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Die Häresie. – Die Ketzer. – Kommunistischer Grundton der mittelalterlichen Ketzerei. – Arnold von Brescia. – Die Waldenser, Albigenser. – Kreuzzug gegen die Ketzerei. – »Schlagt alles tot, der Herr erkennt die Seinen!« – Das Ketzergericht in Toulouse. Fünfhundert Lebendigbegrabene. – Segarelli und die Apostelbrüder in Italien. – Fra Dolcino und Margherita v. Trenk. – Die erste kommunistische Revolution im Abendlande. – Die Begharden in Flandern und Brabant und die deutsche Ketzerei. – Papstmacht und Königsmacht in England. – Johann Wiclef. – Die Lollharden. – Wat Tyler und die englische Bauernrevolution von 1381. – Die Lage in Böhmen. – Johannes Huß; Hieronymus von Prag. – Huß und Hieronymus auf dem Scheiterhaufen. – Die Hussitenrevolution; Tabor. – Andere Ketzer: Savonarola, Bruno, Galilei. – Der Index.
Als im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung aus den christlichen Gemeinden sich die Kirchenherrschaft herausgestaltete, zeigte diese auch das Bestreben, zur Festigung ihrer Autorität gegenüber den Laien das christliche Glaubensbekenntnis mit einem eisernen Reif zu umgeben. Denn in seinen Anfängen war das Christentum mit vielen aus dem jüdischen und hellenischen Geiste entlehnten Ideen vermischt. Diese ideelle Unklarheit und Verschwommenheit stand der Entwickelung einer starken kirchlichen Autorität hindernd im Wege. Die herrschende katholische (allgemein gläubige, rechtgläubige) Partei ging deshalb dazu über, alle von ihren Lehrsätzen abweichenden Meinungen als Häresien (Irrlehren) auszuscheiden und zu verdammen. Wer abweichend von ihren Grundsätzen lehrte, galt ihr als Häretiker (Irrlehrer, Irrgläubiger) und wurde als solcher bekämpft (Bild 145). Auf diese Weise zwang die katholische Partei dem Christentum ihre Lehrsätze als maßgebend auf.
Als Häretiker wurden von dieser katholischen Partei zuerst die Gnostiker bekämpft, die Religionsphilosophen in der ersten Zeit der christlichen Kirche. Die Gnosis (Kenntnis, Erkenntnis, tiefere Einsicht in das Wesen der religiösen Gedankenwelt, die nur von einer kleinen Zahl geistig Befähigter sollte erfaßt werden können, im Gegensatze zu dem Autoritätsglauben der nur die symbolische Hülle der Ideen festhaltenden Menge) war die geistige Vermittelung zwischen Heidentum und Christentum. Während die katholische Christenlehre Gott vermenschlichte und ihn den Volksmassen nahe brachte, rückte der Gnostizismus ihn in unnahbare Hoheit. Gott erschien in den gnostischen Lehren immer als der in sich verschlossene, unnahbare und unerkennbare Urquell aller Vollkommenheit und zwischen ihm und dem Endlichen kein unmittelbarer Übergang denkbar. Mit der gnostischen Religionsphilosophie, eben weil sie nur von einem kleinen Kreise geistig Fortgeschrittener erfaßt wurde, hätte die Kirche sich nie die Massen erobern können. Deshalb führte die katholische (rechtgläubige) Partei in allen christlichen Gemeinden gegen die Gnostiker einen heftigen Kampf und wenn deren geistliche Wortführer dem Klerus der sich entwickelnden Kirche auch bedeutend überlegen waren, so siegte der Klerus doch, dank seiner wirtschaftlichen Macht und seiner Fähigkeit, populäre Agitation zu treiben. Der Gnostizismus verschwand schließlich; der Klerus aber übertrug nun seinen Kampf gegen die gnostische Häresie weiter auf alle, die in irgend einem Punkte von den Lehren der katholischen Partei abwichen. Seit Justinus Martyr (geboren um 100, gestorben um 165 als Märtyrer), der an der Spitze der Entwickelung des kirchlichen Dogmas stand, war der Klerus mit rastlosem Eifer tätig, Häresien zusammenzustellen, d. h. jede theoretische Ausgestaltung der christlichen Lehre, die seinen Interessen widersprach, zu unterdrücken. Ende des vierten Jahrhunderts konnte der Kirchenlehrer Epiphanius 80 Häresien aufzählen. Es ist immer derselbe Vorgang. Alles, was dem herrschenden System feindlich ist, wird als »Irrlehre« bekämpft, bis es sich zum Sieg durchgerungen hat. Dann wird die »Irrlehre« feierlich aufs Postament erhoben.
In der Bekämpfung der »Irrlehren« zeigte die Hierarchie gleich anfangs schon ihre Unduldsamkeit. Der Häretiker wurde vom Bischof feierlich exkommuniziert und als Kaiser Konstantin, weil es seinen Interessen entsprach, das Christentum zur Staatsreligion machte, wußten es die Kirchenhäupter durchzusetzen, daß die Häretiker, d. h. alle, die der offiziellen Kirchenlehre des Klerus zu opponieren wagten, direkt vernichtet wurden. Auf das »Verbrechen« der Häresie stand Güterkonfiskation, Landesverweisung, ja sogar der Tod! 385 war die Macht der spanischen Bischöfe schon so groß, daß auf ihr Geheiß der »Häresiearch« Priscillian mit noch sechs seiner Anhänger enthauptet wurde. Duldsamkeit!
Aber die Häresie ließ sich nicht unterdrücken. Ganz im Gegenteil. Je üppiger die Priesterherrschaft in der Kirche emporwuchs, je größer wurde auch die Zahl der Häretiker, sodaß die Kirche gegen sie ein förmliches System der Verfolgung und Vernichtung organisieren mußte, ohne letzteres Ziel jedoch je zu erreichen. Die Häresie wurde der Schatten der Priesterherrschaft, die dauernde Oppositionsbewegung in der Kirche. Sie wechselte ihren Namen, aber ihr Charakter blieb immer derselbe.
Einer der vielen Proteste gegen die immer lebensgefährliche »kirchliche Duldsamkeit« ist auch das große Bild von Holbein (Bild 146). Die römische Kunst hatte die Häretiker stets mit allen verächtlichen Attributen ausgestattet: die Häresie tritt zwar in verführerischer Gestalt auf, aber sie geht auf gespaltenen Tierklauen und steckt in der Haut des dreiköpfigen Ungetüms der Borniertheit, Dummheit und Wildheit (vergl. z. B. Bild 145). Die antirömische Kunst Holbeins verzichtete auf solche komplizierte Symbolik. Die kritische Zeit schlußfolgerte damals angesichts der nie verlöschenden Scheiterhaufen kurz und bündig: Wehe, wenn Christus ein zweites Mal zur Welt käme, ihr, seine bestallten Diener, ihr wäret es diesmal, die über ihn herfallen, ihn vor Gericht zerren, ihn peinigen und kreuzigen würden. So einfach und richtig wie diese Logik im Gedanken ist, so einfach und schlagend ist sie von Holbein im Bilde ausgedrückt – kein Wunder, daß solche Blätter allerorts zündeten.
Zum Ausgange des Mittelalters wurde die Häresie zu einer Verderben verheißenden Bewegung gegen die Spitze der Kirche: das Papsttum. Durch den größeren Teil des Mittelalters zieht sich wie ein roter Faden die lokal verzettelte Empörung gegen dasselbe. Die große Volksausbeutung, die das Papsttum als Haupt der kirchlichen Machtorganisation betrieb und die wir in den vorigen Kapiteln geschildert haben, lastete zu schwer auf den Massen, als daß nicht fortwährend die Opposition sich geregt haben sollte. Diese Opposition brach bald hier, bald da hervor. Eben auf dem Scheiterhaufen verbrannt und mit dem Schwert vernichtet, erhob sie bereits anderwärts aufs neue ihr Haupt und tat Kunde von den unterirdischen Gewalten, die gegen die Mauern ihres Verließes anstürmten.
So lange die ökonomischen Grundlagen für die neue Gesellschaft noch nicht geschaffen waren, konnten sich Papsttum und Kirche dieser feindlichen Bewegungen siegreich erwehren. Erst als mit der Entwickelung der neuen Gesellschaft und des Nationalstaates die sozialen und politischen Einrichtungen der mittelalterlichen Kirche immer überflüssiger und damit immer drückender wurden, als die internationalen Interessen des Papsttums immer häufiger mit den nationalen Interessen der einzelnen Länder kollidierten, wuchs die Kraft dieser der Hierarchie feindlichen Bewegungen. Ein Teil der besitzenden und herrschenden Klassen schloß sich ihnen an. Mit Kriegslärm und Scheiterhaufen, mit Blut und Tränen brach die mittelalterliche Pfaffenherrschaft in sich zusammen.
Die ketzerischen Bewegungen (Ketzer, vom griechischen Katharos, d. i. die Reinen gebildet; die Albigenser nannten sich zuerst Katharer), die alle als Grundton den Kommunismus hatten, kamen trotzdem nicht zum Siege. Die dem Papsttum opponierenden Schichten der herrschenden Klassen trafen sich mit den ketzerischen Kommunisten nur in der allgemeinen Papstfeindschaft. Sobald die kommunistische Tendenz hervortrat, hatten die Kommunisten Feinde ringsum. Luther jubelte ein Teil der Herrschenden begeistert zu, Münzer dagegen schlugen sie das Haupt ab. Als die Verhältnisse sich erst soweit entwickelt hatten, daß die alles umfassende Kirchenherrschaft des Mittelalters von der Neuzeit gebrochen werden konnte, siegte wohl die Reformation; die Revolution der Bauern von 1525 aber wurde blutig niedergeschlagen und zwar von denselben Machthabern, die in der Reformation gegenüber der Papstgewalt eine Rolle spielten. Derselbe Vorgang wie heute. Das moderne Proletariat findet in seinem allgemeinen Kampfe gegen die kapitalistische Staats- und Gesellschaftsordnung auch Unterstützung aus denjenigen Kreisen der herrschenden Klasse, die unter bestimmten Mißständen leiden. Sobald jedoch die Fortexistenz des Privateigentums in Frage kommt, schlagen sich jene oppositionellen Elemente sofort wieder auf die Seite der Herrschenden und lassen das Proletariat den Kampf allein fortführen.
Die ketzerisch-kommunistischen Bewegungen hatten in ihrem Charakter etwas Gemeinsames. Sie richteten ihre Hauptangriffe gegen das Papsttum, wiesen hin auf den schreienden Gegensatz zwischen Besitzenden und Proletariern, beriefen sich auf die kommunistischen Überlieferungen des Christentums, waren erfüllt von mystischem Glauben an übernatürliche Hilfe, propagierten die Askese und erstrebten die allgemeine, nicht an Städte oder Länder gebundene Durchführung ihrer Ideen. »Es ist das Proletariat gewesen, welches damals schon den kommunistischen Bewegungen seinen Stempel aufgedrückt hat. Und so wie das mittelalterliche Proletariat verschieden ist von dem der verfallenden römischen Gesellschaft, aber auch verschieden von dem modernen, so ist auch der Kommunismus, dessen Träger es war, verschieden von dem urchristlichen ebenso wie von dem des 19. Jahrhunderts. Er bildet ein Übergangsstadium zwischen beiden. Der Kommunismus des Mittelalters und der Reformationszeit ist aber auch ebenso wie der des Urchristentums ein asketischer und ein mystischer, ein Kommunismus der Entsagung und ein Kommunismus, der auf das Eingreifen geheimnisvoller übermenschlicher Mächte rechnet. Auch dadurch steht er im Gegensatz zum Kommunismus des 19. Jahrhunderts.« (Kautsky.)
Dort wo die Naturalwirtschaft, die starke Grundlage der mittelalterlichen Kirchenorganisation, zuerst Risse und Sprünge zeigte und sich in einem aufblühenden Städteleben die neue Wirtschaftsordnung ankündigte, in Italien und Südfrankreich, zucken im Mittelalter blitzartig die ersten Ketzer- und Reformationsbewegungen gegen das Papsttum und die Kirche auf. Rom, die Hauptstadt der Päpste, war zugleich der Herd der Revolution gegen die päpstliche Macht. Zwar zogen die Römer aus der Ausbeutung der Christenheit durch die Päpste selbst große Vorteile, aber indem sie die Verlotterung der Päpste und der Klerisei sahen, lernten sie diese auch aufs tiefste verachten. »Je näher bei Rom, je schlechter der Christ«, lautete ein mittelalterliches Sprichwort. Immer wieder empörten sich die Römer gegen die Päpste und immer wieder mußten diese vor der rebellischen Bevölkerung fliehen.
Grenzenloser Überfluß auf der einen, schreckliche Armut auf der anderen Seite war die Signatur Roms. Dort fielen denn auch die der Hierarchie feindlichen Lehren gleich Funken in ein Pulverfaß. Arnold von Brescia, Kleriker in seiner Vaterstadt Brescia, trat im 12. Jahrhundert als kühner und tatkräftiger Gegner der Hierarchie hervor. Er war nicht eigentlich Kommunist, aber er sah in dem ungeheuren Besitz der Kirche und des Klerus die Ursache allen Verderbens. Deshalb stellte er die Forderung auf und vertrat sie mit flammenden Worten, die Geistlichen sollten auf weltliche Macht und Besitz verzichten, sich die Armut der Apostel zum Vorbild nehmen und mit dem sich begnügen, was die Gemeinde ihnen darreiche. Seine hinreißende Beredtsamkeit, die sich mit ihren Gleichnissen und Gründen auf das Urchristentum berief, schaffte Arnold zahlreiche Anhänger, mit denen er seine Forderungen durchsetzen wollte.
Da erhob sich der in seinem Besitz gefährdete Klerus zu wütender Abwehr. Auf die Anklage des Bischofs von Brescia wurde Arnold durch die zweite Lateransynode von 1139 als Ketzer verbannt. Er floh zu seinem Lehrer Abälard nach Paris. Aber der Klerus hatte lange Arme und zwang den kühnen Feind, 1140 Paris zu verlassen. Nun suchte dieser in Zürich Schutz. Von dort kam er 1145 nach Rom, wo die Demokratie sich gegen des Papstes Herrschaft erhoben und einen Senat eingesetzt hatte. Doch diese improvisierte römische Republik erhielt sich nicht über ein Jahrzehnt. Das römische Bürgertum empörte sich immer nur zeitweise gegen die Päpste und sobald es erkannte, daß es sich besser stehe, wenn es mit an der päpstlichen Futterkrippe, die von der ganzen Christenheit gefüllt wurde, säße, anstatt sie umzustürzen, machte es seinen Frieden mit den Bedrückern. 1154 söhnten sich die Römer mit dem Papste aus. Hadrian IV. zwang sie durch Auflegung des Interdikts, Arnold, den gefährlichen Feind des Klerus, preiszugeben. Zwar floh dieser, doch wurde er wieder gefangen genommen. Auf Befehl des deutschen Kaisers Friedrich Barbarossa – weltliche und geistliche Macht reichten sich stets sofort die Hände, wenn es gegen die Rebellen ging – wurde er den päpstlichen Henkern ausgeliefert, die ihn ohne Urteil und Recht in den Tod sandten. Der lodernde Scheiterhaufen fraß einen Ketzer, der Klerus murmelte seine Gebete und setzte sich wieder zurecht in dem von neuem gefestigten Besitz.
Um diese Zeit, da das Papsttum mit Tod und Scheiterhaufen gegen die Ketzer zu wüten begann, hatte die Ketzerei bereits breiten Boden gewonnen und zwar vor allem in Südfrankreich. Dessen reiche Handelsstädte, zumal Lyon, verdankten ihre ökonomische Stellung nicht dem Papsttum. Während die norditalienischen Städte vornehmlich von dem Goldstrom profitierten, der in die päpstlichen Kassen nach Rom floß und deshalb immer ein Interesse an der Aufrechterhaltung der päpstlichen Volksausbeutung hatten, waren die südfranzösischen Handelsstädte unabhängig vom Papsttum groß geworden. In Südfrankreich hatten sich viele Reste römischer und griechischer Kultur erhalten, das romanische, lateinische und spanische Geistesleben hatte sich mit einander vermischt. Die ökonomische Stärke gebar politische Unabhängigkeit und so errangen die Städte Südfrankreichs bald eine Freiheit und Selbständigkeit, die man um dieselbe Zeit in anderen Ländern Europas nicht kannte.
Nicht auf die wirtschaftlichen Organisationen der Kirche angewiesen, mußte der Bevölkerung die von Papst und Kirche geübte Ausbeutung um so drückender zum Bewußtsein kommen und sie um so mehr erbittern. Unter der armen Weberbevölkerung Lyons und Albis wuchs frühzeitig eine mächtige Opposition gegen die Kirche heran. Sie äußerte sich zunächst in der Gründung von Gemeinden und Abweichungen vom römischen Kultus, woraus sich eine bewußte praktische Agitation für den urchristlichen Kommunismus entwickelte. Die proletarischen Träger stützten sich dabei auf die Evangelien, von welchen viele Übersetzungen in die Landessprache vorhanden waren.
Ihren Namen sollen diese Gemeinden der Waldenser oder Albigenser von einem reichen Lyoner Kaufmann Petrus Waldus haben, der um 1170, seines Reichtums sich schämend, diesen unter die Armen verteilte und Gefährten um sich sammelte, die gleich ihm in freiwilliger Armut lebend, sich dem Dienste der Armut weihten. (Kautsky.) Von anderer Seite (Griesinger) wird der Name Waldenser von »Valensis«, »Vaudois«, »Val« oder »Vaux« (auf deutsch: »Tal«) abgeleitet. »Waldenser« weise in seinem Ursprung auf »Talleute« d. i. die Bewohner der piemontesischen Alptäler. Unter dieser Bewohnerschaft hatten sich die Lehren des Bischofs Claudius von Turin erhalten, der zur Zeit Kaiser Ludwigs des Frommen eine Erklärung zu den Briefen des Apostels Paulus geschrieben hatte, in denen er sich erbittert gegen allen Bilderdienst, gegen die Lehre von der Fürbitte der Heiligen, gegen die Wallfahrten wandte. Seine Lehren durchzitterten das ganze Piemontesische bis ins südliche Frankreich hinein und nur Kaiser Ludwig hatte Claudius es zu verdanken, daß er nicht unter dem römischen Bischof Eugen II. als Ketzer getötet wurde.
Da die Mehrzahl der Waldenser Proletarier waren, »die Armen von Lyon« ( Povres de Lyon), entwickelten sich die kommunistischen Tendenzen der Sekten rasch zur Hauptsache. Von ihren » perfecti« (Vollkommenen) verlangten sie Gütergemeinschaft und ehelosen Stand, nur ihren » discipuli« (Schüler) gestatteten sie weltliche Besitztümer und Ehe. Dafür waren die »Schüler« verpflichtet, die »Vollkommenen« zu erhalten. Die Frau war dem Manne gleichgestellt und konnte ebenso wie dieser predigend auftreten. Einfache Weber und Schuster, schlichte Frauen aus dem Volke traten predigend vor die Gemeinde und feuerten sie in flammenden Worten an, den Eitelkeiten der Welt zu entsagen, durch die Verteilung ihres Besitzes der Not der Armen zu steuern.
Wars ein Wunder, daß die Kleriker der Kirche, die verächtlich auf die Volksmasse als die »Laien« herabsahen, sich durch diese Proletarier in ihrem Besitz gefährdet fühlten! »Alle ohne Ausnahme,« schreibt entrüstet ein römischer Inquisitor »Pocudo-Reiner« 1250 in seiner Waldenserschrift: » De Catharis et Leonistis«, »Männer und Frauen, Große und Kleine lehren und lernen ununterbrochen. Der Arbeiter, der bei Tag arbeitet, lehrt oder lernt bei Nacht; weil sie so viel studieren, beten sie wenig. Sie lehren und unterrichten ohne Bücher+… Wer sieben Tage gelernt hat, sucht einen Schüler, den er seinerseits belehren könnte.« Ja dadurch fühlte sich der Klerus am meisten bedroht, daß diese Proletarier sich unterstanden, selbst zu forschen, anstatt zu beten, d. h. einfach bei dem zu verharren, was der Klerus lehrte, und es nicht kritisch zu prüfen. Deshalb auch erhob sich der Klerus alsbald gegen diese Sektierer. Der Erzbischof von Lyon verbot ihnen das Predigen. Die waldensischen Proletarier wandten sich darauf an den Papst Alexander III. Aber die Propagandierung des Kommunismus, anfangs die Grundlage des Urchristentums und von den ersten Kirchenlehrern als die rechte Betätigung christlichen Sinnes gepriesen, galt, seitdem das Christentum Staatsreligion und die einfachen Bischöfe von Rom reiche Päpste geworden waren, als Verbrechen. 1184 sprach Lucius III. über die Waldenser den Bann aus.
Infolge der agitatorischen Rührigkeit der Waldenser hatte ihre Lehre weite Verbreitung gefunden. Denn auch darin trafen sie sich mit den Urchristen, daß sie ihren Predigern, den »Barben«, Agitation zur Pflicht machten. Auf allen Wegen schritt der waldensische Agitator, suchte die Hütten auf, die an ihren Dächern und Türen das waldensische Erkennungszeichen hatten, eiferte gegen den römischen Klerus, der die Reinheit des apostolischen Glaubens verdorben habe, schalt auf den Papst als den »Bel zu Babel«, als den »Antichrist«, und warb dem waldensischen Kommunismus neue Anhänger. Überall hin züngelte die Flamme von Lyon und Albi. In Deutschland und Böhmen loderte sie empor. Eine geheime internationale Gemeinschaft verband die waldensischen Bekenner. »Sie unterstützten sich mit Geld; besonders von den Tälern Piemonts kamen Prediger zu den Brüdern nach Böhmen und diese schickten ihre Jünglinge in die Täler, damit sie dort im heiligen Amt unterrichtet würden.« (Bender.)
So wuchs sich die kommunistisch-ketzerische Agitation des waldensischen Proletariats in Südfrankreich zu einer die Herrschaft des Papsttums bedrohenden internationalen Bewegung aus. Und der Weber- und Handwerkerbevölkerung der südfranzösischen Städte konnte das Papsttum nicht mit seinen wirtschaftlichen Machtmitteln beikommen. Dieses blühende Land Europas stand ökonomisch ganz unabhängig vom Papsttum da. Also her mit dem Schwert! In den blutigen Zeiten der Völkerwanderung hatten die Päpste gelernt, das Schwert weltlicher Eroberer zur Unterwerfung der Ungläubigen zu gebrauchen. Nach dem Schwert blickten sie auch jetzt aus, um mit demselben den papstfeindlichen Kommunismus in einem Blutbade zu erwürgen, mochte dabei auch ein hochentwickeltes Kulturland zur Wüstenei werden.
1198 war Innocenz III. auf den Papststuhl gekommen. Er sah wohl ein, daß das Ende aller Waldenserei, Albigenserei, Katharerei oder Ketzerei das sein würde, dem Papsttum den Todesstoß zu versetzen. Es handelte sich um die eigene Existenz und Innocenz war deshalb entschlossen, der Ketzerei mit Gewalt ein Ende zu machen. Gleich im ersten Jahre seines Pontifikats sandte er seinen Legaten Reiner ins südliche Frankreich sowie nach Spanien. Der Legat wies ein päpstliches Sendschreiben vor, worin die härtesten Maßregeln gegen die Ketzer anbefohlen wurden. Nicht bloß einzelne Hervorragende sollten getötet werden. Der Papst wußte aus der Märtyrergeschichte der Kirche, daß aus der Asche der Märtyrer nur immer neue Bekenner hervorgingen. Deshalb sollte das ganze Ketzertum vernichtet werden. »Auf einen Schlag,« so dekretierte er, »solle man sich sämtlicher Häretiker bemächtigen und ihre Güter konfiszieren. Ja selbst die Kinder eines Ketzers müßten ihrer Habe beraubt und sogar das Haus, worin ein Ketzer Aufnahme gefunden habe, niedergebrannt werden. Niemand dürfe, von falschem Mitleid getrieben, der Ketzerverfolgung sich entziehen, selbst die innigste Freundschaft, selbst die nächste Verwandtschaft könne nicht als Entschuldigungsgrund gelten. Nicht einmal ein Eidschwur, den man einem Ketzer geschworen, habe Gültigkeit, denn den Ketzern gegenüber brauche man Treu und Glauben nimmermehr zu halten, sondern man müsse dieselben vielmehr auf alle Weise bedrücken, belügen und betrügen.« Dieser Papst hatte offenbar den christlichen Lehrsatz: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« vollständig aus dem Gedächtnis verloren. Aber freilich, es war ja nur das alte Mittel brutaler Gewalt, welchem das Papsttum alle seine Erfolge verdankte.
Der Appell an den Glauben hatte zunächst wenig Erfolg. Die südfranzösische Ritterschaft, auf die Waldenserstädte materiell angewiesen, machte den päpstlichen Glaubenspredigern sogar Schwierigkeiten und als der Papst den Grafen Raymond von Toulouse für den Fall, daß er nicht gegen die Ketzer einschreite, mit dem Bannfluch bedrohte, wurde der päpstliche Fluchbringer, Erzpriester Peter v. Kastelnau, gar von einem Ritter erschlagen. Das war für den Papst der willkommene Anlaß, über die ganze Grafschaft das Interdikt auszusprechen und das Kreuz der Kirche selbst als beschimpft zu bezeichnen. Durch ganz Frankreich und Deutschland eilten des Papstes Legaten und predigten einen Kreuzzug wider die Ketzer. »Alle Welt soll die Waffen ergreifen gegen die Verfluchten, die doch sichtlich nicht mehr wert sind als die Ungläubigen im Orient und dazuhin noch viel gefährlicher!« Jedem, sei er Rittersmann oder Knecht, versprach der Papst vollkommensten Ablaß von allen Sünden, die er schon begangen habe oder noch begehen würde, sobald er nur das Schwert umgürte und gegen die Ketzer zu Felde ziehe. Diese Ablaßverkündigungen für den Kampf wider die Ketzer wurden in alle Sprachen der Christenheit übersetzt und in Form von päpstlichen Bullen durch alle Lande verbreitet. Eine solche Bulle führen wir im Bild 147 vor. Und genau so wie das Papsttum die Kreuzritter nach dem Orient zusammengebracht hatte durch die verlockende Anpreisung von dessen Schätzen und Wollüsten, so lobpriesen jetzt des Papstes Sendboten den Reichtum der Städte Südfrankreichs. Allen Teilnehmern am Kreuzzuge wider die Ketzer versprachen sie den großartigsten Gewinn, indem die gemeinen Soldaten alle Städte und Dörfer des Landes umher zu plündern das Recht oder vielmehr die Pflicht hätten, die Ritter und Herren aber sich in den Besitz der schönen Herrschaften und Baronien teilen dürften.
Also war dergestalt die hungrige Bestie der Raubgier auf Beute scharf gemacht worden, so ergoß sich denn aus Frankreich, der Schweiz und dem angrenzenden Deutschland ein nach Hunderttausenden zählendes Raubgesindel nach Südfrankreich. Angesichts der Übermacht ging die rebellische südfranzösische Ritterschaft großenteils noch schleunigst zum Papste über, was ihr unter harten Bedingungen gewährt wurde. Man zwang sie, gegen die eigenen Landeskinder das Schwert zu ziehen. Graf Reymond von Toulouse wurde »an einem Strick neun Mal um das Grab des ermordeten Peter v. Kastelnau herumgeführt und dazu neun Mal auf dem bloßen Rücken mit Ruthen gestrichen«.
Mittlerweile rückte das Kreuzheer gegen die Stadt Beziers vor, in der die ganze Ein- und Umwohnerschaft, 70 000 Männer, Frauen und Kinder, sich eingeschlossen hatten und mit dem Mut Verzweiflung zur Wehr setzten. Am 22. Juli 1209 nahm die riesige Übermacht des päpstlichen Heeres die Stadt. Die Oberlenker des Kreuzzuges waren der päpstliche Legat Milo und der Abt Arnaud. Die Räuber frugen sie, wie man die Katholischen von den Ketzern unterscheiden solle. Die Antwort lautete: » Schlagt alles tot, der Herr kennt die Seinen!« Und da begann ein Abschlachten von Menschen durch Menschen so grauenhaft, daß es keine Feder schildern kann. Männer, Frauen, Kinder, alles, was dem zusammengetriebenen Raubgesindel dreier Länder, welches sich nicht einmal unter einander verständigen konnte, unter die Hände kam, wurde verstümmelt, geschändet, massakriert. Allein in der Magdalenenkirche der Stadt, in welche hauptsächlich Katholische geflüchtet waren, kamen gegen siebentausend Menschen in den Flammen um. Im ganzen fanden bei dem gräßlichen Blutbade über sechzigtausend Menschen den Tod. Und während dergestalt das vom Papst losgelassene hunderttausendköpfige Mordungeheuer durch die Gassen und die Häuser raste, wehrlose, von den edelsten Ideen beseelte Proletarier abschlachtete, standen die Mönche, welche bei dem Kreuzheer waren, auf dem öffentlichen Marktplatze Beziers und begleiteten das Morden mit dem Absingen von Litaneien! Selbst beim Morden vergaßen sie die Frömmigkeit nicht.
Dieses furchtbare, teuflische Morden, das im Namen des Christengottes vollführt wurde, hat den Dichter Nikolaus Lenau zu einem seiner erschütterndsten Gesänge den Stoff gegeben. Unter dem Titel »Beziers« findet man in seinen Albigensern die folgende nie verklingende dichterische Anklage:
Es läßt die Sanduhr Korn an Korn verrinnen,
Und fällt das letzte, ist die Stund' von hinnen;
Also mit jedem Augenblicke fällt
Ein Toter in Beziers zum blut'gen Grunde;
Ein Dämon hat die Leichenuhr bestellt,
Daran zu messen eine Menschenstunde.
Das wilde Kreuzesheer ist eingedrungen,
Und alles Leben wird hinabgerungen+…
Abt Arnald ruft ins Fechten, wo es stockt:
»Haut ein! der Ablaß und die Beute lockt!«
Den Priester reitet Simon an, zu fragen:
»Herr, sollen wir auch Katholiken schlagen?
Der unsern viele sind in diesen Mauern,
Ist hier gestattet Mitleid und Bedauern?«
Der Abt entgegnet: »Dessen ist nicht Not,
Schlagt Ketzer, Katholiken, alle tot!
Wenn sie gemengt auch durcheinander liegen,
Gott weiß die Seinen schon herauszukriegen.«
Wenn still und lautlos ginge dies Zerstören,
Man müßte aus den Wunden hier das Blut
Gleich einem Bach im Walde rauschen hören,
Doch wie ein Meer im Sturme schreit die Wut;
Es brennt die Stadt, die Flamme hilft den Waffen;
Wenn Tiger nach Beziers herzögen lüstern,
Den Rauch des Blutes in den heißen Nüstern,
Sie würden müßig hier, bewundernd gaffen.
Dort flüchten Tausende zur Kathedrale,
Nachjauchzt der Mord mit hochgeschwungnem Stahle
In allen Gassen, Häusern und Gemächern,
In jedem Sparrenwinkel unter Dächern,
In jedem tiefen dunklen Kellerbogen
Wird nachgesucht und wilden Mords gepflogen.
Vom Giebel wird ein Ketzer dort geschleift,
Wie sonst ins Taubennest der Marder greift;
Hier pocht der Scherge an des Fasses Dauben,
Und tönt es dumpf, so wird es aufgebrochen,
Ob nicht ein Ketzer sich hineinverkrochen,
Sein Blut gilt werter als das Blut der Trauben.
»Komm, heil'ger Geist!« die Priester alle singen.
Kein Gräuel kann wie der das Herz empören;
Der Opfer viele in die Flamme springen,
Um nur die Mörder singen nicht zu hören.
Doch Tausende sind jener auch gefallen,
Für welche süß der Lobsang würde schallen.
Die Stund' ist aus, nichts gibt es mehr zu morden,
Hoch brennt die Stadt und weiter zieh'n die Horden.
Aus der Stadt Carcassone hatte sich der größte Teil der Einwohnerschaft geflüchtet, als das Kreuzheer ankam, so daß hier »nur einige Tausend Menschen« umkamen, eine Kleinigkeit für den Mord in Massen. Desto schlimmer wüteten die Kreuzfahrer in den Dörfern. Als sie sich endlich am Raube gesättigt hatten, liefen sie in alle Winde auseinander. Kein Ablaß, keine fromme Predigt konnte sie mehr halten, und es zeigte sich so vor aller Welt, daß lediglich die Raubgier und nichts anderes des Papstes Streiter zusammengetrieben hatte. Aber Innocenz III., als er sah wie ganz Europa von bebendem Schrecken über den »Mord im großen« erfaßt worden war, jubelte auf über das Ansehen, welches sich der päpstliche Stuhl durch die Niederwerfung der waldensischen, albigensischen Häretiker und Kommunisten unter den Völkern erneut verschafft hatte. Seine Mönche mußten immer wieder Kreuzfahrer gegen die »verfluchten Ketzer« sammeln. Doch die Banden schrumpften immer kläglicher zusammen, je weniger es in den verwüsteten, ausgeraubten Landen zu holen gab. Immerhin reichte ihre mörderische Kraft aus, insgesamt in diesen Albigenserkriegen über hunderttausend Menschen zu verbrennen und zu schlachten.
So erwürgte der Papst den ketzerischen Kommunismus in Südfrankreich, und um jedes Wiederaufleben zu verhindern, mußten sich die Dominikaner als Ketzergericht in Toulouse niederlassen. Hatten die Kreuzfahrer mit zeitweisen und massenhaften Morden gewütet, so übertrafen die Mönche sie mit dauerndem, langsamem, grausamem Zutodequälen der ketzerischen Proletarier. Die Dominikaner spürten den letzten Ketzer heraus und marterten ihn auf der Folter zu Tode. Selbst Tote schonten sie nicht. Schon begrabene Ketzer wühlten sie wieder aus den Grüften hervor und warfen ihre Leichen auf den Schindanger, während sie ihr Vermögen sorgfältig einsackten. Der Ketzeroberrichter Robert ließ im Jahre 1236 innerhalb zweier Monate nicht weniger als fünfhundert Männer und Frauen lebendig begraben und weidete seine frommen Ohren an ihrem gräßlichen Angstgeschrei. Selbst dem Papst war das zu viel! Cölestin IV. ließ das wahnwitzige Scheusal abberufen und – schickte es in ein gelindes Gefängnis. Seht, der Papst konnte auch milde sein!
Im 13. Jahrhundert ist Italien der Boden einer kommunistischen Bewegung gegen das Papsttum.
Gerardo Segarelli aus Alzano, einem Dorfe bei Parma, verteilte um 1260 sein Eigentum unter die Armen und gründete eine kommunistische Sekte, die sich den Namen Apostelbrüder erwarb. Unter dem armen Volke der Lombardei gewann Segarelli viele Anhänger. Die Besitzenden hielten es zu allen Zeiten mit den Machthabern, aber die Armen zwang ihre Not, einen Ausweg aus dem Elend ihrer Tage, eine Zuflucht gegen die schlimme Ausbeutung zu suchen. Abgestoßen von der Verlotterung des Papsttums und des Klerus, versenkte sich der fromme Sinn in die Einrichtungen der Urchristen und die aus ihrem Wesen hervorgegangenen urchristlich-kommunistischen Lehren. Das erste Sehnsuchtslied der Menschheit nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erklang wieder unter den Anhängern des Segarelli, nachdem eben die herrschende Kirche in Südfrankreich dagegen mit Blut und Mord gewütet hatte. »Sie (die Apostelbrüder) hießen sich alle untereinander, nach der Weise der ersten Christen, Schwestern und Brüder. Sie lebten in einer strengen Armut und durften weder eigene Häuser, noch Vorrat auf den anderen Morgen, noch etwas, das zur Bequemlichkeit und Gemächlichkeit gehörte, haben. Wenn der Hunger sich bei ihnen regte, sprachen sie den Ersten um Speise an, ohne etwas Gewisses zu begehren, und aßen ohne Unterschied das, was man ihnen reichte. Die Begüterten, die zu ihnen traten, mußten dem Besitz ihrer Güter entsagen und dieselben dem gemeinschaftlichen Gebrauch der Brüder überlassen.« (Mosheim.)
Der Klerus schöpfte bald Verdacht, obwohl diese Kommunisten so vorsichtig wie nur möglich auftraten, ihre Zusammenkünfte nur Nachts abhielten und ganz in der Stille nach Spanien, Frankreich, Deutschland ihre Apostel sandten, um die Gleichgesinnten zu sammeln. Aber das Papsttum war sich zu gut des tiefen Hasses der von ihm ausgebeuteten Volksmassen bewußt, als daß es nicht jede Bewegung mit tiefem Mißtrauen betrachtet hätte. 1280 ließ der Bischof von Parma Segarelli verhaften. Nach sechsjähriger hochnotpeinlicher Untersuchung wurde er, da ihm nichts Böses nachzuweisen war, zwar wieder entlassen, aber der Sicherheit halber aus Parma ausgewiesen und die Apostelverbindung verboten.
Aber Segarelli wanderte jetzt ruhelos durch Norditalien und schuf überall Bewegung unter dem armen Volke. Als die Kirche energischere Verfolgungen begann, stieß sie überall auf Widerstand. Durch das altbewährte Mittel eines Blutopfers sollten die Massen nun gekuscht werden. Segarelli wurde aufs neue ergriffen und um 1300 verbrannt.
Doch der eine Ketzer zeugte hundert andere, und wie bei der Arbeiterbewegung von heute an den leergewordenen Platz eines gefallenen Kämpfers sofort ein neuer tritt, so stand alsbald auf dem Platz des verbrannten Segarelli Dolcino, ein begeisterter Vorkämpfer des Volkes, erfüllt von glühender Liebe zu den Armen und Unterdrückten und von leidenschaftlichem Hasse gegen seine Peiniger. Er war der Sohn eines Priesters, war in einem Franziskanerkloster als Novize gewesen und hatte hier die Theorien der Apostelbrüder kennen gelernt. Er trat in ihre Reihen und kämpfte an ihrer Spitze. Neben ihm kämpfte die schöne, enthusiastische Margherita v. Trenk, eine Nonne aus dem Kloster der heiligen Katharina. Dolcino, von ihrem Geist und ihrer Schönheit angezogen, war als Knecht in ihr Kloster eingetreten, hatte um sie geworben und sie schließlich entführt. Bis zum Tode kämpften sie nun nebeneinander.
Als der Klerus die beiden in der Lombardei an der Spitze der kommunistischen Ketzer sah, begann eine Hetzjagd, welche Dolcino von Stadt zu Stadt trieb, bis er schließlich in Dalmatien Zuflucht fand. Von hier aus wirkte er mit Briefen auf seine Anhänger ein, gleich den von der Staatsgewalt verfolgten ersten Agitatoren des Christentums. Dolcino hatte als Novize in der Nähe die Verkommenheit des Mönchwesens beobachtet und gesehen, woher die Stiernacken und die Fettbäuche der Bettelmönche stammten, nämlich von der Ausbeutung des Volkes. So pries er denn wohl die Verdienste des heiligen Franziskus und Dominikus um die Armen, aber er wies auch darauf hin, daß ihr Streben auf die Dauer nicht gefruchtet habe. Franziskaner und Dominikaner hätten Häuser erbaut und in diesen das Erbettelte aufgehäuft. Sie seien dadurch von der Verderbnis der ganzen Kirche ergriffen worden. Wolle man diese reinigen, müsse man die ganze Mönchsverfassung und die Art und Weise der ersten Apostelgemeinden wieder allgemein einführen. Der Kommunismus der urchristlichen Gemeinden, auf dessen Schultern der Klerus emporgestiegen war, war also Dolcinos Ziel.
Dieses Ziel suchte Dolcino durch eine bewaffnete Erhebung zu erreichen. Mit Waffengewalt wollte er die herrschende Papst- und Kirchengewalt stürzen, um seine kommunistische Ordnung aufzurichten. Mit diesem Geiste erfüllte er seine Anhänger. Ende 1303 oder Anfang 1304 erschien Dolcino, wahrscheinlich von dem Ungestüm seiner Genossen getrieben, welche den Beginn der Erhebung nicht erwarten konnten, mit einer bewaffneten Schar in Piemont. Die erste kommunistische Revolution im Abendlande brach aus.
Das Waffenglück war ihm anfangs günstig. Neben seinen eigentlichen Anhängern strömten ihm auch die von Klerus und Adel ausgesaugten Bauern in großer Zahl zu, so daß er bald an die fünftausend Kämpfer um sich hatte. Von den Alpen Piemonts brach er in die Ebene ein, schlug das ihm entgegengesandte adelig-klerikale Heer nieder und war nun Herr der Gegend.
Aber die Bauernmasse, die zu seiner Fahne stand, hatte weder das Interesse, noch das Ziel der Kommunisten. Während Dolcino gegen Rom vordringen wollte, um das Papstregiment zu stürzen, glaubten die Bauern, nicht über ihren lokalen Horizont hinausschauend, genug getan zu haben, wenn sie die Macht ihrer lokalen Bedrücker brachen. So verzettelten sie ihre Kraft an der Plünderung von Klöstern und Adelssitzen, um sich schließlich, raubbeladen, von Dolcino abzuwenden. Der kühne Führer stand mit dem Kern seines Haufens allein und konnte das Verhängnis nicht aufhalten.
Der päpstliche Stuhl in Rom aber erkannte in der lokalen Revolution sofort den Charakter der internationalen Ketzerbewegung. Der Papst war sich klar, daß der lokale Sieg des verfluchten Priestersohnes aus Vercelli auch Erhebungen in anderen Ländern zur Folge haben werde. Deshalb mußte die Papstgewalt sich zeigen, ein blutiges Exempel mußte statuiert werden.
Ein übermächtiges Kreuzheer ward unter dem Befehl des Bischofs Raineri von Vercelli organisiert und schlug Dolcino aus der Ebene ins Gebirge zurück. Da die Bauern sich ebenso rasch von ihm abgewandt hatten, wie sie gekommen waren, war dies ein leichtes Stück. Aber im Gebirge leistete ihnen der kühne Kommunistenführer mit seinen Genossen heldenmütigen Widerstand. Hier tat sich namentlich die schöne, kraftvolle Margherita hervor, die wie eine Löwin an der Seite Dolcinos kämpfte. Sie führte die Frauen. »Die Schwestern oder Weiber waren weder ungeeigneter noch ungeschickter zu diesen Heldentaten als die Männer. Sie steckten sich in Männerkleider, ließen sich in der Reihe der Soldaten mit anführen und fochten ebenso mutig und verzweifelt wie die Männer.« Einmal wollten zweihundert Bürger von Trivero eine plündernde Schar der Dolcinisten angreifen; dreißig Weiber schlugen sie in die Flucht. Aus diesem heldenmütigen Widerstande erklärt es sich, daß das Kreuzheer die Kommunisten in ihren Bergen nicht mit den Waffen überwinden konnte, sondern sich darauf beschränkte, sie langsam auszuhungern. Aber die Kreuzfahrer mußten sich bis in den Winter 1306-1307 gedulden, ehe sie Dolcino überwanden. Nun, an Geduld fehlte es den Päpstlichen nie. Sie entschädigten sich hernach durch eine desto grausamere Rache.
Dolcino hatte sich mit seinen Apostelbrüdern auf einem Berge, Monte Zebello oder Rubello, verschanzt. Hier umklammerte Bischof Raineri sie mit den eisernen Armen seines Heeres. »Alles, was noch an Pässen und Wegen und kleinen Zugängen konnte erfragt und ausgespürt werden, das war so genau bewacht und verwahrt, daß kein Loch unverstopft blieb, wodurch Waffen, Proviant oder sonst etwas auf den Berg konnte gebracht werden.«
Dergestalt hungerte der fromme Bischof und Streiter für den Papst die kommunistischen Rebellen aus, die sich des großen Verbrechens schuldig gemacht hatten, der Not der Armen, im Mittelalter ein Ende machen zu wollen. Liebet eure Feinde! Mit Frost und Hunger rieb der Bischof die Belagerten auf. »Die Apostel wurden zuletzt so ausgezehrt, daß sie mehr halb verwesten Leichen als lebendigen Menschen ähnlich sahen.«
Am 23. März 1307 gingen die Päpstlichen zum Sturm auf die Verhungerten über. Die konnten kaum mehr eine Lanze halten, denn so groß war ihr Elend während der Belagerung geworden, daß Kannibalismus unter ihnen ausgebrochen war. Sie hatten sich »von dem Fleisch der den Entbehrungen und Seuchen Erlegenen« genährt! Die Päpstlichen kannten keine Regung des Erbarmens. Von den etwa zweitausend belagerten Dolcinisten wurden fast alle abgeschlachtet, Dolcino und Margherita aber wurden unter Jubelgeheul lebend nach Vercelli ins Inquisitionsverließ gebracht.
Papst Clemens V. war über seinen Triumph außer sich vor Freude. Die Siegesnachricht seines Feldherrn Raineri ließ er sofort den Fürstenhöfen mitteilen. Zeigte sie doch wieder einmal die päpstliche Macht!
Dann begann die Tortur Dolcinos und seiner heldischen Mitstreiterin, die übliche gräßliche Folterei, mit der die triumphierende Gewalt ihren Feinden die Eingeweide zerwühlte und jedes Glied einzeln lockerte. Am 2. Juni 1307 wurde Dolcino dann zu Vercelli dem Scheiterhaufen übergeben. Um seine Todesqual zu erhöhen, wurde, dem lodernden Feuer gegenüber, die überlebende Margherita von den Henkersknechten auf das Scheußlichste mit Zangen und Stacheln gequält. Ha, welche diabolische Erfindungskraft besaßen zu allen Zeiten die römischen Ketzerrichter in der Konstruktion von Folterquälereien!
Margherita wurde später in Biella den Flammen überliefert, aber trotz aller Furcht vor den päpstlichen Blutgerichten wagte sich die Sympathie des Volkes mit dieser herrlichen Frauengestalt offen hervor und nur mit Waffengewalt konnte die Masse in Schach gehalten werden. In Italien, den piemontesischen Tälern und in Südfrankreich aber lebte die Verehrung Dolcinos, seiner Anhänger und seiner Lehre noch lange fort.
Die von der Kirche beherrschten Lande werden nun nicht mehr ruhig von den der Papstmacht feindlichen Bewegungen, die bald da, bald dort hervorbrechen und alle vom gleichen Geiste beseelt sind. In dem sozial hochentwickelten Flandern und Brabant wird die Weberbevölkerung die Trägerin einer kommunistischen und papstfeindlichen Bewegung, die den Namen der Begharden trägt. (Begharden abgeleitet vom altsächsischen Began, Biggan d. i. Betteln, Bettelbrüder.) Diese Sekten suchten den Kommunismus praktisch einzuführen durch Gründung von Häusern, in denen sie gemeinschaftlich und gleichmäßig produzierten und lebten. Ihre Lehre wurde dem Papsttum immer gefährlicher. Die Begharden waren es auch, welche die kommunistische Ketzerei in Deutschland und in England weit verbreiteten. Die thüringischen, brandenburgischen, lausitzischen Städte in Deutschland wie auch die Städte Englands suchten einen ihrer wichtigsten Gewerbszweige, die Weberei, dadurch zu heben, daß sie flämische Weber heranzogen. Diese aber brachten die beghardischen Tendenzen mit und verbreiteten sie unter dem Volke. Zugleich kamen aus Südfrankreich und Italien Waldenser und Apostelbrüder nach Deutschland. Der Konflikt zwischen Kaisermacht und Papstmacht in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bewirkte, daß das Papsttum seine Feinde in Deutschland nicht mehr mit solcher Strenge wie anderwärts verfolgen konnte. So setzten diese sich in einzelnen Gegenden Deutschlands fest oder durchzogen als Agitatoren die Lande, überall im Geheimen Gemeinden gründend und das von Papsttum und Klerus ausgesogene und mißhandelte Volk mit revolutionärer Erbitterung wider die Papstherrschaft erfüllend. Diese aus politischen oder ökonomischen Ursachen nach Deutschland versprengten Proletarier wurden die wahren Pioniere des Kampfes gegen Papst und Kirche in Deutschland; ohne ihr unermüdliches Wirken wären Reformation und Bauernkrieg in Deutschland nur zum Teil erklärlich.
Als es 1346 dem Papsttum gelang, Karl IV. die deutsche Kaiserkrone zu verschaffen und mit dem »Pfaffenkaiser« wieder die alte Papstgewalt über Deutschland ausgeübt werden konnte, stürzte sich der Klerus auf die deutschen, kommunistischen Ketzer, um diese proletarischen Totfeinde der großen päpstlichen Ausbeutungsmaschinen, wo sich nur ihre Spuren gezeigt hatten, mit Stumpf und Stiel auszurotten. Seit 1348 arbeiteten Folterbank und Blutgerichte schon. Aber die vereinzelten Ketzerverfolgungen waren nur das Vorspiel zu der brutalen Gründlichkeit, mit der Papst Urban V. und seine Nachfolger die Feinde ihrer Ausbeutung vernichteten.
Papst Urban V. sandte 1367 zwei in Grausamkeit und Unmenschlichkeit genügend erprobte und mit den internationalen Fäden des mittelalterlichen Kommunistentums hinreichend vertraute Inquisitoren nach Deutschland. Sie erfüllten durchaus die auf sie gesetzten päpstlichen Hoffnungen. In ein paar Jahren hatten sie mit den bestialischen Qualwerkzeugen ihrer Henkersknechte so viele Hetzer herausgespürt, daß sie die Arbeit nicht mehr bewältigen konnten. 1372 sandte Papst Gregor IX. fünf weitere Inquisitoren zu ihrer Unterstützung. Überall wurde in Deutschland die Blutarbeit getan; stinkende, rauchende Scheiterhaufen fraßen zu Hunderten die unglücklichen Ketzer (Bilder 150 bis 158).
1394 erließ Papst Bonifacius IX. ein Edikt, in welchem er alle bisherigen Verordnungen der Päpste gegen die Ketzer zusammenfaßte. Dieser Papst war der richtige Mann zur grausamen Vernichtung des Proletariats, welches sich gegen die päpstliche Ausbeutung empörte. Er war einer der größten Simonisten und nahm, wo kein Geld war, selbst Pferde, Schweine, Kälber, Korn, Eier usw. an Zahlungsstatt. Ja, ganz arme Kandidaten konnten das für eine Kirchenpfründe Verlangte abverdienen, wenn sie zu seinem Festungsbau auf dem Kapitol Materialien herbeiführten. Seine Ablaßhändler streiften überall umher, namentlich im deutschen Norden und holten selbst aus Mittelstädten 6-8000 Gulden, aus Lübeck 20 000 Gulden. Nur zu begreiflich, daß er die Ketzer haßte, deren Agitation solch profitables Geschäft zerstören wollte. Er berief sich auf ein Gutachten der deutschen Inquisitoren über die Ketzer Deutschlands, die das Volk Begharden, Lollharden (Singbrüder), Schwestrionen nenne, die sich selbst mit dem Namen »Arme« und »Brüder« bezeichneten. Diese Ketzerei bestehe seit mehr als hundert Jahren und obwohl der Scheiterhaufen gearbeitet habe, sei es noch nicht gelungen, ihrer Herr zu werden. Jetzt gelte es, die Ketzerei endgültig zu vernichten!
Vermehrte Folterquälerei, vermehrte Blutarbeit! Darauf berichtete ein Jahr später, 1395, der von deutschem Ketzerblut- und Tränen triefende Inquisitor Peter Pilichdorf an den Papst, nun sei die Ketzerei vernichtet. Aber man hatte bloß die Ketzer abgeschlachtet; die durch die Papstwirtschaft hervorgerufene Ketzerei selbst war geblieben, und 1399 mußte Bonifacius die Zahl der Inquisitoren um sechs vermehren. Voll heiligen Eifers waren die Päpste – gegenüber den Ketzern (Bild 161).
Unter solchem furchtbaren Aderlaß wagte sich die Ketzerei in Deutschland wie in den anderen Landen zunächst nicht mehr offen hervor. Die von den Begharden gegründeten Häuser zum gemeinsamen Leben verwandelten sich in Klöster, indem sie sich einzelnen Orden, namentlich den Franziskanern anschlossen. Aber im Geheimen lebten die kommunistischen Ketzerverbindungen in Deutschland fort. An den zwei Plätzen, an denen sich die Ketzerei noch hervorwagen konnte, England und Böhmen, lieferte sie dem Papsttum noch einmal furchtbare Kämpfe.
Beim Beginn des 13. Jahrhunderts war England das dem Papsttum am tiefsten ergebene Land. Der englische König hatte seine Krone als »Lehen des heiligen Petrus«, dessen Nachfolger sich für dieses Lehen natürlich nicht mit frommem Sinn, sondern mit barem Gelde entschädigen ließ. Ein jährlicher Lehnszins von 1000 Pfund Silber war nur der geringere Teil dieser Entschädigung; der größere Teil war die ungeheuerliche Schröpfung des englischen Volkes durch die päpstlichen Finanzleute. »Noch zur Zeit Edward III. (14. Jahrhundert) klagte das Parlament, daß die dem Papst jährlich gezahlten Abgaben fünfmal so groß seien als die dem König gezahlten.« (Kautsky.)
Im 14. Jahrhundert war die staatliche Regierungsgewalt in England so stark geworden, daß sie der Gewalt des päpstlichen Klerus ebenbürtig gegenüber stand. Aber zwei Ausbeuter vor demselben Ausbeutungsobjekt, hier das Volk, haben sich noch stets schlecht vertragen. So brach der Konflikt zwischen Staat und Kirche aus. Das Parlament strich den Lehnszins und nahm dem Papsttum seine bisherigen Ausbeuterrechte. Zugleich brach im englischen Volke die Opposition gegen die internationale Papstmacht schäumend hervor.
Ihr Anwalt war Johann Wiclef, ein zu Richmond in der Grafschaft Yorkshire geborener Gelehrter und Pfarrer, sowie Professor an der Universität Oxford (Bild 159). Wie alle Ketzer, so stützte auch er sich auf die Ideen der Urchristen und zog hieraus die Kraft, umsomehr gegen den Prunk und den Übermut der Päpste aufzutreten. Als Mitglied einer königlichen Gesandtschaft hatte er Papst Gregor IX. in Avignon aufgesucht. Das war der rechte Ort, um auch den gläubigsten Katholiken zum Ketzer zu machen, und der Anblick der unbeschreiblichen Verdorbenheit des päpstlichen Hofes bewirkte, daß Wiclef nun erst recht mit Worten glühenden Zornes gegen den Papst als den »Antichrist«, die Prälaten als »seine Söhne« zu Felde zog, die Berechtigung der päpstlichen Ansprüche auf Macht und Herrschaft bestritt und von Papst und Klerus die gleiche Armut, das gleiche Teilen der Güter verlangte, das Christus von dem reichen Jüngling gefordert hatte. Papst Gregor IX. nannte er höchst respektwidrig: » the must cursed of Clippers and Burse-kervers«, den »verfluchtesten Schafscheerer und Beutelschneider«. Doch war Wiclef in seiner ganzen Agitation ein bürgerlicher, kein proletarischer Ketzer. Sein Ziel war, genau so wie später bei dem deutschen Reformator Luther, die Herrschafts- und Machtmittel der Kirche aus den Händen des internationalen Papsttums in die Hände des nationalen Fürstentums zu bringen. Daher denn auch die englische Aristokratie den bürgerlichen Papstfeind alsbald unter ihre Fittige nahm, während sonst in allen Landen die weltliche Herrscherklasse sofort mit der kirchlichen gemeinsame Sache machte, wenn es gegen die kommunistischen Ketzer ging. Genau wie bei Luther. Dessen Papstfeindschaft tat den weltlichen Großen eben auch nicht weh, beförderte vielmehr ihre Macht- und Herrschaftsinteressen.
Die Bewegung des Wiclef aber hatte zur Folge, daß in England die Wellen der kommunistischen Ketzerei hoch aufbrandeten. Infolge der Entwickelung der Weberei waren wie nach Deutschland, so auch nach England flämische Weber in großer Zahl gekommen. Sie brachten den Kommunismus des Beghardentums mit, von den Engländern Lollhardentum genannt. Von Norfolk, dem Zentrum der Wollenindustrie, trugen diese Proletarier ihre kommunistische Agitation wie einen Feuerbrand durch das ganze Land. »Von dort aus durchzogen die Agitatoren der Lollharden, die ›armen Brüder‹ oder ›armen Priester‹ genannt, das ganze Land und predigten überall das Evangelium der urchristlichen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Gewissermaßen das Motto der Lollharden wurde der Volksvers:
Als Adam pflügt und Eva spann,
Wo war da wohl der Edelmann?«
So wuchs die Bewegung gegen Papst und Klerus durch das Erwachen des Proletariats zu einer allgemeinen Bewegung gegen das Ausbeutertum in geistlichem und weltlichem Gewande an. John Ball, einer der energischsten und beredtesten Agitatoren der Lollharden, brachte das in seinen Reden scharf zum Ausdruck. »Liebe Leute,« so rief er dem armen Volke zu, »in England wird's nicht besser werden, ehe nicht alles Gemeineigentum wird und es weder Hörige noch Edelleute gibt; ehe wir nicht alle gleich sind und die Herren nicht mehr wie wir. Sie tragen Sammet, Seide und Pelzwerk, wir sind gekleidet in elende Leinwand. Sie haben Wein, Gewürze und Kuchen, wir haben Kleie und trinken nur Wasser. Ihr Teil ist Nichtstun auf herrlichen Schlössern, der unsere ist Mühe und Arbeit, Regen und Wind auf dem Feld, und doch ist es unsere Arbeit, aus der sie ihren Prunk ziehen!« Dergestalt sang überall das getretene Volk das herzergreifende Klagelied seiner Not, aber Kirche und Herren hatten darauf auch überall dieselbe Antwort: Richtschwert und Scheiterhaufen.
Solange die proletarische Agitation den Bestrebungen der herrschenden Klasse, das reiche Kirchengut einzusacken und die Ausbeutungsrechte des Papsttums für sich zu erobern, mit zugute kam, ließ sie das Proletariat gewähren. Als sich aber immer deutlicher und schärfer die Forderungen des Kommunismus zeigten und der Donner der sozialen Revolution gegen die Ausbeutung überhaupt herangrollte, da war es mit dem »Wohlwollen« vorbei, und das gefährdete Eigentum erhob sich, um den rebellischen Bruder Hungerbauch zur Räson zu bringen.
Die lollhardischen Prediger hatten für ihre Lehren unter den englischen Bauern einen günstigen Boden gefunden. Durch den Krieg Englands mit Frankreich, durch den Druck der Steuern und die maßlose Ausbeutung seitens des Adels durch Zwangsarbeit, war die soziale Erbitterung der englischen Bauern bis zur Siedehitze gestiegen. Die lollhardische Agitation ließ sie zur hellen Flamme der Revolution auflodern. Im Juni 1381 erhob sich das ausgebeutete Bauernvolk, zumal in der Landschaft von Kent und Norfolk. In der ersteren Landschaft trat ein Ziegelbrenner Wat, Wat Tyler, an die Spitze der Empörung. Ein königlicher Steuerbeamter, der mit grausamer Härte von den Bauern die Abgaben eintrieb, vergriff sich in brünstiger Gier an Wats schönem Töchterlein, für welches er den »Jungfernzins« forderte, ob sie auch erst 13 Jahre war. Der rasende Vater schlug den Wüstling nieder.
»Der And're sah nicht, wie er stand, er zaust und reißt am Mieder;
Das Kind wehrt weinend der frechen Hand, die wühlend strebt hernieder.
Der Schwarzrock glüht, ihm fiebert die Stirn, entfallen ist ihm sein Stecken.
Da traf ihm Wat Tylers Hammer das Hirn –; todt sinkt er nach krampfigstem Recken.
Die Tochter läuft entsetzt hinaus, sie seh'n sie mit fliegenden Haaren,
Und Murmeln und Murren wächst rings um's Haus, schon drängen sich Schaaren an Schaaren+…«
(F. v. Sallet.)
So hatte sich das übermütige Triumphieren der Herrschenden wieder einmal selbst seinen Feind geschaffen. Wat Tyler marschierte an der Spitze der Bauern, welche sich freilich auch ohne dies erhoben hätten. Sie kamen nach London, zerstörten die Paläste ihrer Unterdrücker und errangen auch für eine kurze Weile den Sieg über den ausbeuterischen Adel, der sich um den erst fünfzehnjährigen König Richard II. gruppierte. John Ball wurde von den Bauern befreit, die nun drei entschlossene Männer: John Ball, Wat Tyler und einen Prediger Jack Straw zu ihrer Führung hatten. Nachdem es dem König jedoch gelungen war, Wat Tyler, den er zum Unterhandeln zu sich entboten hatte, auf freiem Felde im Angesicht des Bauernheeres meuchlings ermorden zu lassen, bekam der Adel wieder die Oberhand über die des Kriegführens und Diplomatisierens unerfahrenen Bauern. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, und mit furchtbarem Blutgericht suchten die Sieger die Führer der kommunistischen Bewegung in Stadt und Land heim. Über Fünfzehnhundert erlitten den Tod durch Henkershand, darunter auch John Ball und Jack Straw.
Als die englische herrschende Klasse im Bauernaufstand der sozialen Revolution ins Auge blickte, bemächtigte sich ihrer ein panischer Schrecken. Sie sah in den ketzerischen Angriffen auf die Kirche, wie sie von John Wiclef und seinen Genossen geschleudert worden waren, den Ausgangspunkt der kommunistischen Erhebung. Deshalb wendete sich die Stimmung gegen Wiclef. Zwar veröffentlichte dieser 1382 eine Schrift gegen den Bauernaufstand: » De blasphemia«. Aber es nützte ihm nichts. Sein Kampf gegen das Papsttum entsprach nun nicht mehr den Interessen der herrschenden Klasse, daher bekämpfte sie ihn. Er wurde seines Lehramts an der Oxforder Universität entsetzt und starb 1382 zu Lutterworth auf seiner Pfarre.
Papsttum und Klerus aber nutzten vortrefflich die Situation zu ihren Gunsten. Jetzt mußte die verloren gegangene Macht in England zurückerobert werden; jetzt mußte man die Ketzer vernichten, jetzt oder nie. So hörte man denn in den Palästen des Adels und in den Kirchen vor den Bürgern des Papsttums unermüdliche Anwälte. Seht Ihr, das ist die Folge der Rebellion wider Petri Stuhl! Aller Übel Ursache ist die Ketzerei! Der Papst ist der Herr der Welt; vernichtet des Papstes Gewalt und alles bricht zusammen! Beugt Euch unter die Autorität der Kirche, gebt Ihr die Macht, die Ketzer zu vernichten, ehe alle staatliche Ordnung zusammenbricht!
Und wie immer eine aus ihren satten Genüssen aufgeschreckte besitzende Klasse sich bedingungslos unter das Säbelregiment flüchtet, so flüchtete die herrschende Klasse Englands zurück in den Schatten des Papsttums. Der päpstlichen Diplomatie gelang es, gegen die Revolution von unten eine Revolution von oben zu machen. Thomas Arundel, seit 1396 Erzbischof von Canterbury, war dabei das vollziehende Werkzeug der päpstlichen Politik. Er sammelte einen Teil des Adels um den Herzog Heinrich von Lancaster, der als Heinrich IV. mit Waffengewalt auf den Thron erhoben wurde. Richard II. wurde im August 1399 hinterrücks gefangen genommen, im Tower zu London zum Verzicht auf den Thron gezwungen und dann nach dem Schlosse Pontfret in der Grafschaft York gebracht. Hier starb er am 14. Februar 1400 des schrecklichsten Hungertodes, nachdem man ihm seit dem ersten Tage jenes Monats alle Nahrung entzogen hatte. So sprang der »Knecht der Knechte« ( servus servorum), wie sich die Päpste anfänglich nannten, mit Königen um, die ihm nicht oder nicht genügend zu Willen waren!
Jetzt konnte auch in England das Papsttum seine ketzerischen Feinde ausrotten. Es ließ nicht lange auf sich warten. Schon nach kurzer Zeit brachte es den König dazu, förmliche inquisitorische Maßregeln anzuordnen. Es wurde allen Magistratspersonen und königlichen Beamten aufs strengste anbefohlen, alle »Wicleffiten« zu fassen und an die Bischöfe abzuliefern. »Als Ketzer soll,« so hieß es in den Akten, »Jeder angesehen werden, der nicht vor den Heiligenbildern niedersinkt oder sie nicht küßt, oder kein Zeichen von Verehrung gibt, wenn eine Prozession vorüberzieht, oder nicht vor dem Kreuze kniet, oder die Bibel in englischer Sprache besitzt, oder daraus vorlesen hört, oder Bekanntschaft mit solchen hat, welche die Bibel besitzen, oder verdächtige Personen besucht, oder nicht jede Woche die Messe hört, oder verächtlich von einem Priester spricht, oder auch nur durch sein Mienenspiel zeigt, daß ihm der römische Katholizismus nicht über alles geht.« Fürwahr, ein geschicktes Spinnennetz, zwischen dessen engen Maschen sich jede ketzerische Fliege fangen mußte!
Seit 1401 loderte durch England die blutrote Flamme der Scheiterhaufen. Das System der Angeberei dehnte sich so furchtbar aus, daß kein Nachbar mehr dem Nachbar, kein Freund dem Freunde, kein Verwandter dem Verwandten mehr traute! Mit der Einkerkerung war nämlich auch die Konfiskation der Güter verbunden und der fromme Angeber erhielt den dritten Teil. Ei, welch ein spitziger Stachel immer neue Ketzer herauszufinden! Unter solchen Umständen waren darum 1412 die päpstlichen Ketzerrichter bereits so mächtig, daß sie Wiclefs vermoderte Leiche wieder ausgraben, öffentlich verbrennen und ihre Asche in alle Winde zerstreuen konnten. Und weiter rauchte der Scheiterhaufen und holte selbst aus den höchsten Kreisen seine Opfer. So z. B. den Lord Cobham, den die Römlinge an beiden Füßen, den Kopf nach unten, an einen eisernen Galgen hängen und unter einem »gelinden Feuer« langsam zu Tode schmoren ließen.
So wurde auch in England der Triumph des Papsttums über die Ketzerei vollendet. Anscheinend! Denn in der Stille schritt sie weiter durch die Hütten der Armen und Elenden: »ich bin, ich war, ich werde sein!« –
Ein Heldenzeitalter, vergleichbar jener Epoche der großen französischen Revolution, die mit dem Jahre 1793 anhebt, begann für die kommunistischen Bestrebungen in Böhmen mit den Hussitenkriegen. So charakterisiert Karl Kautsky die Kämpfe, die in Böhmen ausbrachen.
Böhmen, das Land des im 13. Jahrhundert erschlossenen Silberbergbaues, war ungeheuer reich. Aber dieser Reichtum vermochte nicht, Kummer und Not von dem arbeitenden Volke fern zu halten. Denn das Volk seufzte unter einer schlimmen Fremdherrschaft, in welche sich die römische Kirche und das deutsche Ausbeutertum teilte. Die Verwaltungen bedeutender Bergstädte hatten die eingewanderten Deutschen an sich gerissen, die Gewerke der Bergbetriebe, der Kaufhandel und das vornehmere Handwerk, die Kunst und die Quelle der Bildung, die Prager Universität, befand sich in den Händen der Deutschen. Dieser deutschen Ausbeuterklasse stand gegenüber als ausgebeutete Masse die eingeborene tschechische Bevölkerung. Kein Wunder, daß sie von einem grimmigen Deutschenhaß ergriffen wurde, der heute noch im Böhmischen nachzuckt und sich in dem dortigen Nationalitätenhader zeigt.
Neben dem Haß auf die deutschen Ausbeuter wurde die böhmische Bevölkerung vom Haß auf die päpstliche Kirche ergriffen. Der ungewöhnliche Reichtum Böhmens machte das Land auch zu einem ungewöhnlichen Anziehungspunkt für den ewigen Geldhunger der Päpste. Böhmen wurde überschwemmt mit dem Ablaßkram und mußte daneben einen unersättlichen Klerus ernähren, dessen Häupter ebenfalls deutscher Abkunft waren. Nur die ärmlichen Pfarrstellen überließ man den Tschechen, die höheren Stellen des Weltklerus, wie die reichen Klöster, die Prager Domherrenstellen, befanden sich in deutschen Landen. Der Prager Erzbischof zu Huß' Zeiten, Konrad von Vechta, war »ein fanatischer Deutscher aus dem finstersten Winkel des Münsterlandes«. (Schlosser.) Die Erzbischöfe von Prag besaßen siebzehn große Herrschaften in Böhmen, außerdem die Herrschaft Kojetein in Mähren, Lühe in Bayern und kleinere Güter in Menge. Ihr Hofstaat wetteiferte oft mit dem königlichen an Glanz und ein Heer von Vasallen stand zu ihren Diensten stets bereit. Das Domkapitel von St. Veit in Prag gab allein 300 Klerikern fette Pfründen und mehr als hundert Dörfer waren entweder ganz oder zum Teil ihnen zu Benefizien angewiesen. Der Dompropst war für sich allein im Besitze der ganzen Herrschaft Wollin und von etwa zwölf kleineren Gütern. (Palacky.) Aeneas Sylvius, nachmals Papst Pius II., sagt in seiner »Geschichte der Böhmen« triumphierend: »Ich glaube, zu unserer Zeit gab es in ganz Europa kein Land, in dem so viele, so großartige, so reichgeschmückte Gotteshäuser zu finden waren wie in Böhmen. Himmelanstrebend waren die Kirchen+… Die hohen Altäre belastet mit Gold und Silber, das die Reliquien der Heiligen einschloß, die Priestergewänder mit Perlen gestickt, die ganze Ausschmückung reich, das Gerät aufs kostbarste+… Und nicht nur in Städten und Märkten konnte man dergleichen bewundern, sondern selbst auf Dörfern.« Wie herrlich mag diese schimmernde Pracht gewesen sein – wie groß aber auch die Ausbeutung, auf die sie sich stützte!
Diese Ausbeutung – die kirchliche des Papstes, die wirtschaftliche der fremdländischen Unternehmer- und Besitzerklasse – schuf unter der tschechischen Bevölkerung die Stickluft der Erbitterung, in welcher eine nationale und soziale Bewegung gedieh, deren Vertreter der Professor an der Prager Universität Johannes Huß wurde (Bild 162).
Seit 1402 war Huß auch Prediger an der Bethlehems-Kapelle in Prag und zeichnete sich durch seine überzeugende Beredsamkeit und seine freiheitlichen Ideen so aus, daß sein Name bald in ganz Böhmen genannt wurde. Die Gattin des Königs Wenzel IV. von Böhmen, Sophie, ernannte ihn sogar zu ihrem Beichtvater. Denn aus Hußens Ideen schimmerte zunächst nur der den Interessen Wenzels entsprechende nationale Gesichtspunkt heraus und so schien ihm auch die königliche Gnadensonne.
Um jene Zeit wurde Huß aber mit Hieronymus von Faulfisch, kurzweg Hieronymus von Prag genannt, bekannt (Bild 167). Dieser kam, nach langer Abwesenheit von seiner Vaterstadt, aus England zurück. An der Universität Oxford hatte er sich mit Wiclefs Ideen vollgesogen, mit denen nun auch Huß bekannt wurde. Diese Ideen wurden die Grundlage der Lehren des Huß. Mit feuriger Beredsamkeit verbreitete er sie und sie fanden in den Volksmassen jubelnde Aufnahme. Denn unter den schrecklichen Ketzerverfolgungen in Südfrankreich und Deutschland war viel waldensisches Proletariat nach Böhmen hinübergezogen und hatte in dem hochentwickelten Produktionsleben des Landes neue Existenz gefunden. Als Huß in tschechischer Sprache zu predigen begann, als er das Lasterleben des römischen Priestertums, dessen Reichtum das Volk neben seiner eigenen Armut auf Schritt und Tritt sah, schilderte, als er die Papstgewalt als den größten Feind der Christenheit und die heilige Schrift, d. h. die kommunistischen Ideen der Urchristen als die einzige Lebensquelle bezeichnete, da trat das von der waldensischen Agitation bereits beeinflußte Volk in Massen auf seine Seite. Aber es erstanden ihm auch Feinde ringsum. Die Prager Universität wandte sich zuerst gegen Huß und bezeichnete 45 Wiclefitische Sätze, welche Huß verbreitete, als Ketzerei. Doch Huß trug zunächst den Sieg davon und wurde, als die Universität dem Einfluß der Deutschen entzogen war, sogar zu ihrem Rektor gewählt.
Doch nun bekam Huß die ganze Klerisei auf den Hals und der Kampf wurde immer heftiger. 1412 erhob sich Huß mit heiligem Zorn gegen die neue Volksausbeutung, welche ein Ablaßhandel Papst Johannes XXIII. bezweckte. Die tschechische Bevölkerung Prags verbrannte die päpstlichen Bullen und lieferte dem Klerus und den Deutschen Kämpfe. Huß stand an der Spitze einer neuen ketzerischen Rebellion gegen Papst und Klerus.
Der Papst würde sich schon längst mit Inquisition und Scheiterhaufen auf seinen neuen Feind gestürzt haben, wenn es – einen Papst gegeben hätte. Aber es gab damals ihrer drei. Es war die Zeit der bereits früher erwähnten großen Kirchenspaltung und die politischen Interessengegensätze, welche sie bewirkten, kamen zunächst der hussitischen Bewegung zu gute. Aber 1414 trat der große Kirchenkongreß zu Konstanz zusammen, welcher die päpstliche Kirche neu einigen sollte. Den Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen, Äbten, Fürsten, Grafen, Doktoren und Mönchen erschien bald die Unterdrückung der gefahrdrohenden böhmischen Ketzerei wichtiger als alles andere. Die Klerisei brachte den Kaiser Sigismund auf ihre Seite. Als Bruder König Wenzels war er der voraussichtliche Erbe der böhmischen Krone. Der Klerus ängstigte ihn weidlich mit der von Huß ausgesprochenen Drohung, Böhmen werde nicht bloß von der Kirche, sondern auch vom Reich abfallen. Die Gefährdung seiner eigenen Interessen war für den Kaiser Grund, Huß vor das Konzil zu bringen.
Mit einem kaiserlichen Geleitsbrief versehen erschien Huß im November 1414 zu Konstanz. Schon nach 28 Tagen erfuhr er, welchen Wert ein kaiserlicher Geleitsbrief für einen »Ketzer« habe. Vor ein Kardinalkollegium geführt, wurde er als Ketzer gefangen hinweggeführt, obwohl der Geleitsbrief »dem ehrenwerten Johannes Huß« »frei Kommen, frei Bleiben, frei Zurückreisen« versprach. Ja, des Papstes Johannes XXIII. Faust, der wütend begehrt hatte, »daß man den Verhaßten augenblicklich und ungehört den Flammen übergeben solle«, erwies sich stärker als das Stück Papier des Kaisers. Zwar hatte der Kaiser einige Bedenken und meinte, wie Ulrich Reichenthal erzählt, daß es ihm große Unehre wäre, sein frei sicher Geleit zu brechen. Aber die Leute des Papstes bewiesen ihm, »daß ein Ketzer nicht mit Recht auf sicher Geleit Anspruch machen könne«. Und da ließ er's gut sein. Huß aber schmachtete in einer immer schrecklicher werdenden Kerkerhaft, die nur solange ausgedehnt wurde, weil man ihn zum Widerruf zu bringen hoffte. Indem die Inquisitoren des Papsttums den Eingekerkerten an seiner eignen Gesinnung zum Lumpen machen wollten, glaubten sie das Mittel zu haben, die ganze böhmische Bewegung zu erdrücken. Aber der in der Kerkerhaft schmachtende verratene Volksführer tat ihnen den Gefallen nicht, ob auch alle Tage seine Kerkermeister ihn anschrieen: »Widerrufe oder stirb!« Auch in der Farce von Gerichtsverhandlungen, welche die Kardinäle, Prälaten und Doktoren über Huß abhielten, war das »Widerrufe! Widerrufe!« der Inhalt des tobenden Geschreies, mit welchem man Huß am Reden verhinderte. Er beschämte die richtenden Fanatiker, indem er schwieg. Am 6. Juli 1415 sprachen sie das Verdammungsurteil über ihn und seine Schriften.
Es ist ein erschütternder und erhebender Anblick zugleich, zu sehen, wie alle diese Vorläufer des Sieges über die mittelalterliche Pfaffenherrschaft gleich den antiken Helden aufrecht und ruhig in den Flammentod gegangen sind. Offenbar waren sie schon erfüllt von dem Geiste der neuen Zeit und die tobenden und schreienden Träger der Kirchenmacht fühlten ihrerseits den Boden unter den Füßen wanken. Deshalb schwieg Huß vor seinen Henkern wie ein stolzer Sieger, und als sie seine Schriften verbrannten, frug er lächelnd, wie sie Schriften als ketzerisch verbrennen könnten, die sie weder zu verstehen noch zu widerlegen wüßten. Schon als er an den Brandpfahl gebunden war und die Flammen emporzüngelten, war er noch schändlichen Beleidigungen und Mißhandlungen durch den ungeheuer großen Haufen fanatisierter Menschen ausgesetzt, der sich zu dem frommen Sensationsstück, einen Ketzer schmoren zu sehen, zusammengefunden hatte. Als Huß im Rauch den Erstickungstod kämpfte, sah er ein altes Weiblein in eiliger Hast ein Holzscheit herbeischleppen. Sie wollte sich den Himmel verdienen, indem sie den Ketzer rösten half. » O sancta simplicitas!« (O heilige Dummheit!) rief der sterbende Held förmlich ergriffen aus. Ja, sie stand vor ihm, die heilige Dummheit, der tausendköpfige heulende und tobende Koloß, der auch uns noch »umlagert schwarz und dicht«, der Unverstand der Massen, »den nur des Geistes Schwert durchbricht«!
Mit peinlicher Sorgfalt wurde die Asche des Verbrannten gesammelt, damit nicht ein heimlicher Ketzer eine »Reliquie« bekäme. Die Asche streuten sie in den Rheinstrom, dessen Wellen sie vorbei an der alten »Pfaffengasse« ins ewig freie Meer hinaustrugen.
Unterdessen hatte der Klerus auch den Kampfgefährten des Huß, Hieronymus von Prag, in Konstanz gefangen gesetzt. In einem finsteren Turm des Dominikanerklosters lag er, an einen Klotz gefesselt, und war durch kümmerliche Nahrung so heruntergekommen, daß er einem Gerippe ähnlich sah. Infolge der jämmerlichen Behandlung halb umnachteten Geistes, ließ er sich zu einem Widerruf bringen. Aber als er, nun in einem besseren Kerker sitzend, wieder zu Kräften gekommen war, dauerte ihn seine Schwäche, und am 14. Mai 1416 bekannte er sich vor dem versammelten Konzil abermals laut zur »Ketzerei«, indem er die Lehren Hussens und Wiclefs lobpries. Selbst die Päpstlinge sahen bewundernd auf den mutigen Mann. Der gelehrte Florentiner Poggio, des Papstes Martin Sekretär, stellte ihm in einem Briefe an Aretin das schönste Zeugnis aus: »Nie habe ich einen so beredten Mann gesehen,« schreibt er, »der den alten Rednern so nahe kommt, als Hieronymus. Seine Feinde hatten mehrere Anklagen aufgesetzt, um ihn der Ketzerei zu beschuldigen, und er verteidigte sich so schön, so bescheiden und so klug, daß ich nicht imstande bin, es auszudrücken+… Hieronymus rührte alle Herzen, wenn er nur einigermaßen sich entschuldigt und um Gnade gebeten hätte, er wäre frei hinweggegangen. So aber sprach er von Huß, nannte ihn einen frommen, heiligen Mann, der ungerecht verurteilt sei, denn er habe nur gegen die Mißbräuche der Kirche, gegen Stolz und Hochmut der Prälaten und gegen ihre Üppigkeit, mit der sie die Güter der Armen mit Huren, Fressen, Saufen, Spiel, Jagd und Pracht verpraßten, geeifert. Hieronymus war schon 340 Tage in einem feuchten, finsteren Turm gesessen und konnte eine so treffliche Rede halten, voll Beispielen berühmter Männer und Grundsätzen der Kirchenväter. Sein Name verdient unsterbliche Ehre+… Hieronymus war aus der Schule der alten Weisen, weder Scaevola hat seine Hand so mutig ins Feuer gehalten als Hieronymus seinen ganzen Körper, noch Sokrates den Giftbecher so gelassen geleeret, als Hieronymus den Scheiterhaufen bestieg.« Am 30. Mai 1416 ging er denselben Weg, den Huß gegangen, und auch seine Asche verschlangen die Wellen des Rheines (Bild 164 und 165).
Das Papsttum stand als Sieger da, es hatte die Köpfe der böhmischen Ketzerei vernichtet. Nun galt es, diese Bewegung selbst niederzuschlagen. Unermüdlich stachelten die päpstlichen Gewaltpolitiker Kaiser Sigismund und König Wenzel von Böhmen gegen einander auf. In derlei Intrigantenkünsten waren sie wohl erfahren. Als nun König Wenzel gar infolge der Erhebung der Prager Hussiten von Prag geflohen, auf seiner Burg Wenzelstein am Schlagfluß starb und Kaiser Sigismund Erbe Böhmens wurde, war die Bahn frei, um gegen die Hussiten mit Waffengewalt vorzugehen. Unter dem Segen der Päpste fiel der Kaiser in Böhmen ein und hauste dort mit der entsetzlichsten Barbarei, bis ihn Nikolaus von Hussinez bei Tabor (Bild 163) aufs Haupt schlug.
Für die Hussitenrevolution war die Verbrennung Johannes Huß' das Signal gewesen. Der an Huß begangene Treubruch wie auch der ganze Prozeß mit seinem blutrünstigen Ende mußte das national und sozial erregte Volk Böhmens gegen seine politischen und kirchlichen Feinde in Bewegung bringen. Aber die Hussitenrevolution wurde nicht von einer einigen Masse gemacht. Wie alle vorhergegangenen Erhebungen wider das Papsttum in England, Italien und Südfrankreich, so zerfiel auch diese nach sich widerstreitenden ökonomischen Interessen. Den Kern bildete das bäuerliche und industrielle Proletariat, durch die waldensische und beghardische Einwanderung mit kommunistischen Ideen gesättigt. Es stand anfänglich unter der Führung des kriegerischen Ziska von Troenow (Bild 168) und hatte seinen Mittelpunkt in der Stadt Tabor. Neben diesem Kern der Kommunisten stand zur hussitischen Bewegung noch der böhmische Kleinadel. Er hatte sich der Kirchengüter bemächtigt und sein Hussitentum war ihm der Vorwand, die fette Beute festzuhalten. Auch das Bürgertum stand mit zu den hussitischen Revolutionären, war aber den kommunistischen Grundtendenzen der Bewegung durchaus feindlich.
Dieser ökonomische Widerstreit ließ bald die hussitische Bewegung auseinander fallen und erleichterte dem Papsttum seinen Plan: die »Vernichtung aller Hussiten«. Immer neue Kriegerscharen hetzte der Papst nach Böhmen und tauchte das ganze Land in Blut. Namentlich als 1431 Kardinal Condolmerio als Eugen IV. auf den päpstlichen Stuhl kam, wurde überall das Kreuz gegen die böhmischen Ketzer gepredigt. Da Böhmen ein reiches Land war, dessen kriegsmäßige Ausraubung viel Beute verhieß, fand der Papst genug Kriegsvolk, welches sich sengend, brennend, raubend, mordend nach Böhmen hineinwälzte. Aber dort war der Sieg nicht so leicht zu erjagen. Die taboritischen Kommunisten hatten zu ihrer Verteidigung eine Heeresorganisation geschaffen, die den mittelalterlichen Söldnerhaufen weit überlegen und ein furchtbarer Feind war. Das Papsttum nahm deshalb seine Zuflucht zu dem alten Mittel der List. Es machte seinen Frieden mit dem adlig-bürgerlichen Teil der Bewegung, in dem es sich auf Konzessionen einließ. Dann stürzte es sich mit einer erdrückenden Übermacht auf den proletarischen Teil der Hussitenbewegung, die taboritischen Kommunisten. In der Schlacht bei Böhmischbrod am 30. Mai 1434 schlug das päpstliche Heer von hunderttausend Mann das taboritische von dreißigtausend Mann in furchtbarem Kampfe nieder, nachdem die päpstliche Armee Prag eingenommen und dabei nicht weniger als zweiundzwanzigtausend kommunistische Ketzer, Männer, Frauen und Kinder, hingeschlachtet hatte. Nach der Schlacht bei Böhmischbrod zündeten die Päpstlichen einen Riesenscheiterhaufen an, in welchen sie alle Gefangenen hineinwarfen. Danach durchzogen sie das Land, die verborgenen Taboriten zu suchen und zu töten.
Aber selbst inmitten dieses greuelvollen Wütens hielt sich Tabor noch jahrelang mit den Waffen in der Hand, und wenn auch das Papsttum siegte, so war der furchtbare Widerstand, den das kommunistische Ketzertum auf seinem letzten Zufluchtsboden, Böhmen, der Papstmacht entgegensetzte, doch das Menetekel, welches der mittelalterlichen Kirche den baldigen Zusammenbruch ihrer alten Macht ankündete.
Mit derselben Grausamkeit, mit welcher das Papsttum gegen die ketzerisch-kommunistischen Massenbewegungen im Mittelalter wütete, schlug es die lokale Opposition gegen seine Herrschaft nieder, auch wenn diese in keinem Zusammenhang mit der kommunistischen Ketzerbewegung stand. Gewalt und wieder Gewalt, das ist eben das Alpha und Omega der dem Untergang geweihten Mächte. Deshalb wurde Savonarola, der finstere Mönch, in dem noch einmal die Askese des Mittelalters auflebte, 1498 zu Florenz mit seinen Genossen Domenico da Pescia und Sylvester Maruffi gefoltert, gehenkt und dann verbrannt. Was hatte der Asket getan? Als dieser Prior des Klosters von San Marco predigend in den Straßen von Florenz erschien, war er einer jener verachteten Mönche, über welche die Welt am Ausgange des Mittelalters bereits lachte und spottete. Und als er, erfüllt von finsteren Höllenbildern, mit Donnerworten sich gegen den heiteren Lebensgenuß wandte, der menschlichen Fröhlichkeit die menschliche Niedrigkeit und Verworfenheit entgegenstellte, daß es wie ein Schauer über die Zuhörer kam, konnte die Kirche wohl zufrieden sein. Karten- und Würfelspiel wurde verboten, die Buhldirnen verjagt und auf dem Signorenplatz von Florenz die großen Autodafés abgehalten, bei denen auch die Meisterwerke der Literatur, Malerei und Bildhauerei mit verbrannt wurden. Als ein anwesender venezianischer Kaufmann mit 22 000 Goldtalern die Kunstwerke vor den Flammen retten wollte, erreichte er bloß, daß der mönchische Fanatismus ihn selbst porträtierte und sein Bild mit dem Übrigen verbrennen ließ. Es war eine Orgie des Barbarismus, über welcher der Geist der finstersten Möncherei schwebte (Bild 171).
Aber der herbe Bußprediger beschränkte sich nicht auf den Kampf nach außen. Er griff auch die Kirche und das Papsttum an und den Kardinalshut, den ihm der päpstliche Nero, Alexander VI., verlockend hinhielt, schlug er aus. Seine Bußpredigten, seine theokratisch-republikanischen Ideen bedrohten auch das Wohlleben der Mönche und die päpstliche Macht. Von dem Augenblick an war er geliefert; Bann und Folter und Tod brachten den lästigen Asketenmund zum Schweigen (Bild 169 und 170). Ein höchst bequemes Mittel, und das Papsttum siegte damit über Königsmantel und Kutte.
Mit dem Scheiterhaufen glaubte das Papsttum auch die Wissenschaft bannen zu können. Seinen Untergang vor Augen, machte es den verzweifelten Versuch, dem Siegesschritt der geistigen Erkenntnis Einhalt zu tun. Tauchte eine dem Papsttum unbequeme Idee auf – wohlan, so laßt den Scheiterhaufen rauchen und schweigt! Die Geschichte des Papsttums zeigt die blutige Spur der gefolterten und getöteten Denker aller Völker. Wer nicht dem Scheiterhaufen verfiel, führte ein Leben der Verfolgungen, des Hungers und Kummers. Giordano Bruno, der abtrünnige Dominikanermönch und berühmte Philosoph, verfiel dem Scheiterhaufen, wobei er seinen Richtern das Donnerwort zurief: » Ihr fällt das Urteil mit größerer Furcht, als ich es empfange!« Galileo Galilei, der geniale Erforscher der Himmelskörper mittels des Fernrohres, mußte seine »Ketzerei« – nämlich die kopernikanische Lehre – auf den Knien abschwören und blieb bis an sein Lebensende der »Gefangene der Inquisition«. So hat noch immer die Macht die eiserne Faust in den Nacken gedrückt.
Und wie gegen die lebendigen Ketzer, so wütete die Kirche auch gegen die geschriebene und gedruckte Ketzerei: gegen die Bücher. Sie kannte die furchtbare Gewalt des vervielfältigten Wortes und verfolgte es mit grimmigem Hasse, wenn es anderes sagte, als den klerikalen Interessen entsprach.
Frühzeitig fing die Kirche mit der Bücherverfolgung an. Bereits im zweiten Jahrhundert kommen Verzeichnisse von Büchern vor, welche als »häretisch« nicht von den Gläubigen gelesen werden durften. So lange die Kirche die ganze Buchindustrie selbst in Händen hatte und manche Klöster ein ganzes Heer klerikaler Arbeiter mit Bücherabschreiben und Schriftmalen beschäftigten, besaß sie auch die Macht, die buchmäßige Weiterverbreitung »häretischer« Ideen zu verhindern. Was dem Klerus nicht beliebte, wurde nicht vervielfältigt. Ach, was gäben heute die Feinde der Volksaufklärung darum, wenn sie diese »ungedruckte Glaubenszeit« wieder herbeischaffen könnten!
Aber diese geistige Bastille wurde durch die Erfindung Gutenbergs in tausend Trümmer gelegt. Die flinken Armeen der Holztypen, die sich zusammenfügten und wieder auflösten, trugen mit Windeseile die Ketzereien in die Ferne, daß kein eifriger Mönch ihnen mit gleicher Schnelligkeit zu folgen vermochte. Das befreite Wort fiel wie Blitz und Donner in das finstere Gemäuer der mittelalterlichen Priesterherrschaft.
Gleich nach Erfindung der Buchdruckerkunst begann denn auch ein verzweifelter Kampf der Kirche mit dieser »Erfindung des Teufels«. Die Verzeichnisse der ketzerischen Schriften mehrten sich, die Buchdruckereien wurden von den Inquisitoren verfolgt. Auf das Lesen verbotener Bücher wurde härteste Strafe, Infamie und Amtsentsetzung angedroht.
Unter Pius IV. wurden durch eine Bulle alle diese Verzeichnisse zu dem päpstlichen Index librorum prohibitorum (Verzeichnis verbotener Bücher) zusammengefaßt. Der Index hat sich in der Geschichte einen furchtbaren Namen gemacht und er besteht bis auf den heutigen Tag, wenn er auch heute seine frühere Bedeutung nicht mehr hat.
Der Index war das Inquisitionsgefängnis, welches gefährliche Gedanken für immer begraben sollte. Solange die Kirche die ausschließliche Macht hatte, war die Aufnahme eines Buches in den Index gleichbedeutend mit der gänzlichen Unterdrückung und mit der Ächtung seines Autors. Der höhere Klerus übte die Bücherzensur und spürte in jeder Zeile ketzerischen Gedanken nach. Noch heute darf kein Weltgeistlicher der katholischen Kirche ein Buch über irgend einen Gegenstand veröffentlichen, ohne die bischöfliche Erlaubnis zu haben. Das Leseverbot wurde streng durchgeführt und wie durch dieses Verbot jede unabhängige Forschung unmöglich gemacht wird, zeigt der von klerikaler Seite veröffentlichte Kommentar zum Index, in welchem es heißt: »Im allgemeinen sind Professoren nicht an und für sich zur Lektüre verbotener Bücher befugt+… sie bedürfen vielmehr einer eigenen Erlaubnis+… Kompetent zur Erteilung dieser Erlaubnis ist an sich nur der heilige Stuhl. Durch die sogenannten Quinquennal-Fakultäten sind die Bischöfe befugt, auf Zeit, also nicht auf Lebensdauer, die Vollmacht zur Lektüre verbotener Bücher zu geben.« So wurde selbst bei den »Gutgesinnten« nach Möglichkeit die Lektüre ketzerischer Schriften verhindert, um selbst die bloße Kenntnisnahme zu verhindern. Die Strafen, bis zur Exkommunikation, trafen und treffen alle diejenigen, »welche lesen, aufbewahren, irgendwie verteidigen oder drucken lassen die Schriften von Apostaten und Häretikern, welche die Häresie verteidigen.« Der Index machte die Denunziation ketzerischer Bücher zur Pflicht. Die Nuntien, päpstlichen Delegaten, Bischöfe und Rektoren der Universitäten sind noch heute gehalten, jedes »verderbliche« Buch zu denunzieren! Ein Kommentator des Index (Professor des Kirchenrechts Hollweck, Eichstädt) erläutert, »daß es gar keinen Sinn habe, dem Denunzierten den Namen des Denunzianten mitzuteilen. Das könnte und müßte dem Denunzianten höchstens Unannehmlichkeiten bereiten und würde nur andere abschrecken, ihre Pflicht zu tun.« Das Denunziantentum, ermutigt durch die Feigheit.
Mit dem Index in Händen bekämpfte das Papsttum die gedruckte Ketzerei. Bücher wurden verfolgt wie lebende Ketzer, vor Gericht gestellt und feierlich dem Scheiterhaufen übergeben. Aber der seiner Fesseln ledige Menschengeist trug über alle Knebelung den Sieg davon. Der Index wurde immer länger und bewies gerade dadurch, wie die Wissenschaft über die Kirche hinwegschritt. Hätte diese heute die Macht, ihrem Index die alte Gültigkeit zu verschaffen und alle »häretischen« Schriften zu vernichten, so würde fast die ganze wissenschaftliche Literatur der letzten Jahrhunderte verschwinden. Denn auf dem neuesten Index (Rom 1900) stehen selbst Descartes, Spinoza, Hume, Kant, Comte, Goethe, Voltaire, Rousseau, es stehen ferner Renan, Darwin und sogar die Werke – Friedrichs des Großen! Mit anderen Worten auf dem Index steht alles Große und Bedeutsame, all das worauf die Menschheit als geistige Kulturerrungenschaft stolz sein kann.
Der Index hat heute keine allgemeine Bedeutung mehr. Er ist der in unsere Zeit hineinragende Rest des furchtbaren Krieges, den das Papsttum gegen das Erwachen der Völker und der Geister führte, und in dem es schließlich unterlag, des Krieges zwischen der Kirche und der an ihr geübten Kritik.