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Dynastische Verlegenheiten in Brandenburg. – Wie Markgraf Albrecht Kirchenfürst wurde und wie er sein Pallium bezahlte. – Der Palliumablaß. – Der Ablaßkrämer Tetzel. – Der sächsische Kurfürst und der Ablaßhandel. – Die Mißstimmung im Bürgertum und Proletariat. – Wirkungen des Ablaßtreibens. – Martin Luther. – Der Thesenanschlag. – Ein verdorbenes Geschäft. – Wie Albrecht und Joachim den Ablaß retten wollten. – Luthers Auftreten nicht die Ursache, sondern die Wirkung der Ablaßbewegung. – Luthers Popularität. – Die Papstmacht rückt an. – Erste Niederlage der Papstmacht. – Luther in Augsburg vor Cajetan. – Zweite Niederlage der Papstmacht. – Die große Volksstimmung radikaler als Luther. – Die Leipziger Disputation mit Eck; Luther tritt als Ketzer hervor.
Im Jahre 1499 war der Kurfürst Johann von Brandenburg unter Hinterlassung zweier Söhne im Alter von 15 und 9 Jahren, Joachim und Albrecht, gestorben. Die beiden wurden gemeinsame Herrscher von Brandenburg, und da auf einem Thron für zwei Herrscher schlecht Platz ist, so wäre eine Teilung Brandenburgs auf die Länge der Zeit nicht zu vermeiden gewesen. Eine solche Teilung würde aber den Interessen des Herrscherhauses Hohenzollern nicht entsprochen haben. Dieses hatte, seitdem ihm unter Kaiser Sigismund die Mark Brandenburg abgetreten worden war, unablässig nach Festigung und Erweiterung seines Landbesitzes, nicht nach Schwächung und Zersplitterung desselben gestrebt. Es suchte deshalb auch jetzt die Teilung unter allen Umständen zu vermeiden. Kurfürst Joachim sah sich nach einer entsprechenden Versorgung seines Bruders, des Markgrafen Albrecht, um, nachdem dieser das 16. Lebensjahr erreicht hatte. Schon früher ist dargelegt worden, daß es in den Fürsten- und Adelsfamilien Brauch war, Söhne und Töchter, denen man nicht Land und Leute überweisen konnte, die kirchliche Karriere machen zu lassen. Sie bekamen irgend einen geistlichen Sitz und fanden im Schoße der Mutter Kirche die Stellung, die sie in der Welt nicht erringen konnten.
So geschah es auch mit dem jungen Markgrafen Albrecht von Brandenburg, um seinem Bruder den brandenburgischen Thron ungeschmälert zu erhalten und die dynastischen Herrschaftsinteressen zu wahren. Markgraf Albrecht trat in den geistlichen Stand und drang so fabelhaft rasch in das verwickelte römisch-kirchliche Theoriennetz ein, daß er bereits mit 16 Jahren die Priesterweihe erhielt. Sein Bruder Joachim sah sich nun eifrig nach einer kirchenfürstlichen Stellung für ihn um. Ein Versuch, das Bistum Utrecht von dem bisherigen Inhaber für eine Jahrespension von 6000 rheinischen Gulden zu erkaufen, schlug zwar fehl, dafür aber gelang es dem geschickten Unterhandeln des Kurfürsten Joachim, dem Bruder das Bistum Halberstadt und die Erzbistümer Magdeburg und Mainz zu erkaufen. Das war ein glänzendes Geschäft. Im Jahre 1514 war der damals vierundzwanzigjährige Markgraf Albrecht nicht nur wohl versorgt im geistlichen Stande, sondern die beiden Fürsten besaßen nun auch zwei unter den sieben Kurfürstenstimmen des Reiches und waren damit zu großem Einfluß in den Reichsangelegenheiten gelangt.
Wenn die päpstliche Kirche solchen Handel duldete, so verlangte sie, daß sie dabei nicht zu kurz komme. Die »Simonie« – der geistliche Ämterschacher – war eine Haupteinnahmequelle des päpstlichen Hofes. Auch der nunmehrige jugendliche Erzbischof und Primas von Deutschland, Markgraf Albrecht, mußte sich das »Pallium« vom Papste gegen Zahlung von 30 000 Gulden kaufen und sich außerdem verpflichten, ein für 42 000 Gulden verpfändetes kurmainzisches Amt dem Hochstift einzulösen. Solche an die päpstliche Kasse zu zahlende Kaufsumme war eine so eingebürgerte Abgabe, daß sich die Ersteher von Kirchenämtern dagegen gar nicht mehr sträubten. Auch den beiden brandenburgischen Fürsten machte nicht die große Summe an sich Kopfschmerzen, sondern vielmehr der Weg, auf dem man sie bekommen konnte. Gewöhnlich preßten die kirchlichen Würdenträger, wie früher geschildert worden, die Palliumgelder einfach aus ihren Bistuminsassen heraus. Das Mainzer Bistum aber war durch mehrmalige, kurz hintereinander erfolgte Erledigung des Mainzer Stuhles so ausgesogen, daß sich Markgraf Albrecht bei der »Wahl« hatte verpflichten müssen, selbst für die »Annaten« (Abgabe des neuen Priesters) aufzukommen. Das Versprechen war leicht gewesen, nicht so leicht das Bezahlen.
In dieser fatalen Geldverlegenheit kam der Papst Leo X. selbst den bedrängten fürstlichen Brüdern zu Hilfe, und zwar mit einem gütlichen Vergleich, wie er damals ebenfalls zwischen Kirche und Herren gebräuchlich war. Er schlug ihnen einen Ablaß in den Landen des neuen Erzbischofs vor und zwar dergestalt, daß er, der Papst Leo X., einen Sündenablaß für alle Diözesen des Kirchenfürsten Albrecht verkünden, Albrecht denselben aber eintreiben sollte. Von dem Erlöse sollten Papst und Fürst halbpart machen; die eine Hälfte fiel dem päpstlichen Stuhl zu, von der anderen sollte Kurfürst Albrecht sein »Pallium« bezahlen. Und damit der Papst ja ganz sicher ging und aller Weiterungen überhoben war, mußte das große deutsche Bankhaus Fugger in Augsburg die 30 000 Gulden im voraus bezahlen. Mit letzterer Bestimmung war der Eingang der Gelder ganz sicher gestellt, denn die Fuggers waren die berüchtigsten kaufmännischen Wucherer ihrer Zeit, die das geliehene Geld mit Zins und Zinseszins eintrieben. Die Fuggers waren solcher Geschäfte auch wohlerfahren. Sie waren die Bankiers von Staaten und Kirche, von Fürsten und Papst, und zumal hatten sie es zu ihrer kaufmännischen Spezialität gemacht, geschäftsmäßig kirchliche Pfründen aufzukaufen, um sie mit Wucherzinsen an zahlungsfähige Kleriker wieder zu verkaufen. Wie heute die Landbanken große Güter ausschlachten, deren adlige Besitzer den letzten Pfennig durch die Kehle gejagt haben, so schlachteten die Fuggers planmäßig hohe Kirchenämter aus. Auch am Ablaßhandel der Päpste waren sie oft beteiligt. Die Einlösung der Wechsel für die Seelen im Fegfeuer brachte haufenweis klingende Münze in ihren Beutel.
Solches Geschäft brachte der Papst aus dem Hause Medici nicht in Vorschlag, weil ihm das Wohlergehen des Kirchenfürsten aus dem Hause Hohenzollern besonders am Herzen gelegen hätte, sondern weil er sich selbst in arger Geldbedrängnis befand. Der eitle, pracht- und prunkliebende Medicäer verbrauchte Riesensummen. Man berechnete, daß allein der Tisch dieses Nachfolgers des armen Fischers Petrus jährlich 90 000 Dukaten erfordere, nach heutigem Gelde etwa 810 000 Mark! Nepoten, Schmarotzergesindel aller Art, Hofleute, kostspielige Kriege, vor allem der Neubau der uralten Peterskirche verschlangen Summen, die selbst der größte Geldstrom nicht herbeiführen konnte. Gerade damals aber zeigte sich die Christenheit der unaufhörlichen Geldopfer für Rom überdrüssig. Der »Türkenzehnte« – Abgabe zum Krieg gegen die Türken –, der seit 1515 von den christlichen Mächten erpreßt wurde, ging sehr schlecht ein. Der Papst mußte deshalb zu einem anderen Mittel des Gelderwerbs greifen, und da sich die Sünden der Deutschen dank dem ökonomischen Aufschwung, den Deutschland genommen hatte, noch am besten rentierten, wurde beschlossen, Ablaßprediger nach Deutschland zu senden und durch eine gründliche Ablaßagitation dort das Fett von der Prosperitätssuppe zu schöpfen.
Der Kurfürst Albrecht aber hatte keine Ursache, das Geschäft von der Hand zu weisen. Denn erstens kam er dergestalt zu dem notwendigen Pallium, ohne daß es ihm auch nur einen verdammten Pfennig kostete. Andererseits waren solche Ablaßgeschäfte zwischen Papst und Fürstenhöfen durchaus ländlich-sittlich. Die deutschen Fürsten duldeten in ihren Landen den Ablaß des Papstes nicht etwa bloß aus religiösen Gründen, sondern konzessionierten ihn gewissermaßen durch Einhebung von Abgaben. Markgraf Albrecht tat also nur, was alle deutschen Fürsten taten, wenn er dem Papst unter solchen Umständen gestattete, die ihm untertanen Sünder mit einem Ablaß zu beglücken.
So kam denn der Vertrag zwischen dem Papst und dem neuen Erzbischof von Magdeburg und Mainz, Kurfürsten Albrecht zustande. Die Sache wurde mit all' der Gründlichkeit und Umsicht, welche die Spekulation des Papstes, wollte sagen: das Seelenheil der Gläubigen erforderte, betrieben. Die Diözesen des Erzbischofs Albrecht wurden in mehrere Bezirke zerlegt. Für jeden ernannte der jugendliche Erzbischof einen Unterkommissar, der mit dem Ablaß umherreiste. Mit ihnen reisten die Kommis des Hauses Fugger. Sie nahmen die eingehenden Summen zur Kenntnis, und zogen sofort den Fuggerschen Anteil nebst Wucherzinsen ab. Der wackere Erzbischof Albrecht pries seinen Diözesanen den Ablaß, der doch keinen anderen Zweck hatte als den, seine Palliumschulden beim Bankhaus Fugger zu decken, wie ein Marktschreier an. Vielerlei Gnaden, so sagte dieser Kirchenfürst, würden durch den Ablaß erworben: erstlich vollkommene Vergebung aller Sünden, Wiedererlangung der göttlichen Gnade, Befreiung vom Fegfeuer; zweitens die Erlaubnis, sich einen beliebigen Beichtvater statt des ordentlich bestellten auszuwählen und sich von diesem Beichtvater von Verbrechen und Strafen absolvieren zu lassen; drittens die Teilnahme an allen Gütern der allgemeinen Kirche, an Gebeten, Wallfahrten und anderen verdienstlichen Leistungen der sämtlichen Glieder der Kirche; viertens erwerbe man auch für die im Fegfeuer befindlichen Seelen der Abgeschiedenen einen vollen Erlaß ihrer Sünden. Und alle diese Herrlichkeit erlangte man »um einen Viertelsgulden«, der durch des Ablaßpredigers Hand in den großen Geldkasten der Fugger floß.
Damit der Palliumablaß bei der Masse mit ehrfürchtigem Erschauern aufgenommen würde, sorgte Albrecht von Mainz allerorts für einen pompösen Empfang der mit der päpstlichen Ablaßbulle ausgestatteten Ablaßprediger. Er verfügte, daß überall die klerikalen Würdenträger und die Behörden den Ablaßpredigern entgegenkommen mußten. Es war überall dasselbe Bild, wie es der Bericht eines Augenzeugen beschreibt: »Der Ablaß war so hoch geehrt, daß, wenn man den Kommissarium in eine Stadt einführte, man die Bulle auf einem sammtnen oder goldenen Tuch dahertrug; und gingen alle Priester, Mönche, der Rat, Schulmeister, Schüler, Mann, Weib usw. mit Fahnen und Kerzen, mit Gesang und Prozession entgegen; da läutete man alle Glocken, schlug alle Orgeln, begleitete ihn in die Kirchen, richtete ein rot Kreuz mitten in der Kirche auf; da bring man des Papstes Panier an; in Summa man hätte nicht wohl Gott schöner halten und empfangen können.« (Mykonius.)
Als Ablaßprediger war u. a. auch ein Mönch Tetzel angenommen worden, den die lutherische Geschichtsschreibung als den Ausbund aller menschlichen Verworfenheit schildert, um Martin Luthers Gestalt desto lichtvoller hervortreten zu lassen. In Wahrheit war Tetzel nur ein äußerst geschickter, volkstümlicher Ablaßagitator. Die Arroganz, mit der er bei der Empfehlung des Ablasses auftrat, erklärt sich daraus, daß Tetzel sehr wohl wußte, welche Macht er hinter sich hatte. Tetzel war zwischen 1450 und 1460 geboren, also im Jahre 1517 bereits sechzig Jahre alt. Seine Vergangenheit soll nicht fleckenlos gewesen sein. Was er aber auch auf dem Kerbholz haben mochte – für die Interessenten der Ablaßagitation wurde dies alles ausgelöscht durch die agitatorischen und geschäftlichen Erfolge, die Tetzel als Ablaßprediger in Livland gehabt hatte, woselbst er für den durch die Moskowiter bedrohten Deutschorden enormes Geld zusammenbrachte. Als Agitator für den Albrechtschen Palliumablaß angenommen, trat er der Sache entsprechend großartig auf. Die Fuggers stellten ihm einen Wagen mit drei Pferden, bezahlten ihm monatlich achtzig, seinem Diener acht Gulden und bestritten seine Auslagen für die Kost. Tetzel war ein stattlicher Mann, mit einer mächtigen Stimme und einer schlagkräftigen Redeweise. Die blöde Volksmasse, durch den Pomp, mit welchem der Mann empfangen worden war, ohnedies irre gemacht, lief ihm zu, staunte und kaufte, wenn er mit Donnerstimme schrie: »Sehet, ich habe den Vorzug selbst vor dem heiligen Petrus, denn ich habe mehr Seelen mit meinem Ablaß erlöst als Petrus mit Predigen!«+… »Wenn das Geld für den Ablaß im Becken klingt, so fährt die Seele aus dem Fegfeuer sofort in den Himmel empor!« Das tat auf die Volksmasse eine große Wirkung und schmunzelnd quittierten die Fuggerschen Kommis über die hereinströmenden Ablaßgelder (Bild 191).
Im Herbst 1517 kam dieser erfolgreiche Ablaßreisende auch in die Nähe von Wittenberg und predigte unter großem Volkszulauf.
Die Universitätsstadt Wittenberg (Bild 192) gehörte zu dem staatlichen Gebiete des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, aus dem Herrscherhause Wettin (Bild 190). Die Wettiner waren dank der ökonomischen Ergiebigkeit ihres Landes reiche und unabhängige Fürsten. Der Silberbergbau Sachsens warf gewaltige Summen ab und machte es den Wettinern möglich, ohne die bei anderen Fürstenhöfen üblichen Mittel der Finanzpolitik auszukommen. Deshalb hatte Kurfürst Friedrich bereits seit langem Schritte gegen die einander unaufhörlich jagenden Ablässe getan, durch welche der römische Hof das Geld aus den ergiebigen sächsischen Landen herauspumpte. Kurfürst Friedrich war einer jener durch die aufgekommene kapitalistische Produktionsweise auf ihrem staatlichen Boden vom Papsttum unabhängig gewordenen Fürsten. Die fortwährende Geldschröpferei durch das internationale Papsttum, welches doch in den kurfürstlichen Landen nicht mehr die alte politische Macht ausüben konnte, erschien auf die Dauer als unerträglich. So begann nun der kursächsische Hof gegen die Ablaßkrämerei zu opponieren. Wenn der Papst politisch nichts mehr bedeutete, warum sollte man die Wolle des Schäfleins Volk mit ihm teilen?
Vollends der Ablaß, durch welchen Tetzel soeben die Bevölkerung Kursachsens in den Himmel bringen wollte, war dazu angetan, auch einem friedlicheren Manne als dem sächsischen Kurfürsten die Galle überlaufen zu lassen. Das Haus Wettin beobachtete das Wachstum des Hauses Hohenzollern mit bohrendem Mißtrauen. Ersteres hatte ein großes politisches Interesse daran, sich von letzterem nicht überflügeln zu lassen. Dazu aber war eben ein bedeutender Schritt vorwärts getan. Die Regentenfrage in Brandenburg selbst war höchst einfach gelöst worden, indem der jüngere der beiden Brüder eine hohe Kirchenwürde erhalten hatte. Ferner verfügte Hohenzollern nach der Erlangung der Mainzer Kurfürstenwürde über zwei Stimmen im Rate der Kurfürsten des Reiches. Der Hohenzoller, Kurfürst Albrecht, war in den Besitz der reichsten Diözesen des Reiches gekommen, und schließlich sollten die Kosten dieser Machtsteigerung des Hauses Hohenzollern – nämlich die 30 000 Gulden Palliumabgabe an den Papst – nicht von den hohenzollernschen Kurfürsten selbst, sondern mittels der Tetzelschen Ablaßagitation von den Untertanen des sächsischen Kurfürsten aufgebracht werden! Mit dem ökonomischen Überfluß Sachsens sollte dem Angehörigen des fremden Herrscherhauses sein erzbischöfliches Pallium bezahlt werden. Kein Wunder, daß der kursächsische Hof trotz aller katholischen Frömmigkeit jeden Ablaßzettel verwünschte, welchen Tetzel bei der sächsischen Bevölkerung anbrachte.
Und Tetzel brachte in den sächsischen Landen viele Ablaßzettel unter. In Freiberg sammelte er binnen zwei Tagen zweitausend Gulden. In der erzgebirgischen Bergbaustadt Annaberg machte er den Leuten weis, daß alle Berge rings umher gediegenes Silber werden würden, wenn sie nur brav zahlten. In Zwickau, in Chemnitz, in Leipzig, durch ganz Sachsen, in den wohlhabenden Städten längs der Elbe, überall tauchte Tetzel mit seiner Eisentruhe auf und verschlang seinen Tribut von dem Wohlstand Sachsens.
Von der Mißstimmung des sächsischen Hofes sickerte viel in die wohlhabenden Bürger-, Gelehrten- und Klerikerkreise hinein. Dort kannte man den Handel, welcher speziell dem Tetzelschen Ablaßtreiben zugrunde lag, nur zu gut, und als weiter bekannt wurde, daß auch der sächsische Kurfürst den Ablaßkram aus seinem Lande hinwünschte wo der Pfeffer wächst, gab solches dem devoten Bürgertum mächtig Mut, sich über die Tetzelsche Agitation mit ungewohnter Schärfe zu äußern. Der Bürger wurde wütend, wenn er erfuhr, daß sein frommes Weiblein insgeheim, um nur ja der Freuden des Himmels ganz sicher zu sein, Tetzeln sein gutes Geld hingebracht hatte. Er schimpfte im Zunfthause, an den Biertischen und am Sonntag, wenn er beim Kirchgang nach dem Gottesdienst die Gevattern traf. Die Gelehrten waren erfüllt vom Geiste des Humanismus und verfolgten den eifernden Ablaßgeldsammler mit beißendem Gespött. Der örtliche Klerus aber äußerte sich erst recht wütend über des Tetzels Treiben, weil der Ablaß alle kirchliche Autorität am Ort zu untergraben drohte. Ermahnte der örtliche Beichtvater seine Beichtkinder, von ihren Sünden zu lassen, so hielten diese ihm den gekauften Ablaßzettel hin und beklagten sich wohl gar bei Tetzel, wenn ihr Beichtvater die Briefe nicht gelten lassen wollte. Die örtliche Kirchenautorität sank in dem Maße, wie die Ablaßzettel verbreitet wurden. Daher begannen die heimischen Kleriker auf den Tetzel immer lauter zu schimpfen. Immer häufiger flochten sie in ihre Kanzelreden Stellen ein, in denen sie sich gegen einzelne besonders bombastische Äußerungen Tetzels verwahrten, ihr Recht, Absolution zu erteilen und zu verweigern, nachdrücklich betonten, vom Mißbrauch des Ablasses sprachen. Aus diesen gelegentlichen Äußerungen wurden schließlich förmliche Anti-Ablaßpredigten, zumal die Kleriker durch mündliche und briefliche Anfragen von Freunden und Unbekannten – so z. B. Luther – fortwährend auf das »Ärgernis« des Tetzelschen Ablaßkrams hingewiesen wurden. Die laut geäußerte Mißstimmung wuchs so, daß selbst ein so hoher Kleriker wie der Bischof Johann von Meißen von Tetzel sagte, dieser Mönch werde der letzte Ablaßkrämer sein.
Die oben vorhandene Mißstimmung traf sich mit der gährenden Erbitterung von unten. Aller Segen des wirtschaftlichen Aufschwungs, soweit er nicht in den Händen der Fürsten und des hohen Adels als den Eignern der Silber- und Erzbergwerke, der großen Handelshäuser, die das Erwerbsleben bewucherten, hängen blieb, wurde von den dicken Fingern der städtischen Bourgeoisie aufgefangen. Der Masse der Bauern und der niederen städtischen Handwerker, den Bergleuten und der Gesamtheit des »gemeinen Volkes« ging es so erbärmlich wie nur möglich. Der allgemeinen Not gegenüber bot die schmierige Gier, mit welcher Tetzel und sein Anhang hinter den Ablaßgroschen herjagten, ein desto abstoßenderes Bild. Die rücksichtslose und unaufhörliche Ausbeutung durch den Papst erfüllte das hungernde Volk mit wildem Grimm. Es wartete nur auf den gelegenen Augenblick, um das ganze Ausbeutungsnetz, mit welchem es umsponnen war, für immer zu zerreißen.
Um diese Zeit war zu Wittenberg der Professor der Theologie und ehemalige Augustinermönch Dr. Martin Luther als Stadtpfarrer tätig (Bild 193). Er stand im 34. Lebensjahre und charakterisiert sich selbst als »ein junger Doktor, neulich aus der Esse kommen, hitzig und lüstig in der heiligen Schrift«. Er war ein Bauernsohn und seinem Vater war es gelungen, sich vom Bauer zum Berghäuer und dann zum kleinen Schmelzofenbesitzer durchzuarbeiten. Diesen Verhältnissen entsprechend, hatte Luther eine rauhe und freudlose Proletarierjugend durchzumachen; doch als der Vater sich helfen konnte, ließ er den Sohn die Universität Erfurt besuchen. Hier kam der junge Luther geistig sowohl unter den Einfluß der Scholastik als auch des Humanismus. 1505 wurde er Magister der freien Künste. Doch er machte nicht, wie es der Wunsch des Vaters war, der ihn in seinem Emporkömmlingsstolz gern als Geheimen Rat irgend eines gnädigen Herrn gesehen hätte, die Juristenkarriere, sondern trat vielmehr gegen der Eltern Willen in das Augustinerkloster zu Erfurt ein. Hier vertiefte er sich in das Studium der Bibel, deren zahlreiche, mit dem Wesen des Urchristentums zusammenhängende Stellen ihn in stillen Zwiespalt mit den Lehren und dem Wesen der Papstkirche brachten. Diesen Zwiespalt verstärkte und vertiefte eine Romreise, die der junge Augustiner 1511 unternahm. Der nüchterne Sinn des in der Enge aufgewachsenen thüringischen Bauernsohnes hatte sich bald an der klassischen Schönheit Roms satt gesehen. »Rom, wie es jetzund ist und gesehen wird, ist wie ein totes Aas gegen die vorigen Gebäude,« urteilte er und betrachtete desto schärfer die Kehrseite der Herrlichkeit, die ganze Lotterwirtschaft des Papsthofes und der römischen Klerisei. Da nahm er freilich den schlechtesten Eindruck mit in seine Heimat zurück: die Hauptstadt der Christenheit wimmelnd von Huren, die gläubig herbeiströmenden Pilger durch ein Heer von fingergewandten Geschäftsmachern bis aufs Blut ausgeplündert, der Klerus rasch fertig mit seinem Handwerk und der Papst selbst der schlimmste von ihnen allen. »Ich wollte,« sagte Luther später, »nicht hunderttausend Gulden dafür nehmen, daß ich nicht auch Rom gesehen hätte; ich müßte mich sonst immer besorgen, ich täte dem Papste Gewalt und Unrecht; aber was wir sehen, das reden wir.«
Was der junge Luther etwa noch an Idealismus zu seinem Berufe in der Brust bewahrte, das hatte die Romreise ihm gründlich zerstört. Aber im Schoße der Mutter Kirche hatte er einmal Brot und Existenz, und als er in die dumpfe Stickluft der jämmerlichen Verhältnisse seiner thüringisch-sächsischen Heimat zurückgekehrt war, war er froh, als Doktor der Theologie auf dem Katheder der Wittenberger Universität sitzen zu können. Wittenberg war damals eine Stadt von etwa 3000 Einwohnern und äußerlich ein wirres und schmutziges Durcheinander weniger, mit Lehmhütten besetzter Straßenzeilen, aus dem einige bessere kirchliche und weltliche Gebäude hervorragten. Das war kein Kampfboden für einen revolutionären Feuergeist. In dieser beengenden Kleinstädtlichkeit mußte man sich ducken und still verhalten, was Luther denn auch zunächst getan hat. Aber in der Stille hat er eifrig Bücher gewälzt, die von dem Geiste des Humanismus erfüllt waren. Wahrscheinlich ist, daß er auch die Schriften des 1481 verstorbenen humanistischen Professors Johann von Wesel von der Erfurter Universität kennen gelernt hat, der den Papst mit Erbitterung angriff. »Ob Wesels Schrift und Lehre über den Ablaß auf die Entwickelung der Überzeugungen Luthers einen Einfluß ausübte, ist nicht sicher zu entscheiden. Möglich ist es, ja selbst wahrscheinlich, da Luther in Erfurt Wesels Schriften studierte und auch unabhängig von den Schriften die Lehren Wesels auf dieser Universität gewiß fortwirkten. Bei alledem aber war Wesel bei der Abfassung seiner Schrift gegen den Ablaß theoretisch schon weiter vorgeschritten, als Luther im Stadium der Thesenherausgabe; Wesels Polemik war klarer, bewußtvoller und umfassender, sie ging mehr auf das ganze Institut und dessen letzte Gründe, als die wenn auch kräftige, tiefe und kühne, so doch zugleich in der Erkenntnis noch etwas unsichere, mehr gegen augenblickliche Übelstände gerichtete Polemik Luthers.« (Ullmann, Reformatoren vor der Reformation.)
1515 war Simon Heinse, der Stadtpfarrer von Wittenberg, erkrankt und Martin Luther wurde zu seiner Stellvertretung berufen. Anfangs bestieg er widerstrebend die Kanzel. Dann aber wurde er ein guter Kirchenredner, der zu der kleinbürgerlich-bäuerlichen Bevölkerung in derbem volkstümlichen Tone sprach, nach der Weise der Prediger der Zeit (s. Kapitel: Die Rhetorik der Pfafferei), zugleich auch ein selbstbewußter und streitbarer Kopf, der sich als die geistige Größe des Städtchens fühlte und als solche respektiert sein wollte.
Da tauchte nördlich und südlich von Wittenberg Tetzel mit seinem Ablaßkasten auf; in den Wittenberger Bürgerkreisen wurde der Ablaß diskutiert und unter Luthers Gemeinde kursierten die ersten Ablaßzettel. Luthers Selbstbewußtsein als unbeschränkter klerikaler Despot wurde dadurch gewaltig gekränkt, und da er, gleich den Theologen in anderen Städten, schriftliche und mündliche Anfragen in Sachen des Ablasses erhielt, so begann er, ebenfalls wie andere Theologen, erst schüchtern, dann immer heftiger gegen den Ablaß zu predigen.
Aber zu seinem Ärger mußte er bemerken, daß er mit allem Eifern von der Kanzel herab gegen den marktschreierischen Pomp, der den Ablaß des Tetzel begleitete, nichts ausrichtete. Dieser geriebene Bursche, der seine Ablaßzettel mit allen Finessen des zeitgenössischen Kapitalismus an den Mann brachte, lachte nur über die aufsässigen Ortspfäfflein, und wenn sie ihm ernstlich unbequem wurden, so genügte ein Wink an seinen Auftraggeber, den Kurfürsten Albrecht, Erzbischof von Magdeburg, um solcher Kritik mit kirchlichen Disziplinarmitteln das Maul zu stopfen.
Luther, der hitzige, junge Doktor der Theologie, verbiß sich jedoch, je länger er gegen den Ablaß eiferte, desto mehr auf seinen Standpunkt. Was? Er, ein Augustinermönch und sächsischer Pfarrer, sollte vor diesem hergelaufenen Dominikaner, der im Interesse eines ausländischen Fürsten Ablaßzettel vertrieb, zu Kreuze kriechen müssen und seinen Pfarrkindern gegenüber für nichts gelten? Nimmermehr! Dem mußte kräftig entgegengetreten werden. So griff Luther zu einem Verfahren, welches damals in den alltäglichen Streitereien rivalisierender Kleriker allgemein gebräuchlich war: er forderte seinen Gegner durch eine öffentlich an die Kirchentüre angeschlagene Erklärung indirekt zur Disputation heraus. Solche Disputation war in der ereignislosen Stille des deutschen Kleinstadtlebens für die Gläubigen immer ein besonderes Gaudium und endete sehr oft damit, daß sich die streitenden Pfaffen samt ihren Parteigängern schließlich vor der Kirchentüre verprügelten. Oder der geforderte Gegner kam überhaupt nicht, und dann war der Herausforderer erst recht Triumphator.
Am 31. Oktober 1517, am Vorabend Allerheiligen, schlug Luther seine 95 Thesen – mit Rücksicht auf die 94 Thesen, welche Erzbischof Albrecht seinen Unterkommissaren mit auf den Weg gegeben hatte – an die Pforten der Wittenberger Allerheiligenkirche. Wenn die lutherische Geschichtsschreibung dies heute als eine Großtat ohnegleichen ausposaunt, deren Kunde wie ein Lauffeuer durch Deutschland ging und die bewegende Ursache einer allgemeinen Volkserhebung wurde, so hält vor der nüchternen Betrachtung davon nichts stand. »Die Thesen an die Türe der Wittenberger Schloßkirche angeschlagen, waren weder ›merkwürdig‹, noch eine ›Tat‹, sondern ein nach damaligen Sitten sehr alltäglicher Vorgang. Die Thesen+… traten der römischen Schandwirtschaft sehr viel behutsamer entgegen, als ihr von anderer Seite, insbesondere in humanistischen Schriften, längst entgegengetreten war+… Er (Luther) vollbrachte seine ›weltgeschichtliche Tat‹ völlig absichts- und ahnungslos; so sehr es ihm zum Ruhme gereichen mag, daß er zu jener kleinen Minderheit der deutschen Geistlichen gehörte, welche wenigstens die ärgsten Mißbräuche der römischen Kirche einzuschränken versuchte, eine so kindliche Auffassung der geschichtlichen Entwickelung bezeugt es, wenn man an die persönliche Initiative Luthers die Reformationsbewegung anknüpfen will.« (Mehring.)
In seinen Thesen enthielt sich Luther sorgfältig jedes »staatsgefährlichen« Tones. Er war fern von jeder »Ketzerei«, und nicht gegen den Ablaß an sich wandte er seine Kritik, sondern nur gegen den »Mißbrauch« des Ablasses. So ängstlich verbarrikadierte er sich gegen den Vorwurf der Ketzerei, daß er in der 71. These ausdrücklich schrieb: »Wer wider die Wahrheit des päpstlichen Ablasses redet, der sei im Fluch und vermaledeit.« Weiter waren die Thesen in der »schnörkelhaften Rätselschrift der scholastischen Theologie abgefaßt«, welche eben nur der Klerus, nicht die Laien verstanden. Und schließlich war das ganze Schriftstück – lateinisch geschrieben: » pro declaratione virtutis indulgentiarum« (für die Erklärung des Wertes der Ablässe). Mit einem größeren Aufwand von ängstlicher Vorsicht hätte die Sache wohl nicht angefangen werden können. Es war eine blasse, zittrige Opposition gegen die Wirkung des Tetzelschen Ablaßtreibens, die, kaum unternommen, bereits ängstlich nach hundert Deckungen ausspähete. Zur gleichen Zeit, da Luther die Thesen an die Kirchenpforte schlug, schrieb er an den Bischof Scultetus (Schulze) von Brandenburg, seinen ordentlichen Vorgesetzten, und – an den eigentlichen Urheber des Ablasses, den Erzbischof Albrecht. Letzteren redete er an als den »verehrungswürdigen Vater in Christo, den erlauchten Herrn Albrecht, den Erzbischof der magdeburgischen und mainzischen Kirche, den Primas, Markgrafen von Brandenburg«, »unter dessen glänzendsten Namen die Ablässe herumgetragen werden«. Luther bittet um Verzeihung, daß er, »die Hefe der Menschen« ( faex hominum), soviel Verwegenheit besitze, daß er gewagt habe, an einen Brief an den »Gipfel Seiner Erhabenheit« ( tuae Sublimitatis) zu denken, und schilderte dann den »Mißbrauch« des Ablasses durch Tetzel, sich schließlich erbietend, dem Erzbischof auf Wunsch die Ablaßthesen zuzusenden. So suchte er von vornherein den Zorn des Ablaß-Erzbischofs zu beschwichtigen und alles als einen persönlichen Angriff auf den Ablaßmönch hinzustellen.
Dieses ganze Verhalten Luthers ist durchaus verständlich. Er hatte die hundertfältigen Beispiele vor Augen, wie das Papsttum mit seinen Feinden, den Ketzern, umsprang. Wie hätte in der dumpfen Enge des Elbstädtchens Wittenberg ein Mann die revolutionäre Spannkraft finden können, alle Schranken niederreißend, sich mit seinem Orden, mit dem mächtigen Erzbischof, mit dem Papst in Rom in einen offenen Konflikt einzulassen, bei dem er sicher Kopf und Kragen verlieren mußte. Deshalb Luthers untertänige Ergebenheitsbezeugungen gegen Erzbischof und Papst bei seinem gleichzeitigen Angriff auf den Ablaßkrämer Tetzel.
Diese Kirchengewaltigen waren denn auch zunächst geneigt, den Lutherschen Thesenanschlag als das, was er war: als lokales Theologengezänk, abzutun. Selbst der Papst redete ja, als er davon erfuhr, von einem Mönchsstreit. Doch das Wittenbergische Theologengezänk erwies sich bald als ein ins Pulverfaß gefallener Funke, und eine krachend aufsteigende Feuersäule ließ die Häupter der Kirchenherrschaft bis ins innerste erbeben.
Die wilde Wut gegen die blutpresserische Ausbeutung war in allen Volksschichten vorhanden. Der Handel des Markgrafen Albrecht mit dem Papst und des Tetzel Treiben, das eine alltägliche Verhöhnung des Volkes war, brachte sie auf den Siedepunkt.
Der Ablaßkram war geliefert; bei der allgemeinen Erbitterung war's nur noch eine Frage der Zeit, wann eine Flutwelle ihn zum wenigsten aus den sächsischen Landen hinwegschwemmen werde. Da kamen Luthers Ablaßthesen; es sprach sich herum, daß zu Wittenberg ein Augustinermönch – man denke: ein Mönch; die Möncherei war die festeste Stütze des Papsttums! – das Tetzelsche Ablaßtreiben mündlich und schriftlich angegriffen habe, und sofort gab ihm alle
Welt Beifall. Luthers Ablaßthesen waren nicht die Ursache, nein, sie waren eine Wirkung der allgemeinen Empörung über die Ablaßausbeutung. Man freute sich, daß selbst ein Mönch bereits den Mut habe, gegen den Ablaß aufzutreten. Für die Wut des Volkes gab es nun kein Halten mehr.
Hatte Tetzel bisher in dem reichen Sachsen ein glänzendes Geschäft gemacht, so sah er jetzt seine Ablaßzettel allmählich auf den Nullpunkt entwertet. Der Absatz ging zurück trotz allem offiziellen Empfangsgepränge und die Fuggerschen Kommis zogen bedenkliche Gesichter, als ihr Haus an Tetzel nicht mehr den Monatssold verdiente. Aber es kam noch besser. Tetzel mußte schließlich aus Orten, in denen er vordem beträchtliche Geschäfte, gemacht hatte, unter dem Hohn und Schimpf der aufsässigen Bevölkerung abziehen. Schließlich wurde er aus Sachsen vertrieben und kam, ein bankerotter Geschäftsmann, mit seinem leeren Geldkasten und seinen wertlosen Ablaßwischen in der ausgehungerten Mark Brandenburg an. Unter der Armeleutsbevölkerung der »Streusandbüchse heiligen römischen Reiches« Geld zu verdienen, war ein ganz aussichtsloses Beginnen.
Während Kurfürst Friedrich von Sachsen, der selbst seine getreuen Untertanen mit einer neuen Steuer beglücken wollte, über diesen Ausgang des ihm unbequemen Ablaßhandels nichts anderes als helle Schadenfreude empfinden mußte, bekam Erzbischof und Markgraf Albrecht keinen schlechten Schreck, als sein Ablaßhändler Tetzel mit einemmale auf dem Trockenen saß. Wie sollte er denn nun seine Palliumschulden bei den Fuggers bezahlen? Er war natürlich weit entfernt, die tiefgehende Unzufriedenheit der Volksmassen zu begreifen. Wie heute der Reaktion jede unbequeme Volksbewegung nur das Werk einzelner Agitatoren, Hetzer, Aufwiegler ist, so war Albrecht die Bewegung gegen die Ablaßausbeutung nur die Folge der »Hetzerei« Luthers. Dessen Thesenanschlag sollte an dem Tetzelschen Bankerott schuld sein, und Tetzel hatte alle Ursache, diese Anschauung zu nähren und selbst als gekränkte Unschuld dazustehen. So schalt denn Albrecht von Mainz, der gerade zu Aschaffenburg Hof hielt, auf den »vermessenen Mönch zu Wittenberg«, suchte ihm so schnell und so gründlich als irgend möglich die Lust an weiteren Anrempelungen Tetzels zu nehmen und gleichzeitig die schwer gefährdete Ablaßsache wieder in Ansehen beim Volke zu bringen, wobei ihm sein älterer Bruder, Kurfürst Joachim von Brandenburg, nach besten Kräften behilflich war.
Zunächst berichtete Erzbischof Albrecht eiligst an seinen Kontrahenten in der Pallium-Ablaßsache, den Papst, und verlangte gegen Luther einen »inhibitorischen Prozeß«. Das wäre ja noch schöner, wenn er mit dem Papste ein Geschäft abschloß und des Papstes Mönche durften hinterher das Geschäft verderben. Der »freche« Angreifer mußte sofort gekuscht werden, der angegriffene Tetzel aber mußte eine »eklatante Genugtuung« erhalten. Letzteres besorgte Kurfürst Joachim. Tetzel wurde in der Mark mit großen Ehren empfangen. Dann ward die Universität in Frankfurt an der Oder in Bewegung gesetzt. Der Frankfurter Professor Wimpina mußte Tetzeln 106 Thesen zur Rechtfertigung seines Ablasses ausarbeiten; Tetzel selbst hielt, um den Schein auch einer mündlichen Widerlegung des Wittenbergers zu erwecken, zu Frankfurt eine große Disputation, wobei ein Auditorium von dreihundert Dominikanern für den nötigen stürmischen Beifall sorgte, und schließlich ließ ihn Kurfürst Joachim von der Universität zum Doktor der Theologie ernennen, damit er dem Wittenbergischen Augustinermönch in nichts nachstehe. Seine Untertanen in der Mark aber, die keine Ablaßzettel kaufen wollten oder sich sonst lutherisch gesinnt zeigten, verfolgte Joachim mit Unterdrücken, Eintürmen, Verbannen und Köpfen, so daß, wäre wirklich die Volksbewegung gegen den Ablaß allein durch Luthers Thesenanschlag hervorgerufen worden, sie jetzt hätte tot und begraben sein müssen. Aber die Tatsache, daß die Rehabilitierung Tetzels nur Hohn und Spott erweckte und die Empörung gegen den päpstlichen Ablaßkram nur desto heftiger weiter brandete, zeigt, daß die Volksbewegung auf triftigeren Ursachen beruhte, als bloß auf dem Lutherschen Thesenanschlag. Die Wellen dieser Bewegung hoben auch Luther selbst empor. Dieser Mann, der eben noch furchtsam dastand, nur gegen einen dreisten Mönch Front gemacht hatte und tausend Rücksichten übte, um nur ja mit keinem kirchlichen oder weltlichen Machthaber in Konflikt zu geraten, sah jetzt in Nah und Fern überall Freunde und Unterstützung. Unter den Zuschriften und Beifallskundgebungen von allen Seiten weitete sich sein geistiger Horizont über die Armseligkeit des kleinen Wittenberg hinaus. Seine Streitsache mit dem Mönch Tetzel stieß mit der allgemeinen Volksstimmung zusammen, die, wilder und radikaler als sein bescheidener Protest, gegen die ganze seit langem geübte päpstliche Ausbeutung sich in offener Kampfstellung befand. Er war kein Eingänger, er war vielmehr nur einer unter vielen Tausenden, die alle ungestüm weiter zu gehen begehrten als er. Das gab Luther Mut und ließ ihn mit und an der allgemeinen Bewegung emporwachsen. Gegenüber den auf ihn niederhagelnden Angriffen fand er allmählich immer urkräftigere Worte der Abwehr. Er redete die derbe Sprache seines Volkes und ihr rücksichtsloser Gebrauch gegenüber den Großen und Mächtigen machte ihn in kurzer Zeit zum populärsten Manne seines Landes und brachte seinen Namen in aller Munde.
Diese Popularität wuchs noch, als jetzt die Papstmacht auf dem Plan erschien. Die hatte in der Volksbewegung wider den Ablaß die »Hydra der Häresie« erkannt, welche sie in den blutigen Ketzerverfolgungen des verflossenen Jahrhunderts erstickt zu haben glaubte. Sie sah in dem Augustinermönch und Theologieprofessor das Haupt dieser neuen Häresie und rückte an, um den Ketzer in der alten, hundertmal erprobten Weise abzuwürgen: einkerkern, foltern, verurteilen, verbrennen. Luther ward in aller Form nach Rom vorgeladen, und da es wahrscheinlich war, daß der ketzerische Mönch sich hüten werde, dergestalt selbst sich den Strick um den Hals zu legen, so ward der sächsische Augustinerprovinzial Hecker beauftragt, Luther »einkerkern und an Händen und Füßen in Gewahrsam halten« zu lassen. Da dem Papste bekannt war, daß der sächsische Hof, vergnügt über das gänzliche Fiasko von Markgraf Albrechts Pallium-Ablaß, über Luther seine schützende Hand hielt, so wurde dem Kurfürsten Friedrich ein päpstliches Breve zugesandt, in welchem Luther als »Kind der Bosheit« bezeichnet und seine Auslieferung gefordert ward.
Indem das Papsttum gegen den ketzerischen Augustinermönch blindlings und siegessicher den alten Weg der Häretikerprozessierung betrat, ahnungslos über die Wandlung der Dinge in Deutschland, holte es sich zunächst eine in ihren Folgen ungeheure Niederlage, die deutlich das Ende der politischen Macht des Papsttums zeigte. Die Kluft zwischen dem neugewordenen Nationalstaat und der verfallenden Weltherrschaft des Papsttums tat sich gähnend auf.
Ein deutscher Theologieprofessor sollte in Rom, der internationalen Hauptstadt des Papsttums, wegen einer Sache abgeurteilt werden, die das ganze Volk als seine eigene betrachtete. Die Papstmacht kannte das Volk nur noch als sozialen Ausbeutungsfaktor, nicht mehr als politischen Machtfaktor, dessen man bedurft hätte. Hier aber begehrte sie plötzlich wieder ihre Anerkennung, nur um eine Sache des deutschen Volkes in ihrem eigenen internationalen Interesse zu unterdrücken. Ein Sieg des Papstes in dieser Frage war mehr als die Unschädlichmachung eines rebellischen Mönches, es war eine Niederlage des ganzen deutschen Volkes.
In dieselbe Stellung wurde die politische Landesmacht durch die täppisch brutale Anklageerhebung gegen Luther gezwungen. Die Auspowerung seines Landes durch den päpstlichen Ablaßkram hatte Kurfürst Friedrich nur unter wirkungslosem Protest geduldet; jetzt sollte einer seiner Untertanen wegen der Ablaßsache in Rom vom Papst prozessiert werden. Es war förmlich seine eigene Verurteilung, die in der Prozessierung Luthers vor sich ging. Die päpstliche Aufforderung, Luther auszuliefern, verschärfte die Lage der Dinge; sie war die hochmütige Demonstration einer über der Landesmacht stehenden päpstlichen Zentralmacht, die das Fürstentum längst nicht mehr anerkannte. Die Auslieferung Luthers durfte schon im fürstlichen Interesse selbst nicht stattfinden.
Als Luther sich daher an den sächsischen Kurfürsten wandte und gegen Auslieferung und Prozeßort bescheiden Protest erhob, wurde diesem sofort nachgegeben. Der Kurfürst weigerte sich, einen Professor seiner Universität auszuliefern. Auch der deutsche Kaiser Maximilian I. (Bild 197) verhielt sich dem päpstlichen Prozeßverfahren gegenüber mindestens passiv. Er feilschte und handelte eben mit den deutschen Kurfürsten, um die deutsche Kaiserkrone seinem Sohne zu verschaffen. Da er des Kurfürsten Friedrich bedurfte, konnte er sich nicht mit ihm überwerfen, indem er des päpstlichen Hofes Verlangen unterstützte. Andererseits mochte er bedenken, daß der papstfeindliche Luther ein guter Trumpf in seiner Hand sei, sofern sich der päpstliche Hof etwa seinen dynastischen Plänen widersetze. So war also die Situation geschaffen: die römische Papstmacht lud feierlich einen deutschen Häretiker vor das Gericht des heiligen Stuhles; der Häretiker blieb seelenruhig fern. Der heilige Stuhl verlangte seine Auslieferung; aber die fürstliche Landesmacht verweigerte sie und die kaiserliche Reichsmacht zuckte gleichgültig die Achseln.
Die Papstmacht hätte nun mit ihrem alten Mittel: mit Bann und Interdikt ihrem Willen Geltung verschaffen müssen. Aber Bann und Interdikt hatten nur solange Bedeutung, als der Papst die politische Gewalt besaß, den Betroffenen auch zu vernichten. Ohne die politische Gewalt waren Bann und Interdikt leere Formeln. Das hätte sich jetzt vor aller Welt zeigen müssen, aber die Papstmacht, ganz bestürzt über diese ernste Wendung, welche die Sache des unbekannten ketzerischen Mönches nahm, lenkte schleunigst ein. Leo X. ließ die Vorladung nach Rom fallen und wies Luther an, gegen Ende des deutschen Reichstages in Augsburg vor dem päpstlichen Legaten zu erscheinen.
Die breiten Volksmassen, deren Empörung gegen das Papsttum sich in dem Ablaßstreit austobte, hatten kaum von Luthers Vorladung nach Rom und der Zurücknahme derselben Kunde erhalten, als sie auch die große Bedeutung dieses Vorgangs sehr wohl begriffen. Auf Luthers Person konzentrierte sich jetzt die allgemeine Aufmerksamkeit. Für eine Zeitlang wurde Luther der persönliche Ausdruck all' des Hasses und der Wut, welche das zu politischer Selbständigkeit gelangte deutsche Fürstentum, der von der Kirche beengte und behinderte Adel, die ausgesogenen Volksmassen, kurz ganz Deutschland gegen den Papst nährten. Hie Luther, hie der Papst! Wie wird die Sache ausgehen? Das war die alle Welt beherrschende Stimmung. Nicht mehr um den Ablaß handelte es sich; diese Volksbewegung wuchs sich aus zu einer Revolution gegen das Papsttum. Jeder Tag brachte Luther Tausende neuer Freunde. Die politische Entwickelung stieß den Mann förmlich vorwärts und zwang ihn zu Taten. Anstatt die Dummheit der lutherischen Geschichtsschreibung nachzuplärren, Luther habe von seinem unbedeutenden Elbstädtchen aus diese durch ganz Deutschland gehende Bewegung »geschaffen«, muß man vielmehr konstatieren, daß er sich nur langsam und widerstrebend in die Rolle fand, welche ihm die Ereignisse zuwiesen.
Dieses zeigte sein Auftreten vor dem päpstlichen Legaten. Kardinal Thomas de Vio, nach seinem Geburtsort Gaeta Cajetanus genannt, war als Gesandter des Papstes in Augsburg eingetroffen. Unter den alten Verhältnissen hätte das feierliche Erscheinen eines vom Papste abgesandten Kardinals auf die gläubigen Gemüter eine Luther völlig erdrückende Wirkung hervorgebracht. Auch diesmal wurde der Legat, als er vor die Tore der Reichsstadt geritten kam, mit den üblichen offiziellen Ehrungen empfangen; der Kaiser, die Fürsten, die Priesterschaft holten ihn in feierlichem Zuge ein. Aber für das gesunkene Ansehen der päpstlichen Macht gab es bereits vielerlei Zeichen. Die Augsburger Chronik bespöttelt Cajetan als »ein klein Männlein«. »Der Kardinal schritt unter einem Himmel einher, aber es war nur ein schlechter Himmel, kaum einen Gulden wert. Denn da die Leute des Kardinals allenthalben die Requisiten, die beim Einzug ihres Herrn verwendet wurden, als Geschenk beanspruchten, so hatte man ihnen lauter so schlechtes Pletzwerk zur Verfügung gestellt, daß sie gern darauf verzichteten.« Der Kardinal trat mit dem auf der höheren italienischen Kultur begründeten Hochmut gegenüber den Deutschen auf. Während dies sonst untertänig angestaunt wurde und die Städte sich durch solchen vornehmen und verwöhnten Gast hochgeehrt fühlten, empfand man jetzt jede mißlaunische Äußerung des Italieners als Beleidigung. »Der Mann«, so schreibt Hutten, »ruht in purpurnem Gewande hinter vielen Vorhängen, speist auf Silber, trinkt aus Gold und ist ein solcher Feinschmecker, daß ihm in Deutschland nichts munden will. Die deutschen Rebhühner und Krammetsvögel sind nicht nach seinem Geschmack, das deutsche Wildpret ist ihm zum Ekel, unser Brot nennt er geschmacklos und unser Wein preßt ihm Tränen aus. Daher heißt er Deutschland ein Barbarenland, und er hat sich seit vier Monaten nicht satt gegessen aus Mangel an guten Bissen. Dabei ist er gegen seine Dienerschaft und gegen alle, die mit ihm zu tun haben, der ärgste Knicker.« So wandte sich die allgemeine Volksstimmung gegen den Sendling des Papstes. Zum Bezahlen war das deutsche Volk dem päpstlichen Hof gut genug. Gerade Augsburg war durch einen Kirchenbau-Ablaß seitens der Dominikaner schwer geschröpft worden. Dabei waren von 10 000 Gulden nur 1800 auf den Bau verwendet worden, alles andere war in fremde Hände gekommen. Und auf den einen Ablaß folgten andere. Da gab es viel bittere Worte. Man erzählte sich von den verschwenderischen Banketten des Papstes. Eberlin von Günzburg klagte damals: »Es erleichtert der Papst die deutsche Nation jährlich um 300 000 Gulden und durch boshafte Rechtshändel, durch Lösen und Binden um noch viel mehr, als man berechnen kann. Mönche und Kurtisanen fressen alle gute Weide ab.«
Luther traf im Oktober 1518 in Augsburg ein. Zwanzig Gulden Reisegeld, welche ihm Kurfürst Friedrich mitgegeben hatte, bewiesen, wieviel Vorteil sich die fürstliche Landesmacht von Luthers Auftreten gegen die Auswüchse des Papsttums versprach. Luther selbst war sich über seine Rolle durchaus nicht klar und ohne rechte eigene Initiative. Vor dem päpstlichen Legaten warf er sich der ganzen Körperlänge nach hin – mönchische Asketendemut vor dem heiligen Stuhl! – und hätte am Ende gar sich zum Schweigen verpflichtet. Aber der hochfahrende Legat war der ungeeignetste Unterhändler. Von tiefer Verachtung gegen diesen armseligen deutschen Augustinerpater erfüllt, der sich unterfing, gegenüber einem römischen Kardinal über Dogmen und Scholastik eine eigene, wenn auch tief bescheidene Meinung zu haben, verlangte er bedingungslosen Widerruf der »Irrtümer«. Ja, wenn er Luther damals eine Brücke gebaut hätte! Aber alle Gewaltherrschaft hat sich noch stets unmittelbar vor ihrem Zusammenbruche am sichersten gefühlt. So gab es statt klugem Vermitteln nur ein brutal-despotisches »Widerrufe!« Das aber konnte Luther einfach nicht. Er war in Augsburg umgeben von Männern, die alle weit radikaler dachten als er, und die ihn mit Verachtung gestraft haben würden, wenn er widerrufen hätte. »In Augsburg sah und hörte Luther mit Erstaunen, daß er mit seiner Opposition gegen die kirchlichen Mißbräuche nicht allein stand. Der Reichstag, dessen Nachhall er noch vernahm, als er am 7. Oktober 1518 die Stadt betrat, hatte gegen die Kurie eine so scharfe Sprache geführt, wie sie noch niemals erhört worden war, und Luther gewann mit denjenigen Kreisen, welche den Papst im Namen der finanziellen und administrativen Selbständigkeit des Reiches angriffen, erstmals persönliche Fühlung. Von Haus zu Haus ging eine kleine Flugschrift, die von dem Würzburger Domherrn Friedrich Fischer, einem vertrauten Freunde Huttens, verfaßt war und die vorwaltenden Anschauungen in die schärfsten Worte kleidete. »Der Papst«, hieß es im § 19 dieser »Mahnschrift«, »wütet überall und dürstet nach dem Blut der Armen; diesen Höllenhund könnet ihr auf keine andere Weise als mit einem goldenen Strom beschwichtigen; dazu bedarf es keiner Waffen, keiner Heere; mehr wird Geld vermögen als Reiterscharen und Fußtruppen!«
»Die Stände vertraten dieselbe Anschauung wie der Verfasser dieser »Mahnschrift«. Am 27. August wurde die Forderung des Türkenzehnten abgelehnt und als Begründung »die der deutschen Nation angetanen Beschwerden« zusammengestellt. Land und Leute der deutschen Nation seien durch Aufruhr, Krieg, Verwüstung, Mißwuchs, Teuerung und Mangel aufs höchste beschwert, das Land überall verarmt und entblößt. Da gedenke der gemeine Mann, wieviel Geld aus jedem Eckchen Deutschlands durch Verkündigung von Kreuzzug und Ablaß zusammengebracht worden. Bemerkenswert an dieser Antwort der Stände ist der Hinweis auf die Gährung im Volke; man hat die Empfindung, daß es in der Tiefe arbeitet, daß ein furchtbarer Losbruch der Massen droht und daß es hohe Zeit ist einzulenken.«
»An der Antwort der Stände hatten die Räte des Kurfürsten Friedrich und dieser selbst ohne Zweifel großen Anteil; mit diesen Männern hat Luther nachher in sehr vertraulicher Weise verkehrt, sie lenkten jeden seiner Schritte bei Cajetan+… Die »Mahnschrift« hat Luther auch vorgelegen; mit Staunen sah er, wie es noch ganz andere Beschwerden gegen Rom gab als die von ihm vertretenen; wie eng alles in dem kurialen System zusammenhing, Irrlehre und habsüchtige Ausbeutung in tausend Formen. Luthers Opposition erweiterte sich von da ab.« (Egelhaaf.)
Als Cajetan aus dem Widerstand Luthers allmählich herausfand, daß hinter dem Wittenbergischen Mönch andere Mächte standen, die ihn leiteten und lenkten, beschloß der schneidige Anwalt der päpstlichen Autorität, ein Exempel der Gewalt zu statuieren. Er betrieb die Verhaftung des Angeklagten, um ihn doch nach Rom zu bringen und schrecklich zu prozessieren. Aber als er zupacken wollte, hatte er bereits eine neue Niederlage erlitten. Der Angeklagte hatte sich seiner Verhaftung durch die Flucht entzogen. Heimlich hatten ihm seine vielvermögenden Freunde in der Nacht vom 19. zum 20. Oktober 1518 ein Pförtlein in der Stadtmauer geöffnet und auf einem harttrabenden Klepper, in einfacher Mönchskutte war Luther gen Wittenberg entwichen. Der Ankläger hatte sich mit seiner Schneidigkeit so gründlich wie möglich blamiert, und wenn er auch schleunigst zu retten suchte, was noch zu retten war, indem er mit einem de- und wehmütigen Schreiben den Kurfürsten Friedrich zur Auslieferung Luthers bewegen wollte, so dachte dieser doch gar nicht daran, dem hereingefallenen Sendling der verhaßten Papstgewalt aus dem Sumpf herauszuhelfen. Cajetan mußte betrübt seine Acta betreffend den Frater Martinus einpacken. Nach menschlicher Voraussicht konnte es lange dauern, bis der Papst den Ketzer schmoren werde.
Vielmehr bekamen sie nach einiger Zeit erneut von ihm Kunde durch eine Disputation, die auf der Pleissenburg in Leipzig in Anwesenheit des Herzogs Georg von Sachsen und zahlreicher Gelehrter und Theologen stattfand. Die Disputation war durch einen Streit zwischen dem theologischen Kollegen Luthers an der Wittenberger Universität Karlstadt und dem Ingolstädter Dr. Eckh (Bild 199), dem größten papistischen Streithahn Deutschlands, hervorgerufen worden. Zwölf von Eckh veröffentlichte Thesen, die sich mehr gegen Luther als gegen Karlstadt richteten und aufs schroffste den anfänglichen Primat des Papstes betonten, forderten Luther heraus, seine gegensätzliche Ansicht darzulegen. Eckh arbeitete offenbar im Auftrage römischer Hintermänner, die Luther zwingen wollten, offen und unverhüllt eine ketzerische Äußerung zu tun, die ihn auch vor der weltlichen Macht als »staatsgefährlich« kennzeichnen sollte. Dann hoffte man deren Unterstützung zu erhalten, um den gefährlichen Luther und zugleich die ganze lutherische Ketzerei in einem blutigen Massenprozeß ersticken zu können.
Luther kam nach Leipzig; die Disputation zwischen ihm und Eckh fand unter größter Spannung statt. Luther sagte gegen den Primat, daß, lange bevor Petrus Bischof von Rom geworden sei, die christliche Kirche schon weit verbreitet gewesen sei und also die römische Kirche unmöglich die erste und bevorzugte vor allen anderen Kirchen sein könne. Hinter dem Satz lauerte die Verleugnung der Oberherrschaft des Papstes. Der Satz stammte von Huß und Eckh nannte denn auch sofort Luther einen »böhmischen Ketzer«. Luther antwortete darauf, ob einer seiner Sätze bei Huß oder Wiclef zu finden sei, kümmere ihn nicht, übrigens seien manche von den Sätzen des Huß echt christlich und evangelisch.
Da hatten sie die ketzerische Äußerung, auf der der Tod stand. Daß er sie aussprach, zeigt, wieweit ihn die Volksströmung gegen die Papstmacht nach links getragen hatte. Daß ihm zunächst nichts geschah, zeigt, wie sieghaft die vieltausendköpfige Papstfeindschaft in Deutschland bereits dastand.