Territorialherren zum Zwecke der gänzlich selbstständigen Regierung des Reiches. Der ausländische Titularkaiser sollte noch mehr zu einer Schattenexistenz herabgedrückt werden. An der Spitze des »Reichsregiments« sollte ein unabhängiger Präsident, natürlich ein Kurfürst, stehen, unter ihm ein zwanziggliedriger Regimentsrat, in welchem die kurfürstliche und fürstliche Klasse die Mehrheit hatte, während der Rest der Räte auf die übrigen »Stände«, d. h. die im Reichstage vertretenen herrschenden Interessengruppen entfiel. Das »Reichsregiment« sollte beständig beisammen sein, die »einzig gültige Zentralgewalt« darstellen und sogar die Befugnis haben, »den Anfechtern des Reiches Widerstand zu leisten«. So riß das Reichsregiment alle Gewalt an sich. Es war die aus der inneren deutschen Entwickelung gezogene politische Konsequenz der herrschenden Klasse. Die Fürsten schwangen sich nun auch zu Herren des Reiches auf und wollten seine Regierung gänzlich nach ihrem Interesse einrichten. Sie waren ökonomisch soweit erstarkt, daß der Wahlkaiser für sie überflüssig geworden war. Den Einspruch der Papstgewalt wie der Kaisergewalt empfanden sie als gleichmäßig lästig und arbeiteten auf ihre Beseitigung hin.
Gegenüber der Kaisergewalt kamen sie aber zunächst nur teilweise zu ihrem Ziele. Das Haus Habsburg setzte sich gegenüber den bedrohlich erstarkenden kleineren Fürstenhäusern, die ihm das Regiment aus den Händen winden wollten, mit Macht zur Wehr. Es kam ein Kompromiß zustande, und das Reichsregiment erhielt einen provisorischen Charakter, so daß die fürstliche Landesmacht auch weiterhin der Kaisermacht abwartend gegenüberstand.
Mit dem Reichsregiment wurde auch das Kammergericht oder oberste Reichsgericht erneuert. Das römische Recht hielt seinen von langer Hand vorbereiteten Einzug in Deutschland; das corpus juris verdrängte das volkstümliche deutsche Recht. Dann ging der Reichstag dazu über, dem Faust- und Raubrecht der Tausende kleiner Herren, weil es der kapitalistischen Entwickelung, dem Handel und Verkehr im Wege stand, mit einem Ruck den Hals umzudrehen. Ein allgemeiner Landfrieden wurde verkündigt, dergestalt, »daß von Zeit dieser Verkündigung niemands, von was Würden, Staats oder Wesens er sei, den anderen bevehden, bekriegen, berauben, fahen, überziehen, belagern, auch dazu durch sich selbst oder jemands anders von seinen wegen nicht dienen, noch auch einig Schloß, Stadt, Markt, Befestigung, Dörfer, Höfe oder Weiler besteigen, oder ohne des andern Willen mit gewaltiger Tat freventlich einnehmen oder gefährlich mit Brand oder auf andere Wege dermaßen beschädigen soll«. Als Strafe für jeden, der diesen Landfrieden breche, wurde die Reichsacht und Einziehung seiner Lehen festgesetzt (Bild 211). Während also die fürstlichen Landesmächte ihre eigenen Rechte nach Kräften mehrten und sich nach oben hin zu Herren des Reiches aufschwangen, rissen sie nach unten hin dem ganzen kleinen Herrentum den Boden unter den Füßen weg. Denn dieses nährte sich von der blutsaugerischen Plackerei und Chikaniererei des vordringenden Kapitalismus und wurde von dem Augenblick, da ihm dies unmöglich gemacht ward, gezwungen, von der Gunst des Landesfürsten Gnadenbrot zu essen. Es war der Kampf des Großbetriebs gegen den Kleinbetrieb ins Politische übersetzt, wobei der Großbetrieb den Kleinbetrieb aufsaugte.
Als in diese widerstreitenden Interessen am 16. April 1521 die Ankunft Luthers in Worms fiel, kam dieser Luther nicht gleich Johannes Huß als ein verlorener Mann, sondern als ein halber Sieger, den hundert starke Arme stützten und schützten. Die Fürsten und der ganze fürstenmäßige Adel wußten wohl, was ihnen die Sache Luthers wert war. Was der Reichstag ihnen vor der kaiserlichen Macht erkämpfen sollte: politische Unabhängigkeit, das erkämpfte ihnen nach Lage der Umstände Luther vor der päpstlichen Macht. Die Niederlage Luthers wäre ihre eigene Niederlage gewesen. Mit allem Eifer nahmen sie sich deshalb des gebannten Mönches an. Hundert Reisige brachten Luther vor die Tore von Worms, im Quartier seines Landesherrn erhielt er Wohnung, nach seiner Ankunft gingen viele Herren, um ihn zu sehen, und mit zehn oder zwölf von ihnen nahm er das Frühstück ein. Treffend charakterisiert Thomas Münzer Luthers Lage in Worms, indem er in seiner »Hoch verursachten Schutzrede« 1524 über Luthers Rühmen spottet: »Über deinem Rühmen möchte einer wohl entschlafen vor deiner unsinnigen Torheit, daß du zu Worms vor dem Reich gestanden bist; Dank hab' der deutsche Adel, dem du das Maul also wohl bestrichen hast und Honig gegeben; denn er wähnte nicht anders, du würdest mit deinem Predigen behaimische Geschenke geben, Klöster und Stifte, welche du jetzt den Fürsten verheißest. So du zu Worms hättest gewankt, wärest du eher erstochen vom Adel worden als losgegeben; weiß es doch ein jeder.«
Luther und die Fürsten waren zunächst gleichmäßig siegeszuversichtlich. Hatte die Fürstenpartei dem Kaiser in allen politischen Machtfragen siegreich die Stirn geboten, so glaubte sie erst recht, auch in dieser Frage eine ihr günstige Entscheidung zu ertrotzen. Aber in der Zwischenzeit hatten die päpstlichen Legaten mit Hochdruck gearbeitet und dem Kaiser klar gemacht, daß, ließe er diesen Ketzer los, nicht bloß der päpstliche Stuhl einen Stoß bekomme, sondern auch alle Lande des Kaisers durch die Ketzerei bedroht würden. Die beiden Weltmächte, Papsttum und Kaisertum, fanden sich zur Verteidigung ihrer Interessen zusammen. Der Kaiser nahm sich jetzt, da er sich selbst bedroht fühlte, der Sache gegen den Ketzer Luther mit ebensolchem Eifer an, wie er ihr zunächst mit Lauheit gegenübergestanden hatte.
Luther und die Fürstenpartei standen gehobenen Mutes um den Kaiser. Beide erwarteten eine Disputation über Luthers Ketzereien, wobei die Fürsten hofften, daß der Kurie auf dem Resonanzboden des Reichstages durch Luther schwere Anklagen ins Gesicht geschleudert werden würden. In diesem Sinne war Luther ermuntert worden, und er hatte siegreich lächelnd den Saal betreten. Um so bestürzter war er, als des Kaisers Offizial ihn kurzweg zum Bejahen oder Widerrufen seiner Ketzereien aufforderte. Er erbat sich Bedenkzeit »mit fast niederer, gelassener Stimme, daß man ihn auch in der Nähe nicht wohl hören mochte«. (Alexander.) Diese Bitte kam der Reichsversammlung unerwartet, den Kaiserlichen und Päpstlichen, weil sie sich wohl irgend eines Schachzugs versahen; den deutschen Fürsten, weil sie von Luther ein kräftiges Losschlagen erwartet hatten, während seine demütige Bitte wie ein halber Widerruf klang. Es gab daher erregte Kommissionsberatungen; dann wurde dem Ketzer die Bedenkzeit als besondere kaiserliche Gnade gewährt. So schloß das in fiebernder Spannung erwartete Auftreten Luthers am ersten Tage mit allgemeiner Enttäuschung.
Dafür ward nun der zaudernde Mönch in seinem Quartier von den Adligen um so nachdrücklicher bearbeitet, was zur Folge hatte, daß er am nächsten Tage fest und entschlossen vor die Reichsversammlung hintrat. Er verlangte in längerer Rede, die er erst lateinisch, dann deutsch hielt, »daß man ihm beweise, daß seine Sache böse sei.« Alsdann wolle er widerrufen. Luther versuchte also auf einem Umwege in die abgeschnittene theologische Diskussion hineinzukommen. Doch gerade das wollten die Päpstlichen vermieden sehen, einmal weil sie daran festhielten, die Kirche allein sei der Reichsstuhl zur Entscheidung religiöser Streitfragen, zum andern, weil sie den üblen Eindruck auf das Volk fürchteten, wenn die Volksausbeutung durch den Klerus geschildert werde. So wurde der Redner denn zur Sache gerufen und der Offizial stellte ihn wieder vor glatten Widerruf. Derart in die Enge getrieben, aus der es kein Entrinnen gab, verweigerte Luther in einer Schlußerklärung mit überzeugungstreuer Festigkeit den Widerruf. »Gott helfe mir. Amen.«
Es wird immer so dargestellt, als ob diese Erklärung Luthers, »die Geburtsstunde des Protestantismus als einer weltgeschichtlichen Macht,« klangvoll hinausgeschleudert, einen überwältigenden Eindruck hervorgerufen habe. Doch hat sich der Vorgang weit prosaischer abgespielt. Das pathetische: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders+…« hat Luther nach zuverlässigen Berichten überhaupt nicht gesprochen; »Gott helfe mir. Amen«, diese gebräuchlichen Worte waren sein trockener Schluß einer einfachen Erklärung. Klassenvertretungen, die nach nüchternen Interessenerwägungen entscheiden, sind nicht durch eine Rede umzustimmen und vollends gegen das hallende Pathos unempfindlich. Auch der Reichstag, auf dem überdies die Militärs überwogen, ward bald abgestumpft gegen die langathmigen lateinischen und deutschen Erklärungen. Während Luther noch seinen Schluß sprach, standen schon alle »vor Lärm und Hitze ermattet« und »schickten sich an, den Saal zu verlassen.« In der Unruhe stritten Luther und der Offizial noch über die Konzilien, als der Kaiser den Befehl gab, abzubrechen; er wolle nicht weiter hören. Hinter dem Zischen und Höhnen der spanischen Umgebung des Kaisers ging Luther hinaus. »Ich bin hindurch!« rief er, glücklich die Sache hinter sich zu haben und trank dankbar den Krug Eimbecker Bieres, den ihm der Herzog von Braunschweig mit burschikoser Gutmütigkeit hatte reichen lassen.
Auch die Fürstenpartei war zuversichtlich und hoffte, daß, wie ihre Opposition gegen den Kaiser auf dem Reichstage gesiegt hatte, ebenso ihre Opposition gegen den Papst siegreich bleiben werde. Aber gegenüber Luther blieb der Kaiser fest. Die kaiserlichen Räte wußten: diese Ketzersache war die Sache der deutschen Fürsten; drangen diese fürstlichen Territorialherren mit ihrer Opposition gegen die höchste Macht der Erde, den Papst, durch, dann brach auch der Rest kaiserlicher Autorität vor ihnen zusammen, die Kaiserwürde war nur noch ein wesenloser Spuk. Hatte die Fürstenpartei in den inneren deutschen Reichsangelegenheiten einen halben Sieg errungen, so mußte ihr umsomehr in dieser internationalen Machtfrage die starke Faust gezeigt werden.
Als am Morgen des 19. April, in einer Zusammenkunft beim Kaiser, die Fürsten sich Bedenkzeit ausbaten, zu welchem Ende man in dem Prozeß Luther kommen wolle, verkündete der Kaiser als seinen festen Entschluß, daß er die Fürsten auffordere, ihm, nach Ablauf des freien Geleits, den Häretiker Luther auszuliefern. Ferner solle jeder Landesherr, welcher dem Häretiker anhänge oder ihm in seinem Gebiet Hilfe, Gunst, Aufrechterhaltung und Wohnung gewähre, ebenfalls für einen Häretiker angesehen werden.
Damit war nun freilich die Sache Luther auf eine Bahn gekommen, die es begreiflich macht, daß viele der anwesenden Fürsten »bleicher wurden, als wenn sie tot wären.« Von ihrem lokalen Gesichtspunkte aus ihre Kraft überschätzend, hatten sie sich doch zu dicht an die internationalen Mächte: Habsburg und das Papsttum herangewagt, sich zu sehr mit der Sache Luthers identifiziert, und mancher der Fürsten mag in dieser Stunde den Augustinermönch zu allen Teufeln gewünscht haben. In der ersten Bestürzung faßten die Fürsten am selben Tage den Mehrheitsbeschluß, sich in allen Stücken dem Willen des Kaisers zu unterwerfen, Luther also preiszugeben. Dann aber wurden sie stutzig, nachdem sie das höhnische Triumphieren der internationalen Umgebung des Kaisers, der römischen und der spanischen gesehen hatten, die sich baß freuten, den »dummen Deutschen«, den wenig geachteten Territorialherren, einmal die eiserne Faust gezeigt zu haben. Wenn sich die Fürsten derart bedingungslos vor Kaiser und Papst in der Luthersache beugten, mußte ihnen dies zum schweren Nachteil gereichen. Folgenden Tags waren sie deshalb schon wieder anderen Sinnes geworden und suchten nun den Kaiser zu einem vermittelnden Schritt zu bewegen. Zu ihrem Widerstande wurden die Fürsten durch die erbitterte Stimmung des Volkes bestärkt. Vor der Kathedrale, dem Rathause, auf öffentlichen Plätzen, überall konnte man unter den Menschenansammlungen die wilde Wut, von der das Volk in seiner Gesamtheit ergriffen war, beobachten. Soziale Erbitterung gegen die herrschende Ausbeuterklasse mengte sich mit nationaler Erbitterung gegen die voller Hochmuth auftretenden ausländischen Machthaber, welche brutal die Auslieferung des von allgemeinen Sympathien getragenen deutschen Mönches verlangten, bloß weil er ihre Interessen verletzt hatte. Angesichts dieser Volksstimmung wurden selbst die geistlichen Fürsten, schwankend. Der Erzbischof Albrecht von Mainz, der durch den Palliumablaß besonders verhaßt war, fürchtete einen Volksaufstand, auf den heftige Drohungen der Menge hinwiesen. Das gefährdete persönliche Interesse der Fürsten, im Verein mit der Volksverbitterung bewirkte, daß sich die Fürstenpartei nochmals zur Wehr setzte. Unter Führung des sächsischen Kurfürsten Friedrich machten die Stände eine Eingabe an den Kaiser, in welcher sie auf die Gefahr einer »Empörung im Reich« hinwiesen, wenn man »dermaßen geschwindlich ohne Verhör« vorgehen würde. Diese Drohung mit dem Revolutionsschrecken wirkte. Auch in der Prozeßsache Luther mußte der Kaiser, weil er schon in seinen spanischen Landen schwere innere Krisen hatte, aus Furcht vor der Revolution zurückweichen. Des Kaisers Räte fanden für diese neue Niederlage eine schämig deckende Form: eine Frist von drei Tagen, um Luther einem Examen zu unterwerfen, damit er seine Ansicht ändern könne; der Kaiser selbst beteilige sich an dem Examen in keiner Weise, sondern bleibe auf seiner Ansicht stehen. Die im Reichstagsplenum unterdrückte Verteidigung Luthers fand also nachträglich in einer Kommission statt.
Aber auch in dieser Kommission kam es zu keiner Einigung, da der Häretiker, getragen von der Volksstimmung, die ihn hier in Worms mit ihrer ganzen heißen Glut umgab, fest blieb und zu keinem Widerruf zu bringen war. Die fürstliche Opposition aber hatte Zeit einen Beschluß zu fassen. In der Stille kam sie überein, den häretischen Mönch verschwinden zu lassen. Das lag durchaus in ihrem Interesse; sie sicherte sich nach oben und nach unten. Wenn der Häretiker geheimnisvoll verschwand, kam die deutsche Fürstenpartei nicht in die fatale Lage, vor der päpstlichen und kaiserlichen Macht zu Kreuze zu kriechen und ihn ausliefern zu müssen. Andererseits konnte man sie nicht der Auflehnung gegen den Kaiser beschuldigen, die bestanden hätte, wenn sie den Geächteten nicht auslieferte. Der Mönch war verschwunden, niemand wußte wohin und seine Freunde wie seine Feinde konnten dieses Verschwinden bewirkt haben. Aber auch nach unten hin sicherte die Beseitigung Luthers die Fürsten. Sie nahmen der drohenden Volkserhebung, für welche Name und Person Luthers zur Zeit das Losungswort war, den äußeren Anlaß, das sichtbare Zeichen. Luthers Verschwinden stiftete Verwirrung und diese Verwirrung ebbte die brandende Flut ab.
Die »Rettung des Reformators« durch den Kurfürsten Friedrich war also nichts weiter als eine im wohlberechneten Interesse der Fürsten selbst unternommene Handlung, und das schlimmste, was den »Rettern« hätte geschehen können, wäre gewesen – daß Luther sich etwa selbst gegen seine »Rettung« gesträubt und sich an die Spitze des erregten Volkes gestellt hätte.
Daran aber dachte Luther nicht einen Augenblick. »Er blieb ausschließlich kirchlicher Reformer; er verstattete dem Politiker nicht den mindesten Einfluß auf seine letzten Entschließungen.« (Egelhaaf.) Als ihm der Plan der Fürsten zugeraunt worden war, verschwand er eilends von dem heißen Boden Worms', indem er die kaiserliche Erlaubnis zur Heimreise einholte. Die konnte ihm nicht versagt werden. Am 26. April ritt er morgens aus den Toren der Reichsstadt. Hinter ihm her aber hinkte die lahme Reichsacht, welche der Kaiser über ihn verhängt hatte; eine leere Formel, gleich der päpstlichen Bannbulle, weil die politische Kraft zu ihrer Geltendmachung fehlte. Im Mai verbreitete sich dann das Gerücht, daß Luther nicht in Wittenberg angelangt, sondern zehn Tagereisen von Worms in der abendlichen Dämmerung von einer Reiterübermacht überfallen und wahrscheinlich erstochen worden sei. Es waren die Reiter des Kurfürsten Friedrich, die Luther still und schnell auf die Wartburg brachten.
Obwohl sich die Hand des Kurfürsten Friedrich bei dem »Überfall« unschwer erkennen ließ, war diese Sache doch so klug und heimlich angefangen, daß man Luther eine Zeitlang für tot hielt und unsicher war, wer den Streich ausgeführt habe. Doch es zeigte sich zugleich auch, wie diese ganze Volksbewegung in Deutschland, welche die Geschichtsschreibung heute als eine von Luther hervorgerufene und geleitete religiöse Reformbewegung schildert, sich zwar eine Spanne Zeit mit Luthers Namen deckte, dabei aber auf ökonomischen Ursachen beruhte und durch die ökonomische Entwickelung genährt wurde. Wäre Luther der Urheber dieser Bewegung gewesen, so hätte sie mit seinem rätselhaften Verschwinden einschlafen, zumindest aber davon schweren Schaden haben müssen. Doch der Strom brauste weiter und als Luther wieder aus seinem Wartburgversteck hervorkam und sich ihm entgegenstellte, schlugen ihm die Wellen über den Kopf.
Während Luther schwieg, flatterte eine Fülle von Flugschriften durch das Land, meist namenlose Blätter, vom Kampf des Tages geboren und von einer ungeheuren Wirkung auf das Volk, weil sie die deutsche Volkssprache, die das Latein als Schriftsprache siegreich verdrängt hatte redeten. Ulrich von Huttens »Klag' und Vermahnung+…« wurde mit Eifer gelesen. Hutten, der zunächst in Aristokratenabneigung gegen das »gemeine Volk« sich des Latein bedient hatte, schlug hier mit der ganzen Wucht der deutschen Sprache auf die Pfaffen los.
»Latein ich vor geschrieben hab,
Das war eim Jeden nit bekannt;
Jetzt schrei ich an das Vaterland,
Teutsch Nation in ihrer Sprach,
Zu bringen diesen Dingen Rach!«
Eine Flugschrift: »Der Kurtisan und Pfründenfresser« griff mit ätzender Schärfe Papst und Kirche an und geißelte den Ämterkauf und Ämtermißbrauch.
»Der curtisan und pfründenfresser würd ich billich genant
Hie wird meine büeberei bekant
Dem bauren und gemeinen man.
Ich ruef und schrie on abelan
Zuom Adel und aller oberkeit
Besich mich! Du findest guoten bescheit.«
Eine besonders große Verbreitung gewann das Gespräch: »Der Karsthans«. Der Karsthans, ja, das war eben der geplagte Bruder Hungerbauch der Zeit, der Bauer, der mit seiner Karst den Boden bearbeitete. Als er direkt angeredet wurde und seine Not zur Sprache kam, tat dies eine unbeschreibliche Wirkung.
Noch mehr aber als die Flugschrift tat in dieser erregten Zeit die Karikatur. Die Blätter mehrten sich mit jedem Tage und wurden in den armseligsten Lehmhütten der Bauern an den Wänden gefunden.
So wuchs die Bewegung empor. Noch war die allgemeine Papst- und Pfaffenfeindschaft das Band, welches sie zusammenhielt. Aber es ließ sich schon deutlich wahrnehmen, daß dieses Band bald zerrissen und dann die einzelnen Klassen des kämpfenden Deutschland sich scharf nach ihren Interessen scheiden würden.