Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das siebenunddreißigste Kapitel

Wie weit er sie hatte, wird sich sofort zeigen. Daß er sie auf dem Wege, die Eschenheimer Chaussee entlang, hielt – festhielt und nicht den flüchtigsten Moment losließ, war sicher. Wie der Fuchs, der die Gans zum Spaziergange abgeholt hatte, tänzelte er an ihrer Seite unter den verbindlichsten Gesprächen dahin, – wohin – er wollte, und die übrigen folgten ihnen; Lucie am Arme des Gemahls, Herr Christoph Pechlin als Einzelwesen und sehr krummen Nackens, sehr hängenden Hauptes; und mit Augen, Händen, Armen und Beinen, die ein unruhiges Spiel der Verlegenheit trieben, und über welche das, was er dann und wann seine unsterbliche Seele nannte, vollständig jegliche Kontrolle verloren hatte.

So schritten sie fast zehn Minuten lang fort, und – »Mein Gott, Herr Doktor, wohin führen Sie uns denn eigentlich?« rief mit einem Male die gnädige Frau, ihrer allmählich immer höher gestiegenen Verwunderung Ausdruck gebend. Aber der Herr Doktor blickte nur lächelnd über die Schulter auf die schöne Fragerin und erwiderte vergnügt:

»Nur zum Zweck, meine Gnädigste. In Erbschaftsangelegenheiten ist ein jeder Advokat ein Charon, dessen Fahrzeug sich die Erben ohne Widerspruch anzuvertrauen haben. Wir sind übrigens sogleich an Ort und Stelle, und die Gnädige wird mir in einigen kurzen Augenblicken gern zugestehen, daß ich ein trefflicher, ein höchst gewandter Seelenführer gewesen bin. Hier also, – bitte mir nur noch einige Schritte weiter zu folgen.«

Sie standen vor einem ziemlich neuen Hause, das durch ein Vorgärtchen von der Straße getrennt war, und an dessen eleganter eiserner Gittertür auf einer Metallplatte neben dem Glockenzug der Name und Titel des Eigentümers oder Bewohners zu lesen war:

Dr. phil. Otto Dachreiter. –

»Hier???« fragte die Baronin von neuem, ihren Gatten durch einen Ruck am Arm mit in ihre Frage hineinziehend; während Miß Christabel Eddish ruhig und unbewegt stand und die Dinge an sich herankommen ließ, und Pechle mit dem Blicke eines Idioten sich an dem Namen auf dem Messingtäfelchen geistig versah und die verwirrtesten Gedankenmißgeburten vorzeitig und in Stücken in die Welt setzte.

»Ja hier; wenn ich bitten darf,« sagte Schmolle, und sich dem Ohre Christophs zuwendend, flüsterte er:

»Jetzt nimm dich zusammen. Ich hoffe, daß du dich als ein Mann aufführen wirst, und zwar als ein anständiger. Übrigens bemerke ich dir, daß ich für die Szenen und sonstigen Folgen der nächsten Augenblicke nicht verantwortlich bin und es dir überlasse, mit ihnen fertig zu werden. Hast du die Ehre und das Vergnügen gehabt, so zahle nun auch die Rechnung.«

Laut setzte er hinzu:

»Wenn du jetzt den Arm des gnädigen Fräuleins – deiner lieben Braut nehmen willst, Christoph, so werde ich – die Glocke ziehen.«

In vollkommener Bewußtlosigkeit nahm Christoph den Arm Christabels, und der internationale Rechtskundige zog wirklich die Glocke, zu gleicher Zeit diabolisch höflich den zähnklappernden Baron Ferdinand von Rippgen näher an das eiserne Gitter heranwinkend.

Der Klang der Hausglocke des Doktor Dachreiter hatte nichts Unheimliches. Im Gegenteil: es war sogar ein recht harmonisches Geläut. Auch das zierliche junge Dienstmädchen mit dem weißen Schürzchen, welches sofort erschien, um die Gartentür zu öffnen, hatte nichts Unheimliches an sich; – im Gegenteil, es lächelte höchst harmlos und recht anheimelnd auf die Frage des Advokaten Schmolle nach dem Doktor Dachreiter, und antwortete:

»Natürlich ist er zu Hause. Er hat die Büble eben frei g'lassen und sitzt in seiner Stube mitten in seinem Ung'ziefer. Wollen die Herrschaften nur gefälligst eintreten.«

»Bless me!« hauchte Miß Christabel. »Mitten in seinem Ungeziefer?!« und dem entomologischen Doktor würde wahrscheinlich ein Jucken über den ganzen Körper gelaufen sein, wenn er eine Ahnung davon gehabt hätte, welche Bedeutung die britische Jungfrau dem meldenden Worte der Frankfurter Maid unterlegte.

»Er hat sich in seinen Mußestunden auf die Gezieferkunde gelegt,« erklärte aber Schmolke, »und in den Pausen zwischen den Lektionen pflegt er seine Motten mit Kampfer zu traktieren. Aber bitte wirklich, einzutreten.«

Im Anfange seiner letzten Äußerung hatte er noch ganz holdselig gelächelt, den Schluß sprach er mit der ernstesten Amtsmiene, welche letztere dadurch nichts von ihrer Bedenklichkeit verlor, daß er plötzlich aus der Tasche seines Überrockes ein umfangreiches Konvolut sehr verdächtig aussehender Akten zog und damit melancholisch-peremtorisch der Pforte des hellen, freundlichen Hauses zuwinkte.

Stupéfaite, wie der Professor der Choreutik, Mr. Faustin de St. Vit, der sie vom Fenster aus herankommen sah, sagte; – stupefiziert, wie Pechle nachher sagte, schritt die kleine Gruppe über den mit Mainkies bestreuten Weg zur Haustür hin. Sie, die stupefizierte Gruppe, betrat die stille Hausflur des Doktors Dachreiter, wurde in ein ebenso stilles an den Wänden von eleganten Bücherschränken umgebenes Gemach geleitet, fand sich zuerst einer weißen Kolossalbüste des Schulmeisters, Philosophen und Prinzenerziehers, Professor Dr. Aristoteles gegenüber und fünf Minuten später dem Philosophen, Schulmeister und Pensionatsinhaber Dr. Otto Dachreiter. Letzterer hatte ebenfalls durchaus nichts Unheimliches an sich, außer daß er in der Tat ein wenig stark nach Kampfer roch. Es war ein freundlicher, kurzsichtiger Herr von ungefähr fünfzig Jahren, dann und wann nach getragener Last und Mühe des Tages ein behagliches Mitglied der Gesellschaft am Stammtisch hinter der Schlimmmauer; – ein lächelnder Pädagog im grauen Schulrock, der infolge seiner Kurzsichtigkeit seinem Besuche so nahe als möglich auf den Leib rückte, um sich auch durch den Gesichtssinn zu überzeugen, daß ihn wirklich jemand zu sprechen verlangt habe.

»Ich bin es, Dachreiter – das heißt, wir sind es!« sagte der juristische Beirat, und stellte mit der Miene eines Leichenansagers vor:

»Herr Doktor Dachreiter – Baron und Baronin von Rippgen – Herr Doktor Pechlin aus Stuttgart (hast du vielleicht schon dann und wann in unserer kleinen Gesellschaft gesehen) – Herr Doktor Dachreiter – Miß Christabel Eddish! . . .«

»A – a – oh!« machte der Doktor Dachreiter beim Klange des letzten Namens seine Brille mit beiden Händen zurechtrückend, und doch zu gleicher Zeit wie von einem Schlage auf die Nase getroffen, zurückfahrend gegen seinen Schreibtisch. »Schmolke – ihr unsterblichen Götter! . . . aber Schmolke, ist denn . . .?«

»Alles in Ordnung, mein Freund!« sagte der internationale Advokat ruhig und legte sein Aktenbündel auf den Tisch des Gelehrten.

»Aber –«

»Kein weiteres Aber, mein Bester. Weder als Mensch noch als Jurist kann ich dergleichen in diesem Falle gelten lassen,« fiel Schmolke dem Pädagogen in die Rede, zu gleicher Zeit aus der Tiefe seines Ernstes heraus einen sonderbar drolligen Seitenblick auf den betäubten Pechle werfend. Dann fuhr er fort: »Vor allen Dingen, lieber Dachreiter, würde ich dich bitten müssen, den Damen und diesen beiden Herren Stühle anzubieten. Auch du selbst wirst dich wahrscheinlicherweise am besten setzen, nachdem du –« – hier flüsterte er dem Schulmeister, dicht unter der Nase des Aristoteles etwas in das Ohr, welches wir an den unserigen diesmal noch vorübergehen lassen. Dagegen haben wir mitzuteilen, daß der Doktor Dachreiter in nervösester Aufregung seinem Zuflüsterer entgegenflüsterte und zwar in abgebrochenen, verlegenen ratlosen Sätzen ungefähr folgendes:

»Nein, nein – unter keiner Bedingung – was geht das mich an? – ich werde tun, was ich muß, aber ich werde nicht zugegen sein – es ist zu entsetzlich, und ich habe mich meiner Familie und meinen Zöglingen zu erhalten – – ich schicke ihn dir durch einen anderen herein. O ihr Götter, ihr Götter, ist dies ein Morgen! Der Tanzmeister soll ihn bringen – ja, der – dieser St. Vit wird sich am besten dazu schicken; – es ist ein Segen, daß er zufällig sich im Pensionat befindet. Ja, ja, Schmolke, Monsieur Faustin soll ihn euch bringen.«

Damit enteilte er, wie ein Mensch, der im Fortlaufen seine einzige Rettung sieht, und jetzt blickte die Baronin Lucie von Rippgen mit den größesten Augen im Kreise umher und sprach:

»Allmählich möchte ich aber doch wissen, wo wir uns eigentlich befinden, und was dieses alles zu bedeuten hat. Ich begreife dich nicht, Christabel, daß du dich nicht schon längst darnach erkundigt hast.«

»Es wird sich wohl finden,« sagte Christabel, ihrem Verlobten kühl, klar und scharf in die schwimmenden Augen blickend.

»Yes!« sagte Herr Christoph Pechlin, ohne zu wissen, was er sagte; ebenso wenig, als der Baron Ferdinand, der über die Schulter der Gattin hinweg leise wimmerte:

»Ei ja, ei ja. Ei Herrcheses, ja!«

Es war eine peinliche Minute für alle. Der internationale Rechtskundige Dr. Leopold Schmolke mußte das fühlen, und fühlte das jedenfalls auch, denn er tat seinerseits nicht das geringste, der Qual ein schnelles Ende zu machen, sondern weidete sich viel länger, als nötig war, mit dem ausgesprochensten Behagen an dem verlegenen Jammer.

Erst in dem Augenblick, als ein allgemeiner Aufschrei oder Aufkreisch der gequälten Menschennatur in jeglicher Kehle emporstieg, nahm er kaltblütig laut, kräftig und amtsmäßig das Wort und fragte einfach:

»Wollen sich die Herrschaften wirklich nicht setzen?«

»Nein,« erwiderte die Baronin sehr schrill, »aber ich bitte im Namen meiner armen Freundin, uns jetzt so kurz als möglich mitzuteilen, was dieser eigentümliche Aufwand von mysteriösen Spaziergängen und Geflüster, kurz von Mysterien überhaupt zu bedeuten hat.«

»So werde auch ich mit gütiger Erlaubnis meinen Vortrag stehend halten, gnädige Frau,« fuhr der Advokat freundlich und höflich fort. »Also nehme ich hiermit während der Abwesenheit meines Freundes, des Institutsvorstehers Doktor Dachreiter die freundliche Aufmerksamkeit und entschuldigende Teilnahme der Herren und Damen – auch die deinige, lieber Pechlin! – für einige Augenblicke in Anspruch. Im voraus habe ich zu bemerken, daß ich hier stehe im Auftrage – als Mandatar, das heißt, als juristischer Beirat des Herrn Hauptmanns in königlich großbritannischen und irländischen Diensten, Sir Hugh Sliddery

Miß Christabel Eddish stieß einen Schrei hervor, wie er noch nicht durch die Blätter dieses Manuskriptes gellte, einen Schrei, der uns die Bogen unseres Berichtes auseinander fegt und fast in Fetzen umherwirbelt. Zu gleicher Zeit gab sie aber auch ihrem Verlobten eine Ohrfeige, wie sie gleichfalls noch nicht in diesen Bericht hineinklatschte. Dann setzte sie sich doch, das heißt, sie sank, wie es schien, ohnmächtig auf den nächsten Stuhl und in den unterstützenden Arm ihrer Freundin, die ungemein verstört den Advokaten anstarrte und zum erstenmal in dieser Geschichte sehr dumm aussah. Mit gesträubten Haaren, offenem Munde und den hellen Schweißperlen auf der Stirn wich Herr Christoph Pechlin gleich einer persona dramatis des Puppenkastens gegen die Wand zurück; – der Baron – stand einfach da, und es ist nicht von uns zu verlangen, daß wir in diesem Moment auch über seine Miene und seine Gesten etwas sagen.

Miß Christabel lag in Ohnmacht, aber sie erwachte auf der Stelle daraus, als Schmolke wiederholte:

»Ja, des Kapitäns Sir Hugh Sliddery!« –

»Verräter! . . . Shame . . . o niederträchtige, höchst niederträchtige Verräter – o you traitorrrrrs!« ächzte die Miß zwischen den knirschenden Zähnen, und Schmolke, alles das als eine Schmeichelei auffassend, verbeugte sich bei jedem Wort und empörten Ausruf verbindlichst, zu gleicher Zeit seine Papiere fächerförmig handgerecht auf dem Studiertische des Dr. Dachreiter ausbreitend.

Unerschütterlich auf der Regelhaftigkeit und Beweiskräftigkeit eben dieser Dokumente fußend sprach er weiter:

»Mein ehrenwerter Klient, Sir Hugh Sliddery, den ich, beiläufig gesagt, Miß Eddish, zuletzt im Sommer dieses Jahres zu Andeer am Ende der Via mala im erwünschten, wenn auch etwas verschnupften Wohlsein, auch wie gewöhnlich auf der Flucht vor dem gespenstischen Fatum seines Lebens traf, – mein ehrenwerter Klient Sir Hugh hat endlich meinen Vorstellungen und offenherzig klaren Darlegungen, kurz meinem Rate Folge gegeben und wünscht nunmehr ein gewisses Verhältnis, teuerstes Fräulein, wie man hier zu Lande leider ziemlich roh und shocking sagt, da es nicht anders geht, über dem Knie abzubrechen.«

»Go on! weiter!« zischte Miß Christabel, die bereits der Unterstützung der erstaunten Freundin nicht mehr bedurfte, sondern mit entblößtem Gebiß und geballten Händen giftig sphinxhaft vorgebeugt dem frankfurter Advokaten ins Gesicht sah.

Mit einer neuen Verbeugung fuhr dieser fort: »– über dem Knie abzubrechen, das heißt nach seinerseits bis an die äußersten Grenzen erfüllten Pflichten und Verbindlichkeiten, die Angelegenheit mit absoluter Machtvollkommenheit in meine Hände zu legen und mir die schließliche Lösung zu übertragen, welches ich hiermit ausführe, indem ich die Akten samt dem glücklicherweise zu Händen seienden Corpus delicti ganz und vollständig in die Hände des hier gegenwärtigen Fräuleins – Christabel Eddish zurücklege und –«

»Jetzt mach amal einen Punkt und sag, was du zu sage hascht, sonscht werd i grob – saugrob!« rief Pechle von der Wand her dröhnend an den Tisch tretend und mit der Faust darauf hauend; aber der internationale Rechtsverständige schien ihn weder zu sehen noch zu hören, sondern redete mit vollkommenem Gleichmut weiter zu Miß Christabel.

»Meine Gnädige, darf ich also bitten, einen Blick auf die hier vorliegenden Papiere und Aktenstücke, von denen natürlich beglaubigte Abschriften in meinen Händen bleiben, zu werfen? Hier ein Geburtsschein de dato ersten April 18.., hier die Korrespondenz meines Mandatgebers, des Kapitäns in britischen Diensten Sir Hugh Sliddery mit Madame Therese Robins zu Saint Lô, Departement de la Manche, welche durch Vermittlung meines Klienten, da der – soll ich sagen gegnerische Teil – jegliche Verantwortlichkeit von sich wies, den lieben Täufling die ersten zartesten Jahre seiner beglückenden Existenz hindurch unter ihre mütterliche Flügel nahm. Hier meine Noten und kleinen Berechnungen mit quittierenden Unterschriften meines Freundes Dachreiter, seit mein Klient Sir Hugh mir die Ehre erwies, mich mit der weiteren Erziehung des – ohem – des – zu betrauen. Hier zuletzt sämtliche höchst zufrieden und lobend sich aussprechende Zeugnisse meines Freundes Dr. Dachreiters über den durchaus nicht unbegabten Zögling; und hier –«

Der Redner brach ab, obgleich er hätte sagen können: »Hier der Zögling des Doktors und Institutsinhabers Dachreiter selbst,« – denn auf der Schwelle erschien, einen ungefähr sechs Jahre alten Knaben an der Hand führend, der maître de danse des Instituts Mr. Faustin de St. Vit und begrüßte die jetzt ganz zu Stein gewordene Gesellschaft, die in neuer Ohnmacht liegende Hauptheldin eingeschlossen, mit der zierlichsten aller Verbeugungen.

»Master Christopher Sliddereddisch, meine Herrschaften!« sprach der internationale Rechtsverständige mit einem vorstellenden Gestus väterlich-freundlich, vormündig-wehmütig dem Knaben die Hand auf die rötlichen Locken legend und fügte hinzu: »Meine Aufgabe endet augenblicklich vollständig hiermit, und habe ich also die Ehre, mich, alle wünschenswerten ferneren Erörterungen und Ausführungen jedermann natürlich vorbehalten, jetzt allergehorsamst zu empfehlen, – – – guten Morgen, Pechle!«



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