Wilhelm Raabe
Christoph Pechlin
Wilhelm Raabe

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Das sechste Kapitel.

Viele Leute werden es nicht für möglich halten; aber es war doch so! Pechle nannte den im vorigen Kapitel geschilderten ersten Zusammenstoß mit der Freifrau Lucie von Rippgen ein gelungenes Niederreißen sämtlicher zwischen zwei gleichartigen, ganz für einander geschaffenen Naturen durch den Gott Zufall aufgerichteter Schranken! – – Pechle war eigentlich zu unverschämt! – – Pechle war aber jedenfalls nicht der Mann, der etwas einmal Unternommenes, das seiner eigenen Natur zusagte, leichthin aufgab, und die Baronin merkte das bald. Sie wurde ihn nicht mehr los aus ihrem Dasein.

Christoph Pechlin aus dem Schönbuch, Pechle, der im Grunde genommen der blödeste Mensch des Erdbodens war, fühlte sich als Freund und legte den ganzen Wert seiner eigenen Natur offenkundig dar.

Acht Tage nach dem ersten Bekanntwerden mit dem unabweisbaren, liebenswürdigen Tübinger Ex-Theologen schrieb Lucie in vollständiger rat-, rand- und bandloser Auflösung an ihre Freundin Miß Christabel Eddish:

»Dearest! Dearest! Hast Du keinen Ruf vernommen? Keinen leis und fern herhallenden Angstruf in den letzten Tagen und Nächten? Gar keinen?! . . . Christabel, ich war es, die rief! – Denke Dich in das veilchenduftige Grauen hinein, mit welchem wir an den schönen Gestaden der Elbe jenes herrliche, aus Mondenschein und Deinem süßen Namen gewebte, leider unvollendete Gedicht eueres herrlichen Dichters Kolleritsch zusammen lasen – laß alles hinter Dir und komme zu mir!! . . . Komm zu mir, Christabel! Laß alles von Dir – Florenz sowohl als Rom! – denke unserer durch tausend Schwüre besiegelten Freundschaft, und komm zu mir nach Stuttgart! Als jener entsetzliche Plebejer, dessen Namen ich nie – nie niederschreiben werde, am Elbgefilde zum ersten Mal über unsere Ligusterhecke stierte – als sein Weib es wagte, ihre Visitenkarte bei uns abzugeben, warst Du an meiner Seite, und – ich lebe noch! Christabel, das leise Schluchzen, welches Du vielleicht in Deinen Nächten vernommen hast, schluchzte ich; – ich rief wieder nach Dir, Dir, o meine Taube; komm als Trösterin, Schützerin, Retterin! ein Fürchterlicheres, als alles Vorhergegangene droht Deiner armen Lucy. Sie ist verloren, wenn Du nicht zu ihr kommst, ihr zu helfen durch Rat und Tat!

Five warriors seized me yestermorn,
Me, even me, a maid forlorn –

nein, wenn auch nicht fünf Krieger, so doch ein einziger Unhold, der ein ganzes Regiment von seinesgleichen aufwiegt, hat sich Deiner unglücklichen Genossin bemächtigt. Hast du wirklich keinen Hülferuf vernommen in den letzten Nächten, Christabel??!!

Blutige Tränen fallen auf das Blatt, auf welchem ich jetzt schriftlich Dich rufe. Und indem ich Dir schreibe, versinke ich mehr und mehr in dem mich umgebenden Pfuhle der Gemeinheit. Die gräßlichen Fluten schlagen über meinem dem Elend geweihten Haupte zusammen: nimm diesen letzten Wink der armen, kleinen Hand und lebe wohl, Christabel! . . . Lebe wohl, Christabel, ich kann nicht mehr – komm mit dem nächsten, dem allernächsten Kurierzuge.

The silver lamp burns dead and dim;
But Christabel the lamp will trim –

ja, sie wird es tun; – sie wird es nicht zugeben, daß die Teufel lachen, wird es nicht zugeben, daß die Gewöhnlichkeit recht behalte! Christabel wird die silberne Lampe, die arme sterbende Lampe des Daseins ihrer unseligen Lucy vor dem Erlöschen bewahren; sie wird ihrer Lucy auf azurnen Flügeln der Liebe und Freundschaft neues Öl – mein Gott, wie erbärmlich bewährt sich den zartesten Schwingungen unserer Seele gegenüber das geschriebene Wort! – herzutragen! . . . Eile, Christabel, Dein zweites Herz ist dem Stillstehen nahe! Wie aber soll ich Dir sagen, was mir geschieht, was Deine Lucia zu erdulden hat? Die Worte mangeln der Feder, der Ausdruck der Seele, und ich bin das unglücklichste Weib auf Erden! O, weshalb bin ich hierher gekommen, hierher, wo das Fürchterliche, das so unaussprechbar Roh-Gemeine auf meine Ankunft wartend saß? Und denke Dir – Pechle heißt der Alp, der Nightmare, der bei Tage und bei Nacht auf meiner Existenz liegt, – Pechle!! – Christabel, wir haben den Byron zusammen gelesen, mit heißen, brennenden Augen haben wir in die furchtbaren Geheimnisse der Menschenseele und der Natur hineingesehen; wir haben uns für den Schrecken, die Angst, die Qual zu wappnen gesucht und – wir haben vergessen – haben im Anschauen, Fühlen und Nachfühlen edelsten Geisterbangens total vergessen, wie alltäglich-abgeschmackt-gewöhnlich der Vampir sein kann, der uns mit seinen Fledermausflügeln umfächelt und uns das Herzblut aussaugt. So sind wir vordem jenem Schneidermeister unterlegen, so übermannt mich heute Pechle!!

O, Christabel, komm und siehe selbst, wie es geschieht, daß Deine stolze, tapfere Lucy Dir einen solchen Brief schreiben muß. Das Entsetzliche, der Entsetzliche wohnt mit mir in ein und demselben Hause – wohnt über mir – und in dem Augenblick, in welchem ich diese zitternden Zeilen auf dieses tränenbefeuchtete Blatt werfe, höre ich seinen Schritt, sein Lachen – o sein gemeines, gemeines Lachen über meinem Haupte, und die Angst, der Zorn, der ohnmächtige Zorn schüttelt mich: Christabel, jetzt singt er, er singt, wenn man das Singen nennen kann – noch einen Augenblick, und ein widerwärtig summender Ton wird meine Nerven zerreißen, – der Pöbelhafte spielt auch die Maultrommel, spielt sie bei offenem Fenster aus dem Fenster heraus über meinem Haupte, und dann im nächsten Moment wird er die Glocke ziehen, nach meinem Mann fragen und – sich nach meinem Befinden erkundigen!!! Was habe ich verbrochen, um dieses, um solches, o und um eine unendliche Reihe ähnlicher Vernichtungen dulden zu müssen? Ich rufe Dich, Christabel! Komm! Wenn Du aber nicht kommen kannst, so

let my memory still be thy pride
and forget not, I smiled as I died!

Bis in das Grab, das mir das Schicksal, Pechle und mein Mann graben

Deine Lucy.

P. S. Stuttgart soll eine große Ähnlichkeit mit Florenz haben.

Deine Lucy.«

Der Brief ging ab mit einem dreifach unterstrichenen Eilig darauf. Da aber die Postbehörde seinen Inhalt nicht kannte, beförderte sie ihn leider nur auf dem gewöhnlichen Wege mit dem von Stuttgart abgehenden Haufen anderer schriftlicher Mitteilungen der Menschen in ihrem Verkehr auf Erden nach München.



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