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Was geht uns der deutsche Ritter an? Nicht einmal der englische zieht uns in diesem Augenblicke auf seinem Reisewege gen Florenz nach sich. Auch als ritterlicher Historiograph haben wir immer noch unsere ganze Teilnahme und Aufmerksamkeit dem britischen Fräulein zuzuwenden und begleiten sie demgemäß in ihren Gasthof. Wir sehen sie vor der Tür desselben aussteigen, wir folgen ihr die Treppe hinauf und sehen mit Bedauern, wie sie sich bei jedem Schritt aufwärts schwer und hinfällig auf das Geländer zu stützen hat. Wir begleiten sie in ihr Zimmer und sind Zeuge eines wahrhaft überwältigenden Ergusses übler Laune, der sich auf die unglückselige Virginy stürzt, sie von den Füßen hebt und im sofortigen krampfhaft eiligen Kofferpacken umherwirbelt.
Sie packten beide – Herrin und Dienerin. Die letztere in willenloser Überraschung und stupider Hingebung in die Beschlüsse des Fatums; die erstere mit dem tödlich beängstigenden Gefühl, auch hier in München während der ganzen Dauer ihres Aufenthalts den Kapitän Sir Hugh zum Wandnachbar gehabt zu haben. Sie rissen Schubladen auf und schoben Schubladen zu. Sie standen in einem Wellenschlagen vielfarbiger Gewänder aller Art; sie quetschten unaussprechliche Leibwäsche in Hutschachteln und Pariser Hüte in die Reisekoffer. Sie hatten zuletzt beide die Köpfe verloren, und Miß Virginy bekam den ihrigen dadurch, daß ihr ein Dutzend Spitzentaschentücher ins Gesicht geworfen wurde, durchaus nicht wieder. Sie ließen manches zurück, von dem sie sich nachher sonderbarerweise ganz und gar nicht erklären konnten, wo es geblieben war, und es zeugt von einem außergewöhnlich guten Herzen unsrerseits, daß wir jetzt ohne weitere ausmalende Schilderung die Leserin ihres herzklopfenden zitternden Mitgefühls entledigen und das Paar nach ausgeglichener Rechnung auf den Bahnhof befördern. Miß Christabel Eddish fuhr ab von München, ohne an diesem Tage zu Mittag zu speisen, – sie leistete dem Hülfeschrei der sächsischen Freundin in Stuttgart aus mehr als eigenem Antriebe Folge. Sie verzichtete für diesmal vollständig auf Florenz, und sie würde auch ohne das Postskriptum im Briefe ihrer Freundin darauf verzichtet haben. O hätte doch der Poet auf dem Karlsplatze den Zusammenhang zwischen ihrer Stimmung und dem Wurf auf seinen Magen gekannt! Ach, es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt, und was die Verteilung der literarischen Güter anbetrifft, so wird dieselbe wirklich lächerlich willkürlich gehandhabt; denn wie geriete sonst der Faden dieses Zusammenhanges zwischen unsere blöden und ungeschickt tastenden Finger?! Wir schämen uns aber auch selber unseres unverdienten Glückes, und nur die Hoffnung, daß man es in der gewohnten Weise – wie der Alte von der Ilm sagt, sekretiere, hält uns aufrecht auf unserer Fahrt mit Miß Christabel nach der Residenz des Schwabenlandes und weiter durch diese Geschichte.
Das schrille Pfeifen der Lokomotive war nichts gegen die kreischenden Töne, welche die Seele Christabels durchschnitten. Das Gefühl, den Kapitän Sir Hugh Wand an Wand neben sich zu haben, ließ sie auch jetzt nicht los, er mußte im nächsten Kupee sitzen; er mußte in Augsburg in das Fenster gucken, er mußte in Ulm ihr den Pfad zur Bahnhofsrestauration verlegen, und daß er beides nicht tat, war zwar anerkennenswert, aber brachte der aufgeregten Phantasie keine Linderung. Das waren acht qualvolle Stunden, und als bei anbrechender Nacht die britische Jungfrau wohlbehalten in Stuttgart anlangte, befand sie sich vollkommen in der weltbekannten Stimmung Robinson Crusoes, nachdem er die Spuren der menschenfresserischen Karaiben im Sande am Meeresufer entdeckt hatte und, außer sich darüber, einen Tag lang auf seiner Insel im Kreise herumgelaufen war. Erschöpft, betäubt, regungslos lag er dann unter einem Busche, und erschöpft, betäubt und regungslos lag Miß Christabel Eddish in der Stuttgarter Droschke, durch welche sie samt Gepäck und Kammerjungfer der Wohnung der Freundin zugeführt wurde. Wenn es möglich wäre, daß jemand regungs- und bewegungslos aus einem Wagen stiege, so würde sie das vor der Tür des Herrn von Rippgen gleichfalls fertig gebracht haben.
Sie stieg aus. Sie stieg die Treppe hinauf, gefolgt von Virginy und dem das Gepäck nachschleppenden Kutscher. Aus starren Augen sah sie eine Minute lang den Namen des Barons auf dem Metalltäfelchen an der Glastür im Schein der Gasflamme an. Dann zog sie eigenhändig die Glocke. Sie zog sie nicht hastig, nicht ruckartig, sondern sie zog sie wie eine Totenglocke, eine Begräbnisglocke und fuhr trotz ihrer Betäubung zusammen, als das helle Gebimmel ihrer Stimmung durchaus nicht entsprach. Wie die Marquise von Brinvilliers einem langweilig gewordenen Freunde den Giftbecher zu reichen pflegte, so reichte mit öder Gleichgültigkeit Miß Christabel dem Fuhrmann Fahrgeld und Trinkgeld, und dann kam Katharina und öffnete die Glastür.
»O yes!« sagte Miß Christabel Eddish und schritt, ohne weitere Aufklärung über ihre Persönlichkeit, ihre Wünsche und Absichten zu geben, an der erstaunten schwäbischen Jungfrau vorüber. »Ja was denn? mei Frau ischt sehr übel auf!« rief Katharina, von ihrem Erstaunen sich erholend, und mit einem Versuch, den späten Besuch und Einfall zurückzuhalten, sich an Miß Virginy wendend.
»O yes!« sagte Miß Virginy gleichfalls an der schwäbischen Maid vorüberschreitend und ihrer Herrin auf dem Fuße folgend. Katharina, jeden Versuch des Widerstandes nunmehr aufgebend und den Leuchter hoch über das Haupt erhebend, sah beiden nach und gab nur noch eine Warnung mit auf den Weg:
»Sie! da rechts geht es aber auf –« vollendete jedoch ihren Satz nicht. Miß Christabel, durch eingeborensten britischen Instinkt geleitet, wandte sich schon von selber nach links und fand, ohne danach gefragt zu haben, sofort die richtige Tür. In derselben trat ihr Charlotte mit einem anderen Leuchter in der Hand entgegen und vor Überraschung mehrere Schritte zurück.
»Ich bin es!« sprach Christabel. »Wo ist die Lady? Wie geht es ihr?«
Da setzte Charlotte das Licht auf den Tisch inmitten des Salons und deutete tragisch-wortlos auf die Tür wiederum zur Linken, also nicht auf die Tür, welche in das Gemach des Barons führte. Rasch schritt die Engländerin über den blumenbunten Teppich dem deutenden Finger nach, und hinter ihrem Rücken glitt die deutsche Kammerjungfer an die Seite der britischen, schmiegte sich mit einer unbeschreiblich ausdrucksvollen internationalen Ellenbogenbewegung an sie, zog die Augenbrauen herauf, die Nasenflügel herab und den Mund in eine wie zu einem Pfiff gespitzte Spitze, und sagte wieder nichts. Die britannische Maid verstand jedoch den Blick wie das kurze schnelle Kopfnicken ganz ausgezeichnet, schüttelte in ebenfalls stummer Antwort den Kopf und entblößte ein ungemein glänzendes Gebiß! Miß Virginy wagte es, hinter ihrer Herrin drein zu grinsen. Einen echt deutschen Frauenschrei jedoch stieß die Baronin Lucia von Rippgen aus, als ihre seelenvolle Freundin auf der Schwelle ihres Gemaches erschien und einen Augenblick wie zweifelnd stand und umhersah und umherroch.
Miß Christabel Eddish fragte nicht: »O lord, wie riecht es denn hier?« denn sie kannte den Duft und wußte ihn zu deuten. Tränen, Zorn, Verzweiflung, flüchtige Salze und wohlriechende Kraftwasser, wenn sie sich bei niedergelassenen Vorhängen und verhüllter Lampe miteinander vermischen und den Aufenthaltsort des Weibes erfüllen, werden von jedem eintretenden Weibe sofort chemisch richtig analysiert, und eine Freundin – eine Feindin natürlich auch – weiß auf der Stelle in solchem Falle, welch ein Bestandteil im Moment in der Atmosphäre vorwiegt.
Augenblicklich hatten ohnmächtige Wut, vinaigre de Bully und lait antiphlogose die Oberhand. Außerdem war es aber auch aus einfach meteorologischen Grundursachen schwül im Zimmer; denn eine schwüle, schwüle Vorsommernacht lag über der schwäbischen Metropole und hielt ihre Lebensgeister zusammen oder vielmehr nieder.
»Christabel!« rief Lucia halb sich aus den Kissen ihres Diwans emporrichtend und die ausgebreiteten Arme der Freundin entgegenstreckend. Und schon beugte die Britin sich über die unglückliche Frau und drückte ihr, während sie zu gleicher Zeit die Handschuhe abzog, einen Kuß auf die glühende Stirn und sagte:
»Siehst du, ich bin sogleich gekommen.«
»Ich wußte es,« schluchzte Lucy an ihrem Halse hängend. »Du mußtest kommen! Ich habe dich deine Sachen packen sehen, ich habe dich zum Bahnhof begleitet! Mein armes Herz saß dir gegenüber im Kupee, und sieh, da liegt das Eisenbahnkursbuch – meine einzige Lektüre seit Tagen, und ich bin ruhiger und ruhiger geworden in der Überzeugung, meinen Brief hat sie bekommen – und jetzt hält der Zug in Gabelbachgereuth, und jetzt in Günzburg und nun in Leipheim, und da ist sie in Ulm, und in vier Stunden wirst du sie in den Armen halten und sie nicht wieder loslassen, bis du dich an ihrem Herzen ausgeweint, bis du dir in allem – allem Luft gemacht hast!«
»Yes!« sagte Miß Christabel Eddish, in die erste Windpause des Sturmes der Gefühle der Freundin mit der Frage sich einschiebend: »Und wo ist dein Mann, dein Gemahl, der Baron?«
»Denke dir, er ist davongegangen!« schrillte Lucie, krampfiger sich an der Schulter der hohen englischen Jungfrau festkrallend.
»Was?! Davongegangen? C'est à dire – run away? Durch – ge – gan – gen?!«
»Ja, ja und dreimal ja! Ich bin allein im Hause! Er hat es gewagt, der Elende! Er ist davongegangen mit dem gräßlichen Barbaren, dem Menschen, der sich, wie ich dir schrieb, in mein Leben, meine Ruhe, mein Glück eingedrängt hat, der mit uns in diesem Hause wohnt, der sich wie ein Felsblock auf mich gewälzt hat, der allnächtlich über meinem Haupte die Maultrommel spielt, und gegen den ich machtlos, kraftlos und ohnmächtig bin! Pechle hat meinen Mann verführt! Stelle dir vor – stelle es dir recht lebhaft vor: Ferdinand macht mit ihm – diesem Pechle, gegen meinen Willen – Christabel, gegen meinen ausgesprochenen Willen, eine Tour in der Umgegend!«
»Das ist ihre Art so!« sprach Miß Christabel Eddish mit einer dumpfen Energie, die nur aus a posteriori, aus eigener Erfahrung gewonnener Überzeugung hervorbrechen konnte. Zu gleicher Zeit machte sie sanft die Hand der Freundin von ihrer schmerzenden Achsel los, schüttelte finster das Haupt und seufzte: »Manchmal – sogar sehr oft gehen sie auch weiter und begnügen sich nicht mit einer Tour in der Umgegend. O Lucy, dearest, erinnere dich an unsere besten Stunden, gib deiner Schwachheit nichts nach. Setze dich hin, und nach dem Tee wirst du mir alles ausführlich erzählen, und wir wollen ruhig überlegen, was wir zu tun haben werden, um dir zu helfen und uns zu rächen.«
»Ja, uns zu rächen!« murmelte die Baronin und wurde im fernern Verlauf des Abends in der Tat sehr ruhig und überlegte mit der Freundin sehr kühl, was zu tun und was zu lassen sei, um das Gewicht in den zwei Schalen wieder gleich zu verteilen und die so ruchlos gestörte Harmonie im Weltall wieder herzustellen. Bis tief in die Nacht hinein wogen beide Rosen, Lilien und Vergißmeinnicht ab und zu: versetzen wir uns einmal ihnen gegenüber recht lebhaft in die Stelle dessen, der die Wage hielt!