Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das einundzwanzigste Kapitel.

Sie hatten es gesehen und gehört. Der Engländer sagte vor Erstaunen gar nichts; aber der Lammwirt gab viel weniger seinem Erstaunen als einem gewissen Unmut Ausdruck, indem er brummte:

»Was hätt's denn au gemacht, wann sie mir no a Paar Fenschter demoliert hätte? 's wär do in der Kundschaft gebliebe, und s' hätten's morge schon hitzig g'nug bei mir abgesoffa, – Sakerment!«

Und damit drehte er sich kurz um und ging in das Haus, während der Exstiftler an den Baronet sich wendend, kleinlaut bemerkte:

»Recht hat er! Man kann sich auch zu sehr mäßigen. Das kommt davon, wenn man noch von Tübingen her zu gut Bescheid weiß. Aber die Damen! Die Damen! Sakerment, i möcht nur wisse, weshalb gerad sie immer d' Lust des Daseins schtöre müsse?! Recht hat der Lammwirt g'wiß.«

In der Wirtsstube aber blickte Christabel gerade in diesem Moment, nachdem sie kurz vorher noch aus dem Fenster in die bewegte Finsternis hinausgesehen hatte, mit großen und ganz eigentümlich leuchtenden Augen erst auf die Balkendecke und sodann auf die Baronin von Rippgen und sprach, sich ganz in ihrem vorigen, herben und holdruhigen Selbst wieder und wieder zurecht findend:

»Lucy, das ist ein Mann! O Lucy, dear, dieses ist in der Tat ein Mann!«

Das war er; – nämlich ein Mann, und nicht nur das, sondern außerdem auch noch ein ganz sonderbarer Kerl, und als solcher wendete er sich von neuem zu seinem eben gefundenen englischen Freunde, dem Kapitän Sir Hugh Sliddery, und sagte:

»Lieber Mann, jetzt sind Sie so gütig und lassen sich gefälligst bei Lichte besehen.«

»Wha – what?« fragte der Engländer, und:

»Yes,« erwiderte Pechle. »Bei Lichte; denn nach dem was Sie mir vorhin mitgeteilt haben, wird das sehr notwendig sein. Seien Sie ganz ruhig, man kennt das, man ist auch seinerzeit aus manchem Wirtshaus herausgeworfen worden und weiß ziemlich genau, wie man nachher ausschaut. Die Damen! Die Damen! Herr von Schlidderich! Bedenken Sie die Damen!«

»Oh die Ladies! Ja, Sie sind recht, Sir!« rief der Kapitän und ließ sich durch das Gedränge in dem Hausflur unter die Lampe auf dem Hausflur ziehen. Kopfschüttelnd besah ihn Pechlin sich daselbst und nahm mit tiefstem Ernst wiederum das Wort:

»Ganz mein Ebenbild nach manchem heißen Kampfe! Herr, a priori und a posteriori schließe ich, daß unterwendig ein blaugefleckter Tiger gar nichts gegen Sie ist. Wisse Se, jetzt schtelle ich Sie dem Riekele vor, und das bringt Sie in unseren Schlafsaal und bringt Ihne frisches Wasser und a reines Handtuch. Ihre Reisescharteken werde ich währenddem im Ochsen und vor demselbigen zusammensuchen lassen, und dann kommen Sie gleich frisch und rosig herunter, ich stelle Sie, wie gesagt, den Damen vor und streiche Sie nach Kräften als Ritter und Menschen heraus. Na, es wird noch eine recht vergnügte Nacht, und Sie werden sehen, daß Ihr Schicksal Sie in bessere Hände gar nicht hätte fallen lassen können, Herr Hauptmann.«

»Oh well,« ächzte der Engländer, »das muerken ouich jetzt schon. Well, ouich uill mir verlassen auf Sie, und ouich uill mir waschen, und Sie werden mir vuorstellen die Ladies.«

»Natürlich! Marschieren Sie nur mit dem Riekele ab. Da, Mädele, leucht dem Herrn, zünd ihm d' Stiege 'nauf. Auf Wiedersehen! Wisse Se, vielleicht bringe mer mit Gottes Hülfe und gnädigem Beistand auch noch meinen intimen Freund, den Baron dazu, daß er sich endlich einmal des Lebens freut. Ja, so wolle mer's mache: Sie mache sich der Baronin interessant, und i werd mi zu Ihrer Landsmännin halte.«

»Lands – män – nin?« rief der Kapitän Sir Hugh Sliddery stutzig.

»Yes! Aber a Fräulein, a Miß, a a'g'nehme Miß!« antwortete Pechle enthusiastisch, drängte den zögernden Fremden mit dem Riekele gegen die Treppe, schickte einen Boten nach dem Ochsen, um die Reiseeffekten des Engländers, soweit sie noch nicht auf seinem oder anderer Leute Rücken zerschlagen waren, zu sammeln, und ins Lamm herüberzuschaffen, und begab sich sodann munter und heiter, seines guten Gewissens nach allen Richtungen hin sicher – – – zu den Damen! – – –

»Grüß Gott, meine Herrschaften!« sprach er freundlich beim Hereintreten.

»Da ist er!« stöhnte der Baron von Rippgen, in grundlosester Tiefe seines Ichs, soweit ihm dasselbe von seiner Frau noch gelassen war. Diese, seine Frau wendete sich auf ihrem Sitze ohne von dem Freunde ihres Gatten Notiz zu nehmen, und nur Christabel erwiderte den Gruß, indem sie Virginy mit zierlicher Energie von sich abschob und mit einem langen Blick auf den Exstiftler das Haupt neigte.

»Es ist mir lieb, daß ich die Herrschaften noch wach und außer Bett finde. Nicht wahr, die Damen haben sich nicht durch die harmlose Heiterkeit des Abends erschrecken lassen?! Das ist eben das Gewürz in der Suppe des Daseins, und nicht nur bei uns nennt man das so. Gnädige Frau, das kleine Abenteuer gehört sowohl der Form wie dem Inhalt nach gleichfalls zu einem Ausfluge nach dem Hohenstaufen; – o ja, noch schweben die Geister der Ahnen um den hehren Gipfel, und so lange das deutsche Volk existiert, wird es sich auch prügeln, nicht wahr, Ferdinand? Gnädiges Fräulein befinden sich hoffentlich wohl?«

»Ich danke, Sir,« sprach Miß Christabel Eddish, »ich empfinde mich wenigstens nun besser.« Und sie sprach das mit einem Tone und einem Gesichtsausdruck, die zwar noch mancherlei für Herrn Christoph Pechlin zu wünschen übrig ließen, aber doch sehr verschieden waren von ihrem Gebärdenspiel im Abendsonnenschein auf der Höhe des Staufenberges. Sie setzte ihre Freundin dadurch in Verwunderung, und noch mehr dadurch, daß sie noch einige Worte mehr für den – den – den »gar nicht aus–zu–denkenden Menschen« fand.

»Mr. Pichlin,« sagte sie, »Sie haben dem Mob imponiert, ich habe das vernommen vom Fenster, und wir, meine Freundin und ich, sind Ihnen sehr verbunden für dieses. Wir danken Ihnen, mein Herr, – o ja, wir danken Ihnen; nicht wahr, Lucy?«

»Wie du willst, Christabel,« sagte die Baronin mit hochgezogenen Augenbrauen, unter den auf der Unterlippe spielenden Oberzähnen durch, und erhob sich mit einem Ruck, um sich mit einem kräftigeren Ruck wieder hinzusetzen, als etwas noch Erstaunlicheres geschah.

»Ja, ich will!« sprach Miß Christabel Eddish. »Ich fühle mich mit deiner gütigen Erlaubnis dazu verpflochten.« Und sie erhob sich, trat dem Exstiftler entgegen und reichte ihm mit leisem, lieblichem, jungfräulichem Erröten, jedoch mit fest unter die Unterzähne geklemmter Oberlippe die Hand: reichte ihm die Hand zum Kuß! . . .

Das deutete für sie an, daß sie viele außerbritische Länder und Menschen gesehen und dieselben zu schätzen gelernt hatte, die übrigen versteinerte es vollständig und den Freund Pechle am meisten.

Seit Jahrhunderten existierte weit verzweigt durch das Land Schwaben die Familie Pechlin. Sie hatte im Krieg und Frieden alles erlebt, was eine Familie irgend erleben kann. Sie hatte größeren und kleineren Dynasten, den Grafen, den Herzögen und den Königen von Württemberg auf alle mögliche Weise gedient. Sie hatte auf Ratsherrenbänken freier Reichsstädte gesessen und vor denselben als Aufrührer gestanden. Sie hatte die Kanzel, das Katheder und den äußeren und inneren Feind geschlagen. Wie das Wort, so hatte sie die Feder und das Schwert geführt; aber noch nie hatte ein Pechle – das getan!

Was?

Einer Dame die Hand geküßt! . . .

Die Jahrhunderte aber hatten in stiller und in lauter Wirksamkeit an diesem großen Momente gearbeitet, und nun war er vorhanden. Noch einen kürzesten Augenblick stand Christoph Pechlin da – »blitzdumm«; dann aber durchzuckte, ebenfalls blitzartig, ihn die ganze Größe der gegenwärtigen Minute; er fühlte sich, sozusagen, als das letzte sublimierteste Glied einer chemischen Reihe, und wie einem Ertrinkenden sein ganzes voriges Dasein, so ging ihm noch dazu eine ganze auf den Fall einschlagende Literatur durch den Sinn: er faßte sich, sah sehr klug aus und fühlte sich dem großen Moment bis in die äußerste Einzelheit hinein gewachsen. Er nahm die Hand auf. Mit einem Grinsen, das jedweder Beschreibung spottet, erhob er die zarten, langen, weißen Finger der hohen Jungfrau an seinen bärtigen Mund, – er neigte sich vor – er spitzte diesen Mund, wie Petz seine Schnauze spitzt, wenn er eben im Begriff ist, sie in die Spalte eines Honigbaumes zu schieben, und rasch wie aus Vergangenheit Zukunft wird und umgekehrt, war auch hier die ungeheuere Gegenwart verflogen, war das, woran so viele vergangene Jahrhunderte gearbeitet hatten, ebenfalls Vergangenheit geworden – – der Erste aus der Familie der Pechlins hatte einem Weibe die Hand geküßt!

Eine Sonne hätte eigentlich nicht genügt, die große Tatsache in das rechte Licht zu stellen, und doch beleuchteten nur die trübe Öllampe der Wirtsstube zum Lamm und die qualmende Talgkerze, welche der Baron Ferdinand von seinem Tanzsaale in schwankender Hand mit heruntergebracht hatte, die erstaunliche Szene. Und sie sollten noch Erschütternderes bescheinen! In diesem Augenblick, als Christoph Pechlin die Hand der englischen Jungfrau zu seinen Lippen erhob, öffnete sich wiederum die Tür: Sir Hugh Sliddery erschien auf der Schwelle.

Pechle stand dem Eintretenden den Rücken zukehrend; aber Miß Christabel sah ihm, dem Baronet, ins Gesicht. Ja, sie sah ihn – sie sah ihm ins Gesicht, und wie der Kapitän auf der Türschwelle zu Stein wurde, so verwandelte sie, inmitten des Gemaches, sich in ein ähnliches Material; aber nur, um sofort mit einem gellenden Schrei von neuem flüssig zu werden. Sie kreischte, sie – sie riß die Hand krampfhaft dem Exstiftler unter der Nase weg – sie griff mit beiden Händen in die Luft, und beide Arme hatte Herr Christoph Pechlin auszustrecken, um die steif Umfallende aufzufangen. Und Sir Hugh sah sie noch in diesen schützenden, rettenden Armen; dann aber hatte er sich auch bereits gewendet und entfloh zum zweiten Male in dieser wahrhaftigen Geschichte. Die Tür hinter sich zuschlagend entsprang er. Durch den Leib der Bavaria war er gepoltert, durch das Gedränge auf dem Hausflur des Wirtshauses zum Lamm in Hohenstaufen hatte er mit Fäusten, Füßen und Knieen sich Bahn zu brechen, über die Theresienwiese war er im hellen, sonnigen, süßen Mittagslichte entflohen; diesmal stürzte er in die Nacht, die dunkle, unheimliche, geheimnisvolle Nacht! Er stürzte hinein: lassen wir ihn stürzen, und schließen wir die Lippen, sein und unser Geheimnis für jetzt noch hinter den Zähnen zurückhaltend!

Besinnungslos lag Christabel in Christophs Armen und der Baron und die Baronin von Rippgen standen und wußten unbedingt nicht mehr als unsere Leser, was sie aus der Geschichte machen sollten. »Die einen waren so dumm wie die anderen,« sagte nachher Pechle; »aber ich« – – – Er hat den Satz nie zu Ende geführt, wenn er später selber die Geschichte erzählte. –



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