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Der Mann, welcher sich der schweren und furchtbar verantwortungsvollen Aufgabe unterzieht, seinen Landsgenossen Geschichten zu erzählen und sich dabei nur fort und fort vor Augen hält, daß er auf die abgelegten Hemden eben dieser Landsgenossen schreibt, wird selten etwas ganz und gar Nichtsnutziges, das heißt etwas ganz und gar seinem Vorteil und irdischem Wohlbehagen, oder noch kürzer gesagt, etwas dem guten Einvernehmen mit seinen Nachbarn Schadenbringendes auf dem weißen unschuldigen Papiere ablagern. Ich, der Schreiber dieses Buches, halte das mir fort und fort vor Augen, und so habe ich die – feine Wäsche meiner lieben Freunde und Freundinnen im Publikum nach dem doch etwas unheimlichen Wege von ihrem Leibe durch den Sack des Lumpensammlers auf meinem Schreibtische immer nur mit dem empfindlichsten Zartgefühl in die nötigen neuen Falten gelegt. Ich kann mir das Zeugnis ausstellen, daß ich meine Aufgabe stets sehr behutsam angefaßt habe. Heute aber erzähle ich eine internationale Geschichte und gehe mit erhöhtem Bangen an das Werk. –
In einer Frühlingsnacht, die sicher ebenso dunkel war, als jene Oktobernacht, in welcher der berühmte Schüler von Alcala, Don Cleophas Leandro Perez Zambullo, verfolgt von den drei Spadassins, aus dem Dachfenster stieg, in das ihn der zudringliche Sohn der Göttin von Cythere hineingelockt hatte – erscholl aus einer hochgelegenen Stube, nicht in Madrid, sondern in der Hauptstadt des Schwabenlandes, ein Gelächter, wie kein Student von Alcala oder Salamanca es je herzerfrischender und kräftiger ausgestoßen hatte.
Es lachte da ein Student von Tübingen, und zwar ein Studiosus der Theologie, ein Stiftler – und zwar ein Ex-Stiftler, ein verunglückter Studiosus der Theologie, und daß dergleichen Leute vor allen übrigen Menschenkindern dann und wann zu einem recht herzhaften Lachen aufgelegt sind, das ist bekannt durch das ganze Schwabenland, so wie man auch im übrigen deutschen Reiche einige Kenntnis allmählich davon genommen hat.
Die Nacht war wie gesagt dunkel. Eine schlechte Lampe suchte vergeblich das Zimmer in ein besseres Licht zu stellen, und es war ein großes Glück, daß der Herr »Doktor« Christoph Pechlin, gebürtig aus Waldenbuch im Schönbuch, Sohn des weiland Stadtpfarrers daselbst M. Christian Pechlin, durchaus nicht das Bedürfnis fühlte, in ein besseres Licht gestellt zu werden. Seiner Meinung nach ging ein ungemein glänzendes Licht von ihm selber aus, und er befand sich ganz behaglich in der festen Überzeugung, jeglichen Schein, welchen irgendeine Umgebung auf ihn werfen konnte, überwältigend zurückzudrücken. Da es mehr Erdenbürger gibt, welche an solchen meteorologischen Illusionen ihr Behagen finden, so wollen wir ihn nicht darin stören, sondern es jenen überlassen, seine Leuchtkraft zu berechnen, das heißt, sie an der ihrigen zu messen.
Augenblicklich saß Pechle in Hemdsärmeln, westenlos neben einem Tische, der anderthalb Fuß hoch mit statistischen Büchern aus der königlichen Bibliothek, mit Lokalblättern der Stadt und sämtlicher Oberämter des Königreichs bedeckt, und mit jedwedem Material zur Fixierung eigener Gedanken nach Notdurft versehen war. Er hielt die Arme über der breiten Brust gekreuzt, blies aus einer mächtigen Burschenpfeife, die er mit dem linken Oberarme an dieselbe Brust brückte, mächtige Rauchwolken einem nächtlichen Besucher zu und lachte – lachte – lachte, daß der städtische Wächter drunten in der Gasse stehen blieb, betroffen in die Höhe blickte, den Kopf schüttelte, um zuletzt der Ansteckung naturgemäß zu unterliegen und gleichfalls lachend weiter zu wandeln.
Der nächtliche Besucher stand. Er war stehen geblieben, obgleich Herr Christoph Pechlin ihn bereits mehrere Male aufgefordert hatte, sich zu setzen. Der nächtliche Besucher trug einen eleganten Schlafrock, den eine rote Schnur um die schmächtige Mitte des Leibes zusammenhielt. Er trug eine fast noch elegantere Hausmütze, geziert mit einem goldenen Quast, und er hielt die Hände vor dem Unterleibe gefaltet und lachte durchaus nicht. Im Gegenteil schien er dem Weinen viel näher zu sein als dem Lachen, und hätte der städtische Wächter ihn gesehen, so würde ihm schon sein Amtseid nicht gestattet haben, jener obenerwähnten Ansteckung zu unterliegen. Eine Verantwortung vor dem Herrn Oberbürgermeister würde ihm sicherlich recht schwer geworden sein. –
Nachdem wir vernommen haben, daß der Lacher die tränenden Augen endlich abwischend gesagt hatte: »O Barönle, o Rippgen, Rippgen, du dauerst mich, aber – nimm es mir nicht übel – du erheiterscht mich sehr!« müssen wir vor allen Dingen jetzt mitteilen, was diesem nächtlichen Besuche des eleganten Schlafrockträgers bei dem burschikosen Ex-Stiftler Christoph Pechlin voranging, und was diesen Besuch bedingte.
Es war ungefähr acht Tage her, seit die Ereignisse eintraten, welche die gegenwärtige Stunde möglich machten, und die Wichtigkeit unserer Aufgabe erfordert die unerbittlichste Strenge gegen unsere Phantasie und unsern Enthusiasmus. Wir bezähmen unsern keuchenden, zitternden Eifer und erzählen ruhig und der Reihe nach.
Vor ungefähr acht Tagen, an einem schönen sonnigen Morgen lag Pechle – natürlich mit der Pfeife im Munde – im Fenster und sah an seinem Hause hinunter und in die Gasse hinab. Es war wenig in der Gasse zu sehen; aber der Doktor Pechlin sah doch aus dem Fenster, und nachdem er länger als eine Stunde aus dem Fenster gesehen hatte, erblickte er etwas, was seine Ausdauer im Gaffen vollständig belohnte.
Eine Droschke rasselte um die Ecke und hielt vor dem Hause. Auf dem Kutschbock nahm ein eleganter Reisekoffer den Platz neben dem Kutscher ein, und was den Wagen selber einnahm, das fing und fesselte sofort Pechlins sämtliche überschüssige Aufmerksamkeit, deren er freilich zu allen Zeiten im Überfluß hatte, und gab sie nicht eher wieder frei, als bis die Familie Rippgen aus Dresden ausgestiegen und das letzte Gepäckstück im Hause verschwunden war.
Wie aber stieg die Familie Rippgen aus Dresden aus?
Natürlich zuerst der Baron, ein schmächtiger, dünnbärtiger, hochblonder Herr mit etwas geröteten Augenlidern, einem an einem schwarzen Bande baumelnden Augenglase und in einem allermodernsten Frühlingskostüm von englischem Schnitt und Material. Sodann die gnädige Frau, eine schwarzlockige, sehr korpulente Dame, von imperatorischen Gesten und Mienen, die von Rechts wegen dem Gatten hätte behilflich sein müssen, den festen Boden zu gewinnen. Sie war das aber durchaus nicht, sondern stützte sich mit vollstem Gewicht auf die Schulter des Barons und drückte ihn nieder, als ob sie einen ausgewachsenen melancholischen Alraun in seine Vexierschachtel zurückdrücken wolle. Ja, Schachtel! – Schachteln und wieder Schachteln folgten dem Ehepaar, und zum Schluß sprang leichtfüßig, mit der letzten Schachtel im Arm, die Kammerjungfer der Frau Baronin aus dem Wagen, und Pechle oben in seiner olympischen Höhe sagte:
»Sein Wunder kann jeder Mensch erleben; aber was zu viel ist, das ist zu viel! Ei Herr Je–le, das Sechserle mit Familiche! Ha, das wird mer noch in die schpäteschte Tag a Wiederfinde nenne! O, komm du mir 'rauf und begegne mir auf d'r Stiege! Herr mein Gott, da erlebt man doch endlich einmal wieder was in dieser lumpigen Welt! O Zeus, Vater der Götter, und du, Sohn der Nacht, Momus, da freu' ich mich wirklich drauf, wenn ich dem zum ersten Mal auf der Treppe begegne. Der wird sich wundern!«
Und der Einzug der Familie Rippgen begann – mit Möbelwagen und Packträgern, mit Pianinos und Spiegeln in Barockrahmen, mit rotsammetnen Zimmergarnituren und seidenen Vorhängen, mit Stutzuhren und Wiener Regulatoren, sowie mit allem übrigen, was zu einem noblen Hausstand und Haushalt unbedingt nötig ist. Pechle aber leitete ihn von oben herab mit großem Vergnügen, hatte sein Wunder und seine gänzlich neidlose Lust an dem Luxus, der sich da unten entfaltete, und konsumierte zweitausend Stück Schwefelhölzer dabei. Es war aber nicht zum Verwundern, daß ihm die Pfeife sehr häufig während dieser großen Tage ausging: die Maultrommel während dieser Tage zu spielen war ganz unmöglich.
Die beiden – Christoph Pechlin aus Waldenbuch und Ferdinand, Freiherr von Rippgen aus Dresden hatten zusammen in Tübingen studiert. Der Schwabe, wie wir bereits wissen, Gottesgelahrtheit und die Maultrommel im Stift und der Sachse Jurisprudenz und die Flöte draußen im Saeculo. Und sie hatten ein eigen Wohlgefallen aneinander gefunden durch zwei Semester, bis der sächsische Baron am hellen Tage nach Leipzig ging, um daselbst seine Studien zu vollenden, und der schwäbische Pfarrerssohn nächtlicherweile aus dem Stift ausbrach und relegiert wurde, um sich auf der Stelle der schönen Literatur und der unschönen Publizistik in die verlorenen Pfarrerssöhnen und andern verlorenen Söhnen stets weitgeöffneten Arme zu werfen.
Geschrieben hatten sich die beiden guten Freunde nach ihrer Trennung nicht. Wahrscheinlicherweise hatte jeder von beiden während der seit dieser Trennung verflossenen Jahre täglich und stündlich auf einen Brief des andern geharrt, und nun fanden sie sich so wieder.
Das heißt, fürs erste fand nur Pechle seinen Baron wieder und sprach am zweiten Tage des Einzugs, melancholisch in seinem Fenster das Haupt schüttelnd:
»Der Bursche spielte sich in seinem kleinen Stil immer auf den Großartigen hinaus; aber dies ischt zu arg! Weiß Gott, dies ischt zu arg; – wenn in dem Lehnstuhl ein Mensch nicht apoplektisch wird, so laß ich all meine physiologischen Erfahrungen im Bürgerhöfle öffentlich versteigern, Donner und Blitz, es soll mich nur wundern, wen er geheiratet hat, der arme Tropf! Na, na, hat der sich seine Suppen geschmälzt! Uih, o Sechserle, Sechserle, Sechserle!«
Es ist eine Art, die Dinge an sich herankommen zu lassen, welche man im Stift zu Tübingen in ausgebildeter Vollkommenheit erlernt. Pechle konnte warten, und er wartete und wiederholte noch Tage lang:
»O, komm du mir 'rauf!« und spielte nachts schmelzend sein Leibinstrument, ohne außerdem der Erfüllung seines Wunsches den kleinsten Schritt entgegen zu tun. »Komm du mir 'rauf!« sagte Pechle noch längere Zeit fort und fort, nachdem der neue Hausgenosse und frühere Kneipbruder schon manch liebes Mal heraufgekommen war, das heißt natürlich nur bis zur Tür seiner eigenen Wohnung im Hauptgeschoß des von den zwei Freunden bewohnten Hauses.
In dem Hauptgeschoß war längst an der Vorsaaltür neben dem Glockenzuge die elegante Metalltafel mit dem Namen:
Ferdinand, Baron von Rippgen
angenagelt worden, und Pechle hatte wohl zwanzigmal und zu jeder Stunde des Tages und der Nacht kopfschüttelnd die Inschrift gelesen, ehe er die Glocke zog. Endlich zog er sie einmal und zwar eine Stunde nach Mitternacht. Er zog sie mit einem diabolischen Ruck, und schlüpfte seltsamerweise eiligst und auf den Zehen die Treppe hinauf zu seiner eigenen Wohnung, ohne das Öffnen der Tür in der Beletage abzuwarten.
»Wir kommen uns so doch wenigstens allmählich näher,« sagte er grinsend in seiner Höhe, während er auf das da unten dem unmotivierten Schellengeläut folgende Rumoren und das Schimpfen und Belfern der sächsischen Kammerjungfer und der schwäbischen Hausmaid horchte.
Das war im April, wenn auch nicht am schalkhaften Ersten des Monats, und der Monat ging vorüber, ohne daß sich die beiden Freunde so nahe kamen, als wir es zuletzt doch wohl wünschen müssen. Nur, bei geöffnetem Fenster, ein eigentümliches, dumpfes, melodisches Summen in warmer Stille der Nächte kam dem Baron sonderbar bekannt vor, und er horchte jedesmal angestrengt darauf, sobald es über seinem Haupte anhub; allein das glückhafte Zusammentreffen war dem Wonnemond aufgehoben, und endlich – endlich fand es statt, und zwar an einem Nachmittage, als das Thermometer bereits achtundzwanzig Grad im Schatten zeigte, ganz eine Temperatur für ein liebend, wonnetrunkenes, freudig aufjauchzendes Aneinanderstürzen von Herz an Herz, von Busen an Busen! Die beiden Freunde begegneten einander einfach auf der Treppe des von ihnen seit einiger Zeit gemeinschaftlich bewohnten Hauses.
Der Schwab stieg schwitzend herab, der Sachs, aufgelöst durch den südlichen Frühling, keuchend herauf, und so trafen sie vor der Metalltafel aufeinander, starrten sich eine Weile an, um sodann ihre Verwunderung gegenseitig auszutauschen.
»Pechl–in! Pechle?!«
»Rippgen?! O Sechserle, bist du mir endlich doch heraufgekommen?!«
»Aber bist du es denn, Pechle?«
»Na, wer sollte es sonst sein? Und was würde es mir helfen, wenn ich mich aufs Leugnen legen würde? Alterle, ich bin's, und da du es, beim Hymenaios und bei Aphrogeneia der Meerschaumgöttin, ebenfalls bist, so ersuche ich dich, mich sofort deiner Frau Gemahlin vorzustellen.«
Meiner Frau? Mein Gott, was weißt du denn von meiner Frau?«
»Nun, wenn man in Einem Hause wohnt –«
»In Einem Hause? Pechle?!«
»Jawohl, seit du eingezogen bist. Und weischt du, wir Schwabe sind eine neugierige Menschensorte. Ich gucke immer noch gern durch die Schlüssellöcher.«
»Pechle?! Ist es denn möglich? Warst du es denn, was mir während der letzten Nächte in alle meine Träume hineingesummt hat?«
»Ei freilich–natürlich, als Geischtererscheinung mit dem alten Geischterinstrument, und, Potz Blitz, nun laß uns hier auf der Stiege nicht Wurzel schlagen. Komm mit mir herauf auf meine Bude, oder nimm mich mit dir in deine Gemächer und präsentiere mich deiner Gattin!«
Der Freiherr sah mit verlegenem Lächeln und höchst nervös die Hände reibend auf den Studiengenossen.
»Mit gro–ßem Ver–gnü–gen – sogleich – willst du die Gü–te – haben – einzu–tre–ten. Aber, lieber Freund« – und er sah ihn kläglich genug an, und Christoph sah ihn an und sah an sich selber hinunter, packte plötzlich den Baron an beiden Schultern, schüttelte ihn derb und sprach:
»Na, ich sehe schon. Wir sehen uns wohl noch einmal! Behüt dich Gott, Bruder, und mach's so gut als möglich.«
»Schönsten guten Morgen, bester Pechlin!« rief Ferdinand, krampfig dem Ex-Stiftler beide Hände schüttelnd, und so stieg für dieses Mal jeder weiter: der Baron hinein zu seiner Frau, der andere, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem sehr lebendigen und vergnügten Muskelspiel um die Nasenflügel, die Treppe hinunter: