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Am frühen Morgen wurde Falk geweckt.
Ein Herr wartete im Salon in einer sehr wichtigen Angelegenheit.
– Aha! sagte Falk und kleidete sich schnell an.
Als er in den Salon trat, sah er einen Menschen, der sich steif und ungemein zeremoniell verbeugte.
– Von Kunicki? Nicht wahr? Nun?
Er horchte ungeduldig und zerstreut auf die wohlgesetzte Rede des Anderen.
– Schwere Forderung? Ja, natürlich. Geben Sie nur Ihre Adresse her, ich werde Ihnen meinen Sekundanten zuschicken. Nur um Gotteswillen keine Steifheiten, keine Zeremonien. Sonst sind mir die Bedingungen ganz gleichgültig. Natürlich schießen bis zur Bewußtlosigkeit. Nur keine Zeremonien ...
Der Fremde sah Falk befremdend an, verbeugte sich und ging.
– Das ist ja prachtvoll, prachtvoll. Falk rieb sich vergnügt die Hände.
Dann fing er an, im Salon langsam auf- und abzugehen.
Plötzlich befiel ihn eine heiße Sehnsucht nach Isa. Ihr Alles sagen, sie auf seine Hände nehmen, sie an sich pressen, daß sie eins würden in dem rasenden Elan der Liebe.
Aber im nächsten Moment fesselte ihn ein Bild, das über dem Piano hing.
Der Himmel: eine Reihe von breiten, grellen Streifen, die nebeneinander unausgeglichen lagen. Breite, brutale Streifen; das Ganze wie ein wüster Verzweiflungsschrei ... Und ein Strand mit einer langen Strandbrücke. Zwei Menschen auf der Brücke: sie im weißen Kleide. Man sah eigentlich nur dies weiße Kleid, und dieser weiße Fleck mitten in der Verzweiflungsorgie des Himmels, sah aus wie etwas grausig Geheimnisvolles, etwas, das die Nerven vor Neugierde und irrem Grausen krank machte. Er sog sich mit seiner ganzen Seele in dies weiße Kleid hinein: Das ist sie, das Verhängnis, der weiße Blitz, die tanzende Welt im Chaos.
Er sah weg und betrachtete mit gespanntester Aufmerksamkeit eine verwelkte Orchidee.
Er mußte sich also nun einen Sekundanten suchen – natürlich Geißler. Er hatte ja keinen Anderen. Nicht einen einzigen Menschen hatte er mehr.
Er suchte lange nach seinem Hut, ging an Isas Schlafzimmer, horchte, ging wieder leise herum ...
Nun mußte er aber gehen, sonst würde er Geißler nicht mehr zu Hause antreffen.
Kaum war er weggegangen, als Isa in sein Zimmer trat. Sie hatte Fieber in der Nacht und Alpdruck. Sie wollte mit ihm sprechen, sich beruhigen ...
Sie war sehr erstaunt, als sie ihn nicht mehr vorfand. Sie blieb traurig stehen, setzte sich dann nieder und sah sich im Zimmer um.
Das Zimmer erschien ihr plötzlich so fremd und so unbehaglich. Sie glaubte deutlich die kranke, fiebrige Atmosphäre dieses Zimmers zu fühlen ... Alles lag wirr durch einander, auf dem Schreibtisch sah sie ein großes, bunt bekritzeltes Blatt Papier.
Sie hielt das Blatt in den Händen und sah wie versunken vor sich hin.
Das Blatt war von unten bis oben nur mit einem Worte in den verschiedensten Schriftarten beschrieben: Ananke.
Eine unbestimmte Qual schnürte ihr das Herz zusammen. Es wurde ihr so schwül. Sie fühlte eine tiefe Traurigkeit. Es war ihr, als wäre ihr ganzes Glück plötzlich vorüber.
Sie verstand eigentlich nicht, woher alle diese Depression? Sie fing an, sich selbst mit allen möglichen Gedanken zu zerstreuen, aber sie konnte die irritierende Unruhe nicht los werden.
Sie raffte sich auf, ging in ihr Schlafzimmer und kleidete sich langsam an.
Plötzlich kam das Dienstmädchen herein.
– Ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Sie überreichte Isa eine Karte: Stefan Kruk.
Isa las und las die Karte. Aber das ist ja unmöglich. War nicht Kruk aus Deutschland geflohen? Er ist ja doch zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt ... Eine wachsende Unruhe fing an in ihrem Kopfe zu jagen. Ein Wirrwarr von Gedanken fuhr ihr durchs Gehirn. Das Gefühl von etwas Ungewöhnlichem füllte sie mit jähem Schreck. Sie überhastete sich und war kaum im Stande, ihre Toilette zu beendigen.
Als sie in den Salon trat, sah sie Kruk ganz ungewöhnlich blaß mit wilden, roten Augen.
Isa blieb erschrocken stehen.
– Was ist? Was ist? fragte sie stammelnd.
– Wo ist Ihr Mann?
Sie hörte seine heisere Stimme heftig beben.
– Er ist weggegangen. Aber, wie kommen Sie denn hierher, wie konnten Sie sich nur dieser Gefahr aussetzen?
Kruk sah sie an, als wüßte er nicht, wo er sei, als hätte er sich selbst vergessen.
Isa wich erschreckt zurück.
– Ihr Mann ist ein Schurke, schrie er rasend auf. Er hat meine Schwester geschändet ...
Isa hörte noch ein paar Worte: Maitresse, Bastard, Verführer, dann verstand sie nichts mehr.
Kruk kam zur Besinnung. Er sah, wie alles Blut von ihrem Gesichte gewichen war, wie ihre Lippen blau wurden ... Sie wankte, er fing sie auf.
Sie kam schnell zu sich.
– Mein Mann hat ein Kind jetzt, jetzt ... vor ein paar Wochen mit Ihrer Schwester? Ihrer ... Schwester?! Kind?
Sie sah ihn abwesend an und stammelte unablässig das Wort Kind ... dann sprang sie auf ihn zu.
– Das ist unmöglich! Unmöglich ...
Sie faßte sich an den Kopf und ging ein paar Schritte.
– Ein Kind! ...
Sie fuhr plötzlich auf.
– Ich muß es sehen, ich muß es sehen ... Es ist unmöglich. Nein, nein ...
Sie lief herum.
– Warum sagen Sie kein Wort? Sagen Sie doch, daß es unmöglich ist ... O Gott, o Gott ... So suchen Sie doch meinen Hut, schnell, meinen Hut ... Wie ist das nur möglich ... Ha, ha, ha, er fragte mich, was ich dazu sagen würde ... Grand Dieu, c'est impossible ... Wie blaß Sie sind, wie finster ... Kommen Sie nur schnell, schnell ...
Sie wußte nicht mehr, was sie tat, und was sie sagte.
Erst unten in der Droschke kam sie zur Besinnung. Sie sprachen kein Wort mit einander.
Sie hatte das Gefühl eines schwarzen, kühlen Schattens über ihrem Gehirn, sie lachte krampfhaft auf, sank zusammen und wieder überkam sie plötzlich eine Lust zu lachen.
Sie sah Kruk beinahe schelmisch an.
– Ich habe Sie gleich erkannt – ich sah Sie zweimal in Paris ... O, wie Sie sich verändert haben, und wie grenzenlos blaß Sie sind ... Mais c'est terrible, c'est terrible!
Sie sah mit irren Blicken zum Fenster hinaus.
Plötzlich hörte sie das Rollen einer anderen Droschke hinter ihrem Rücken, das Geräusch betäubte sie, sie sah nichts mehr und hörte nichts, wiederholte nur ganz mechanisch: c'est terrible!
Endlich blieb die Droschke stehen, und unmittelbar dahinter hielt eine andere Droschke an. Kruk kam plötzlich in eine unsagbare Unruhe ...
In dem Augenblick, als Isa aus der Droschke ausgestiegen war, sah sie zwei Männer sich auf Kruk losstürzen.
– Im Namen des Gesetzes ...
Kruk zog blitzschnell den Revolver, aber in einem Nu wurde er von hinterrücks auf die Erde geworfen ...
Es entstand ein Auflauf. Isa trat hastig in den Hausflur.
Sie stützte sich gegen die Wand, um nicht zu fallen. Ein Schwindelgefühl raste in ihr. Sie suchte krampfhaft dagegen anzukämpfen. Dann sah sie starr das glänzende Treppengeländer hinauf, hörte ein Geschrei auf der Straße und sah ein paar Kinder vorüberlaufen.
Sie sah sich verwirrt um.
Was wollte sie denn hier? ... Eriks Maitresse besuchen? Ha, ha ... Großer Gott! Eriks Maitresse ...
Sie raffte sich zusammen und trat auf den Hof.
Sie blieb wie gebannt stehen.
In einem Fenster des Hofparterre sah sie ein blasses, verzweifeltes Gesicht. Das Mädchen trug ein Kind auf dem Arm.
Die beiden Frauen starrten sich an.
C'est elle! sagte sich Isa halblaut. Sie sah, wie die Andere im höchsten Schreck zurückwich.
Isa ging hinein. Sie klopfte.
Die Tür wurde furchtsam und nur halb geöffnet.
– Aber lassen Sie mich doch hinein ... sie stieß Janina fast gewaltsam zurück ... Ich will Ihnen doch nichts tun, nur das Kind ...
Sie trat in Janinas Zimmer.
– Aber zittern Sie doch nicht so, ich will ja wirklich Ihnen nichts tun ... Sie lachte nervös ... Mais, c'est drôle ... dieses kleine Mädchen: Eriks Maitresse, ha, ha, ha ... Setzen Sie sich doch, Sie sind blaß, Sie werden fallen ... Gott, wie mager, wie elend Sie sind. Er hat ja Ihr ganzes Blut aufgesogen ... Und das Kleine da ist Ihr Kind, Falks Kind ...
Sie lachte hysterisch und sah dann Janina mit wildem Haß an, aber nur einen Moment ...
– Sie wußten natürlich nicht, daß er verheiratet war ... Wie er lügt, ha, ha, ha, wie er lügt ...
Mit einem Male verließen sie die Kräfte. Janina warf sich auf das Bett und schluchzte.
Isa wurde sehr ernst; sie stand auf.
– Hab ich Sie beleidigt? fragte sie kalt.
Aber sie erwartete keine Antwort, sie ging an das Bettende, wo der Kleine lag, sah ihn aufmerksam an und blieb dann mitten im Zimmer stehen.
– Aber weinen Sie doch nicht. Ich wollte Sie doch nicht beleidigen ... Wie das Kind schön ist! Und Sie haben ja keine Schuld ... Sie sind ja nur ein kleines, schwaches Mädchen.
Und wieder fing sie an zu lachen.
Sonderbar, daß Sie ein Kind haben ... Wie alt sind Sie denn eigentlich? Achtzehn? Neunzehn? Nun, leben Sie wohl und weinen Sie nicht. Er wird schon zurückkommen, er wird kommen, versetzte sie rasend ... Ich werd ihn zu Ihnen zurückjagen, gleich – gleich ...
– Quälen Sie mich nicht! schrie plötzlich Janina auf.
– Quälen? Quälen? Ha, ha, ha ... Ich werde ihn gleich herschicken ... tout de suite, tout de suite ...
Auf der Straße blieb sie lange stehen.
Ein paar Straßenjungen gingen an ihr vorbei, lachten sie frech an und warfen ihr unzüchtige Worte zu.
Sie sah sich scheu um, und fing an zu gehen, schnell, sinnlos schnell ...
– Nur nicht zurück, nur nicht zurück, nur nicht zu dem Lügner zurück, murmelte sie leise vor sich hin.
– Aber mein Gott! was für ekelhafte Menschen hier wohnen! Warum belästigen Sie mich, warum stoßen Sie mich denn? Was hab ich Ihnen getan?
Sie knirschte in ohnmächtiger Raserei mit den Zähnen.
Plötzlich empfand sie einen heftigen Schmerz. Ein Kerl hatte sie angerannt und sie brutal zur Seite gestoßen, daß sie beinahe umgefallen wäre.
Der Schmerz brachte sie zum Bewußtsein.
Sie fing an langsam zu gehen, hielt sich dicht an die Mauer, sie wurde ängstlich wie ein kleines Kind, ein Weinkrampf arbeitete sich mit aller Kraft in ihr herauf, sie würgte ihn mühsam nieder, konnte aber nicht verhindern, daß die Tränen unaufhaltsam über ihre Backen rannen.
Dann kam sie auf einen leeren Platz, setzte sich auf eine Bank und beruhigte sich. Und nun erst flog ihr Alles, mit visionärer Deutlichkeit durchs Gehirn und ein wilder Schmerz fing an in ihr zu rasen. Sie wurde von Sinnen.
Und im Augenblick raffte sie sich auf. Geißler wird Geld geben. Nur weg, weit, weit weg von ihm, Geißler wird Geld geben, Geißler, Geißler wiederholte sie unablässig.
Sie stieg in eine Droschke und gab Geißlers Adresse an.
Der Schmerz raste immer toller ... Als hätte sich eine Hölle in ihr entfesselt... Ha, ha, ha ... Mais non, pas du tout; je suis au contraire tres enchantée ... très enchantée ... Diese großen Buchstaben: Isak Isaksohn ... Nein, wie komisch! Isak Isaksohn ... Ha, ha, ha ... Falk ist ein genialer Mensch. Er muß die Rasse verbessern, es ist seine Pflicht, seine Pflicht... Hier kann ich Stoffe kaufen – Friedrichstraße 183, und ja, wie hieß er doch? Isak Isaksohn und Friedrichstraße 183 ...
Da fühlte sie plötzlich einen unsäglichen Ekel. Der Mensch hat sie genommen, mit denselben Händen hat er sie umarmt wie das Mädchen da – mit demselben Mund hat er sie geküßt ...
Sie schüttelte sich. Eine krankhafte Raserei überkam sie, es wurde ihr unausstehlich eng, sie hätte ihre Kleider auseinanderreißen mögen. Der Ekel würgte an ihr immer heftiger.
Warum hat er das Weib nicht in mein Bett geschleppt?! Ha, ha, ha ... Er hätte es doch vor meinen Augen tun sollen ...
Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie krümmte sich und kroch in sich zusammen und reckte sich wieder hoch, sie fühlte einen unausstehlichen Schmerz in der Brust, im Kopfe, überall, überall ...
Oh que j'ai mal, que j'ai mal ... Mon Dieu, que jai mal!
Als sie in Geißlers Zimmer eintrat, wurde sie von einer plötzlichen Lustigkeit befallen.
– Wie gut Du mich ansiehst! Du bist ja wie ein kleiner, verschämter Knabe ... Ha, ha, ha ... Und Du hast einen so schönen, weichen Rock an ... Nun sieh mich doch nicht an, als wär ich vom Himmel gefallen ... Ich bin doch Erik Falks gesetzlich, gesetzlich verstehst Du? auf der Mairie des fünfzehnten Arrondissements in Paris gesetzlich angetraute Gemahlin ...
Sie lachte herzlich.
Geißler sah sie erstaunt an. Da sie aber so herzlich lachte, so lachte er mit.
– Denk nur, Walther, wir haben uns ja gar nicht begrüßt ...
Sie behielt seine Hand in der ihren.
– Wie Deine Hand groß ist und gut! Und so warm, so warm.
– Du hast nicht Erik unten getroffen? fragte Geißler ein wenig unruhig.
– Erik Falk? Meinen Mann? Sie würgte sich vor Lachen. Nein, nein! Mein Mann, ha, ha, mon mari! quelle drôle idée plus philosophique qu'originale, n'est-ce pas?
Sie sah sich um und setzte sich hin.
Geißler sah sie ratlos an.
– Warum siehst Du mich so traurig an? Ah, – ah ... sie stand wieder auf ... Er war hier, er hat Dir Alles erzählt ...
Geißler drehte sich um und machte sich mit den Papieren zu schaffen.
– Hat er Dir von seinem kleinen Sohn erzählt, und von seiner kleinen Maitresse? Ha, ha, ha ... wollte er bei Dir sein Herz erleichtern?
– Nun, weißt Du, Isa, das brauchst Du Dir doch nicht so zu Herzen zu nehmen. Du bist doch ein Weib, und ein Mann ist doch ganz anders organisiert ...
Sie hatte sich inzwischen wieder hingesetzt, aber plötzlich verspürte sie eine große Müdigkeit, sie war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen.
– Gib Wasser!
Sie trank gierig ein großes Glas aus.
– Ha, ha ... Ich habe meinen Mann nicht gesehen, nein, nein, je ne l'ai pas vu depuis cinq jours ... Sonderbare Vorliebe für meine Muttersprache. Ich habe sie beinahe vergessen ... Ich war in einem scheußlichen, deutschen Pensionat... Um fünf Uhr mußten wir aufstehen ... O! brr! Aber wie Du stark bist und Deine Hand so groß und so gut.
Sie sah ihn plötzlich starr an.
– Du brauchst gar nicht so betrübt auszusehen. Ich will kein Mitleid. Ich will Geld haben. Gib mir Geld, sagte sie hart.
Er sah sie erschrocken an.
– Wozu brauchst Du es?
– Du bist ein netter Gentleman! Ha, ha, ha. Eine Dame fragst Du, wozu sie Geld braucht! Gib mir nur Geld, ich habe eine sehr schlimme Affäre ...
– Isa, sei doch einen Augenblick ernst. Du willst doch keine Dummheiten machen?
– Was denkst Du?
– Also hör mal, Isa. Du weißt ja sehr gut, was Du für mich bist ... bei Euch gehen jetzt sehr schlimme Dinge vor ... Und da weißt Du, an wen Du Dich wenden sollst ... Ich meine, nun – Du wirst mich nicht mißverstehen ... Du kennst mich ... Aber ... pas de sentiments, n'est-ce pas? Wie viel brauchst Du?
– Drei-, vierhundert ...
– Ich werde Dir fünfhundert geben.
Sie verstand ihn nicht, starrte ihn nur mit wachsendem Entzücken an. Ihre Sinne fingen sich an zu verwirren.
– Wie prachtvoll Du bist! ... Und gib mir Deine große, warme Hand ... Ja, so, halt mich fest, halt mich fest ... O que j'ai mal, que j'ai mal ...
Sie fiel in einen hysterischen Weinkrampf.