Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das vierzehnte Kapitel.

Die Sonne war hinter die westlichen Berge hinabgeschlüpft, auch von dem kahlen Staufengipfel hatte die Dämmerung Besitz ergriffen. Die lichten Sommertoiletten der bergab schwebenden Damen leuchteten immer mehr en miniature aus der Tiefe, dem Dorfe zu; aber sie leuchteten doch noch. Zwei Pünktchen, zwei sich stets verkleinernde Pünktchen glänzten sie am Bergeshange, und es lag nicht an ihnen, wenn die zwei Herren auf der Höhe den Gegensatz zwischen ihnen und der weiten unermeßlichen Welt nicht aufs deutlichste ins Bewußtsein aufnahmen.

Wer aber macht sich das eben angedeutete Gefühl vollständig klar? Nur derjenige, welcher von der Spitze des Montblanc aus seinen Todfeind durch das Fernrohr drunten im Tale vor dem Wirtshause sitzen sah und das innigste Bedürfnis fühlte, den Lumpen tränenden Auges an das Herz zu ziehen, bis – der beschwerliche Rückmarsch vollendet war, und in demselbigen Wirtshaus im Tal der Brief begonnen wurde, der den Advokaten daheim dringend aufforderte, den Prozeß gegen den eben abgereisten Halunken ja nicht aus dem Auge zu verlieren. –

Der Baron hatte den ängstlich baumelnden Nasenklemmer mit zitternder Hand von neuem auf den Nasenbug festgedrückt; der Exstiftler hatte beide Fäuste in die Hosentaschen geschoben, und beider Augen hafteten angestrengt an den zwei Pünktchen, die auf den Busen oder Herzen dieser deutschen Heldenmänner schwerer wogen, als alle Berge und Felsen in der Nahe und Ferne – Lias, Trias und Jura durcheinander – das ganze Sammelsurium mit sämtlichen Versteinerungen, wie es die schwäbische Alb dem entzückten geologischen Forscher darbietet.

»O du gütiger Himmel, was fangen wir an? Das ist jetzt doch die Hauptfrage!« stöhnte der Baron.

»Ha ja, was fange mer an? Eine Hauptfrage ist das freilich,« sagte Pechle. »Mer eine zweite Frage ist: Wie fühlen wir uns?«

»Wie fühlen wir uns?!« ächzte Ferdinand.

»Ich, wie ein Teekessel, der eben ins schönste romantisch-historische Singen kommen wollte, als er von den Kohlen abgehoben wurde!« rief Pechle. »Beim Griffel des Aristophanes, was hätte mir alles durch die Schnauze ausgehen können? Ich darf gar nicht daran denken, und mein einziger Trost ist, daß ich wenigstens meine Gedichte in der Rocktasche habe. Das meiste von Bedeutung steht drin, und neue Gesichtspunkte hätte mir vielleicht selbst die Unterhaltung mit diesem göttlichen Mädle nicht verliehen, – das tröstet mich wahrlich, Sechserle.«

»Aber mich nicht, Pechlin.«

»Ha ja, und das wäre denn wohl die dritte Frage, was du anfangen wirst?! Es ist freilich schon richtig, daß die Weiber und vorzüglich deine Frau uns mit äußerster, wenigstens anscheinend äußerster Gemütsruhe haben abfahren lassen, und wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich wie sie da unten meinen Triumph zu würdigen wissen. Wer das hilft dir freilich nicht! Na, weißt du, sie logieren im Lamm, und das Lamm kenne ich. Es ist recht gut in seiner Art, für dich und mich sogar ausgezeichnet; allein für zwei verzogene Engel aus den höchsten Sphä– wollte ich sagen höheren Ständen, läßt die Bequemlichkeit und Verpflegung doch manches zu wünschen übrig. Weißt du, jetzt lassen wir's fürs erste dunkel werden, so dunkel als möglich; denn blamiert sind wir, das sieht fest; gründlich, nachdrücklichst, erschütternd auf den – gesetzt sind wir – und – solange ich noch meine Schande und Schamröte erblicken kann, steige ich den wonnigen Kreaturen nicht nach –«

»Ich bliebe am liebsten ganz hier oben!« seufzte der Baron leise.

»Das ist ein Gedanke! Aber nein, bei besserer Überlegung läßt sich das doch nicht durchführen. Nach Mitternacht legt sich die Aufregung und wächst die Kälte in der Natur. Ferdinand, es bleibt uns nichts anderes übrig, als daß wir es Nacht werden lassen – ägyptische Finsternis womöglich – und uns ihnen sodann nach – schleichen, ja schleichen – hinunter in das Lamm. Nachher erwarten wir das weitere und fügen uns in die Umstände.«

»Du hast gut reden, Christoph. Du hast nicht hinter deinem angetrauten Weibe herzuschleichen, und nimmst im Notfall als einfacher Tourist Quartier im Ochsen.«

»Das ist richtig; aber ist dein Weib nicht gleichfalls dann und wann hinter dir hergeschlichen, Rippgen?«

»O gewiß! Aber das ist doch ganz etwas anderes!«

An dieser Stelle seufzte auch der Exstiftler, zuckle die Achseln und schrie fast wütend:

»Jetzt wird mer alles einerlei! Und allmählich auch du, Rippgen, nimm mir's nicht übel! Bei der dreiköpfigen Hekate, dreierlei steht uns frei. Entweder wir laufen durch die Dunkelheit nach Göppingen, oder wir suchen beide im Ochsen ein Unterkommen, oder wir zeigen uns als Männer und ziehen den beiden Weibern nach ins Lamm. Im Ochsen ist Hochzeit, Musik und Tanz, und hineingucken werde ich jedenfalls; aber im Lamm auf dem Tanzboden übernachte ich, und – du auch, Ferdinand, Baron von Rippgen! Bei allen Dogmen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wir übernachten im Lamm zu Hohenstaufen!«

»O Pechle,« sagte der Baron gebrochen, »wenn du eine Ahnung davon hättest, wie weh mir zumute ist, so würdest du nicht so grob und auffahrend gegen mich sein.«

»Nun, nun, es war eben nicht so böse g'meint.«

»Wenn ich das auch weiß, so ändert es doch nichts an meinem Befinden. Siehst du, ich habe mich deiner Führung einmal anvertraut, und wenn ich auch nicht sagen kann, daß es zu meinem Vergnügen gewesen ist, so bin ich doch augenblicklich nicht imstande, etwas anderes zu sagen, als: mach, was du willst. Ach Christoph, Christoph, ich habe mich niemals in meinem Leben so schwach und hinfällig in meinen Beinen gefühlt, als in diesem Moment. Du bist mein Freund, und ich schäme mich nicht, dir zu sagen, daß ich mich sehr unwohl fühle. Sieh zu, wie du mich den Berg hinunterbringst. Es ist deine Sache; bringe mich, wohin du willst, aber – jetzt muß ich mich setzen.«

»Ja, tue das,« sprach der Exstiftler mit dem Ton einer Mutter, die ihr Kind geprügelt hat und Gewissensbisse darob empfindet. »Ich will aufrecht bleiben, und du wirst sehen, daß wir doch noch einen recht hübschen, vergnügten Abend erleben werden. Betrachte mich als deinen Vater und laß mich für dich sorgen.«

»Pechlin, du bist doch ein guter Kerl!«

»Ei freilich! Und du bist und bleibst mein bester Freund aus dem Ausland, du mußt dich nur nicht zu sehr um das kümmern, was ich dann und wann in der Aufregung herausschreie. Siehst du, Ferdinand, unsereiner hier aus dem Ländle faßt es eben nicht, wenn diese große Stätte gar keinen erhebenden Eindruck auf einen Ausländer, den man hingeführt hat, macht. Wie ich hier stehe, reiche ich mit meinen Bei– Wurzeln bis in die tiefste Herrlichkeit und Machtentwicklung unseres Volkes hinab; aber du scheinst nicht einmal eine Ahnung davon zu haben, wer da vielleicht gestanden hat, wo du jetzt sitzest! O Ferdinand, was sollen alle diese großartigen, wundervollen Erinnerungen des deutschen Volkes von dir denken? Besinne dich doch auf deinen Wert! Bist du wirklich ein baro? ein freier deutscher Mann? Glaubst du in der Tat schon alle Pflichten gegen dich und deine Umgebung dadurch abgetragen zu haben, daß du der Mann eines deutschen Weibes geworden bist?«

»Ach Herrjeses!«

»Besinne dich, Ferdinand von Rippgen! Besinne dich noch ein einziges Mal reichsunmittelbar! Wir stehen oder sitzen hier auf dem Gipfel des Hohenstaufen und bringen in uns zwei der edelsten Stämme Germaniens zur Darstellung. Denke einmal recht nachdrücklich daran, was wohl Tacitus sagen würde, wenn er mich und dich hier in dieser Weise stehen und sitzen sähe. Ich bin fest überzeugt, der alte Bursche würde in seinem Diptychon einige ziemlich sonderliche Notizen für eine etwaige verbesserte und umgearbeitete Ausgabe seines Buches machen, und nachher möchte ich das romanische Lachen lieber doch nicht hören. O Ferdinand, ich, der biedere, tapfere Schwabe, du der wohlmeinende, mannhafte Sachse –«

»Jetzt sprichst du so; aber vor einer halben Stunde erst hast du mir vorgeworfen, wir seien aus Franken nach Meißen eingewandert und hätten dann im Kontakt mit den Slaven so peu à peu das reine Hochdeutsch erzeugt – die Büchersprache weißt'e. – Ei Herrchjeses, meine Beine!«

»Mensch, du bist wahrhaftig einer von denen, die nach Sankt Augustin unseren Herrgott bewogen haben, die Erlösung der Menschheit auf ein Bruchteil einzuschränken!« donnerte der Ureingeborene des Grund und Bodens von neuem wütend. »Da muß man ja die sämtlichen Reste seiner früheren pastoralen Milde zusammensuchen, um es notdürftig in deiner Gesellschaft und Nähe aushalten zu können. Was bringst du denn eigentlich zur Erscheinung, wenn du jetzt sogar von den berechtigten Eigentümlichkeiten deines Stammnamens verächtlich zu sprechen anfängst?«

»Nichts als mich selber!« sagte der Baron mit der Verbissenheit der höchsten Erschöpfung. »Und selbst das ist mir zu viel,« fügte er hinzu, »wie oft soll ich es dir denn sagen, daß ich es dir ganz und gar überlasse, mich mit zu repräsentieren?«

Dabei saß er und rieb unausgesetzt sich die Beine von den Knieen bis zu den Knöcheln abwärts, und Christoph Pechlin stand vor ihm, und sah ihm zu und konnte zuletzt auch weiter nichts tun, als sich seinerseits etwas zu reiben, nämlich den Hinterkopf und eine, wie wir ziemlich bestimmt wissen, nur den eingeweihtesten und gebildetsten Phrenologen bekannte Gegend hinter den Ohren. –

Und während dieses alles auf dem Gipfel des Berges verhandelt wurde, schritten die beiden so sehr tief in ihren Gefühlen gekränkten Frauenzimmer den Berg immer noch weiter hinab, ohne sich umzusehen, wenigstens fürs erste. Solange sie sich von den beiden Ungeheuern auf dem Gipfel genau beobachtet glauben konnten, gingen sie würdig, eisern, aufgerichtet: zwei hohenstaufensche Prinzessinnen auf einem Abendgange zur Abendmesse in der Dorfkirche hätten nicht stattlicher und majestätischer dahingehen können, vorzüglich auf einem so steilen und holprichten Pfade.

Als jedoch durch und in der Entfernung und der immer stärker werdenden Dämmerung ziemlich beruhigend die Gewißheit vorhanden war, daß selbst dem besten Augenglase es unmöglich sei, sich auf Spezialitäten der Haltung und Gebärde einzulassen, ließ auch die Würde und Haltung beider Damen bedeutend nach.

Die Baronin fing an zu seufzen, und, gewichtiger auf die schlanke Freundin sich stützend, immer weinerlicher über den gräßlichen Weg zu klagen. Und Miß Christabel Eddish stützte sich hinkend auf ihren Sonnenschirm und rief:

»Bless me, ich fühle mich auchfalls sehr angegriffen; aber es freut mich, daß wir sie haben lassen stehen allein. Auch sind wir nun bald im Hotel, was eine Tröstung ist.«

»Im Hotel?!« ächzte die Baronin. »O Christy, je dunkler es wird, desto unheimlicher wird mir die Vorstellung, in diesem entsetzlichen Dorfwirtshause übernachten zu müssen. Dir nicht?«

»O no!« sprach die Engländerin energisch. »Auch wartet ja Virginy mit dem Tee.«

»Besäße ich doch deine Kraft, mein mutiges Mädchen, mein starkes Herz! Was mich anbetrifft, so muß ich die letzten Reste meiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zusammennehmen, um den Gedanken an das uns Drohende ertragen zu können. Freilich ist mir die Vorstellung, den beiden Unmenschen dort oben hinter uns auf dem kahlen Plateau neuen Stoff zu neuem Hohn, neuem Hohnlachen und neuen Extravaganzen zu geben, noch unerträglicher. Virginy wird doch hoffentlich nicht vergessen haben, die Schachtel mit Insekt– mit dem Blütenstaub der persischen Kamille, mit dem nötigen Pulver einzupacken? Ach, Christabel, ich saß schon ziemlich häufig auf meinem Bette aufrecht, nach dem Morgen in Tränen mich sehnend; aber wie ich in diesem Augenblicke nach der nächsten Morgenröte verlange, das läßt sich nicht einmal durch Tränen und Händeringen deutlich machen.«

»Was die zwei Gentlemen angeht, so hast du recht, Lucy,« sprach die britische Jungfrau mit einem etwas ungeduldigen Zusammenziehen der Achseln. »That shameless fellow, dieser widerliche Mensch mit dem gelblich Bart soll auch über mir nicht triumphieren. Virginy wird wohl für alles gesorgt haben, und ist die Nacht auch ein wenig unkomfortabel, so werden wir doch späterhin Genuß und Erinnerung daraus herausziehen. O yes, das werden wir.«

Also in anmutig-bänglicher Wechselrede erreichten sie das Dorf Hohenstaufen und verfügten sich sofort, mit den duftenden Taschentüchern vor den zwei Nasen, in das gastliche Lamm, auf dem Wege dorthin von den Nachkömmlingen der Vasallen des vormaligen deutschen Kaisergeschlechtes angestarrt und begutachtet, so weit und genau es die Dunkelheit des Abends gestattete.



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