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Falk trat in sein Arbeitszimmer, setzte sich vor den Schreibtisch hin, stützte seinen Kopf in beide Hände und stöhnte laut auf.
Seine ganze Ruhe, die er so mühsam Isa gegenüber bewahrt hatte, war verschwunden und wieder fühlte er das Pochen und Bohren seiner Qual. Die Unruhe ringelte sich wie ein spitzer scharfer Trichter in sein Rückenmark hinein, ein Gefühl, als müsse er nun auseinanderfallen, wuchs schäumend in ihm empor; er sprang auf, setzte sich wieder hin, er wußte sich keinen Rat.
Es war ihm, als müßte nun Alles um ihn her einstürzen, zusammenbrechen, einsinken; er fühlte eine Orgie von Zerstörungs- und Untergangsekstase um sich her.
Und die schwüle Hitze der Sommernacht erdrückte ihn, breitete sich stickig in seiner Lunge, er wurde so empfindlich, daß er kaum atmen konnte.
Er riß das Fenster auf und fuhr fast entsetzt zurück.
Der Himmel! Der Himmel! So hatte er ihn nie gesehen. Es war, als hätte er plötzlich die astronomische Distanz wahrgenommen. Er sah die Sterne, als wären sie in eine millionenmal weitere Entfernung gerückt, größer, feuriger, wie riesige, gangränöse Brandflecken. Und der Himmel kam ihm so entsetzlich lebendig vor ... Schweiß trat ihm auf die Stirn, und die Augen fühlte er schmerzhaft hervorquellen.
Da faßte er sich wieder.
Und in einem Momente stürzte auf ihn sein ganzes Leben mit einer visionären Deutlichkeit. Eine Periode wickelte sich nach der andern mit rasender Schnelligkeit ab. All das Furchtbare, Entsetzliche seines Lebens: ein Untergang nach dem andern, eine Zerstörung nach der andern ... So hatte er sein Leben nur einmal gesehen, ja, damals, als er das arme Kind, diese Taubenseele von Marit zerstört hatte ... huh, Marit, das war das Scheußlichste. Diese zwecklose Zerstörung, dieser Mord ...
Er kam plötzlich zum Bewußtsein und lachte boshaft.
Zum Teufel! Bin ich denn senil geworden? Was geht mich ein Mord an, den die Natur begeht? Ha, ha, ha ... Daß sie die Liebenswürdigkeit hatte, sich zufällig meiner Wenigkeit als eines Mordinstrumentes zu bemächtigen, dafür sollte ich nun leiden!? Nein! nein! das geht nicht.
Er kam in Hitze.
Verehrtes und von mir speziell hochgeschätztes Publikum – beiläufig gesagt, hätt ich keine üble Lust, Euch Allen auf die Köpfe zu spucken, aber das darf ich nur in Parenthese – Gott wie geschmackvoll! Also unglaublich hochgeehrtes Publikum: ich lehre Euch einen neuen Kniff, einen ungemein nützlichen Kniff ... Es ist eine Entschleierung, ein Desavouement, ein neues Testament, ein neues Erlöserheil ... Am Anfang war die pfiffige, boshafte, teuflische Natur ... Man hat Euch gesagt, sie sei gewaltig, unbekümmert, kalt und stolz, sie sei weder gut noch schlecht, sie sei weder Dreck noch Gold ... Lüge, verehrtes Publikum, infame, lächerliche Lüge! Die Natur ist boshaft, raffiniert boshaft, verlogen, hinterlistig ... das ist die Natur! He, he, he ... Natürlich sperrt das verehrte Publikum seine Kauwerkzeuge auf, als ob ein vierspänniger Heuwagen einfahren sollte ... Ein geriebener Schlaumeier ist die Natur, ein boshafter, schurkischer Teufel ... Was bin ich? Weißt dus? Weiß er es? Natürlich! Die Individualisten, die klugen Leute, die sich da in die Brust werfen und schreien: Ich bin Ich! O, die wissen es ... die Individualisten!
Falk lachte höhnisch auf.
Ich bin nichts, ich weiß auch nichts! O! es ist furchtbar! Furchtbar ist es! Nicht wahr, Isa? Du bist die Einzige, die das Furchtbare zu würdigen versteht ... Ich sehe, daß sich meine Bewegungen zu Handlungen kombinieren, ich höre mich reden, ich fühle gewisse Vorgänge in den Geschlechtsorganen, und eine Tat ist vollbracht! Was ist geschehen? Ein Unglück ist geschehen! Hi, hi, hi, hört Ihr den Teufel grinsen? Wer hat es gemacht? Ich?! Ich?! Wer bin ich? Was bin ich?
Er kam in ein Verzweiflungsfieber.
Ich habe es nicht gemacht! Mein Gott, wie kann ich etwas hindern, das schon lange in mir vorbereitet war und nur auf eine Gelegenheit wartete, um hervorzubrechen und unter seiner Lava Alles zu begraben! Wußt ich etwas davon? Kann ich hindern, daß sich ein Blick in meine Seele senkt und dort Kräfte wachruft, Kräfte, von deren Existenz ich keine Ahnung hatte? Und dafür, daß etwas Unbekanntes in mir ein Unglück angestiftet hat, soll ich büßen, dafür soll ich von meinem Gewissen gefoltert werden?
Liebe Natur, versuch deine boshaften, tückischen Kunstgriffe an anderen Menschen; ich kenne zu gut deine Kniffe und Schliche – nein! mich zu quälen, gelingt dir nie – nie!
Er schenkte sich ein großes Glas Kognak ein und leerte es auf einen Zug.
Wie wundervoll Der die Sache ausgeklügelt hatte! Er wird zu meiner Isa gehen und ihr einfach sagen: Gnädige Frau, Ihr Mann ist ein Schurke, er hat mit einem fremden Weibe den Anstoß zu einer neuen genealogischen Linie, zu einer unechten Falklinie gegeben. Sie, gnädige Frau, werden sich natürlich von ihm scheiden lassen, damit Ihr Gemahl das Mädchen heiraten kann, wodurch beide Linien eine genealogische Einheit erlangen. Ha, ha, ha ...
Aber, lieber Czerski, es fällt mir gar nicht ein, zwei echte Linien zu haben.
Nun, dann werd ichs trotzdem Ihrer Gemahlin sagen, denn ich will Sie von der Lüge befreien, ich bin ein Tolstoj, ein Björnstjerne-Björnson, ich kämpfe für die Wahrheit ...
Aber, lieber Czerski, verstehen Sie nicht, daß die beiden Herren senile Philosophen sind, verstehen Sie nicht, daß die Wahrheit zu einer blödsinnigen Lüge wird, sobald sie Menschen zerstört? Verstehen Sie nicht, daß es mir ein unendliches Glück wäre, zu Isa zu gehen und ihr Alles zu sagen, verstehen Sie nicht, daß mir diese Lüge eine unendliche Qual bereitet, aber die Wahrheit mir noch eine tausendmal größere bereiten, und außerdem noch Isa zerstören würde? Verstehen Sie nicht, daß Wahrheit in diesem Falle eine Idiotie, ein Blödsinn, eine ekelhafte Grausamkeit wäre?
Das verstehen diese bornierten Gehirne natürlich nicht. Und das Unheil wird kommen. Isa? Ja, Isa wird gehen. Das ist sicher. Sie wird einfach verschwinden ... nein, sie wird mir noch die Hand zum Abschied reichen, nein – vielleicht nicht, weil ich sie durch die Andere beschmutzt habe. Ja, ganz so wird sie sagen ... Aber was dann, was dann?
Er zerbrach sich den Kopf als müßte er notgedrungen den Stein der Weisen finden.
Seine Knie waren schwach geworden, er fiel erschöpft auf das Sofa hin.
Es war zweifellos. Das Andere in ihm hatte ihn zu Grunde gerichtet. Er fühlte sich endlos erschlafft, schwach und machtlos:
Die Macht der Umstände haben den wissenden Herrn Falk vernichtet, eben weil er wissend war. Aber wenn Herr Falk zu Grunde geht, so ist es doch ganz anders, wie wenn z. B. sich die kleine Marit ins Wasser wirft, weil sie sich nicht dazu hergeben wollte, Mutter einer Falkschen Seitenlinie zu werden. Es ist roh gedacht, sehr roh, aber diese Roheit tut weh, und das ist ein Genuß ... Aber ja, geht Falk zu Grunde, so kann er es kontrollieren, den Zusammenbruch von Etappe zu Etappe verfolgen, notieren, registrieren ...
He, he, he ... die Natur hatte er nun gründlich entschleiert. Das Gewissen hatte er auch gänzlich überwunden ...
Wollen Sie wissen, weswegen, Sie Wahrheitsfanatiker? Sperren Sie nur Ihre Ohren gut auf, damit Sie den unsagbaren Umfang Ihrer Dummheit einigermaßen übersehen ... Hören Sie nur auf meine Gründe, auf die Gründe des Wissenden, der die Natur entschleiert hat.
Die Natur zerstört. Gut, sehr gut! Um zu zerstören, bedient sie sich verschiedener Mittel und zwar erstens der sogenannten Naturgewalten. In diese Kategorie entfallen ihre Gemütsblödigkeiten in Form von Blitzen, Stürmen, Wasser- und Windhosen u. s. w., u. s. w.
Zweitens hat sie sich als ein ganz hervorragend wirksames Mordmittel die Bazillen auserkoren, eine prachtvolle und unglaublich schurkische Erfindung ...
Drittens, nein! kein Drittens! Ich bin kein Klassifikator, ich bin Philosoph, folglich überspringe ich eine niedliche Anzahl von den niedlichsten Mord- und Marterwerkzeugen, wogegen die krampfhafteste Erfindungssucht der Inquisition zahm und vor Gott wohlgefällig erscheinen muß, und gehe sogleich zum Menschen über ...
Der Mensch! Erlauben Sie nur, daß ich tief Atem schöpfe, meine trockene Kehle mit Kognak erfrische und ein wenig Nikotin meinem Magen zuführe.
Also der Mensch! Homo sapiens in der Linnéschen Systematik: ein selbsttätiger Apparat, versehen mit einer Registrierungs- und Kontrolluhr in Form des Gehirnes!
Wunderbar!
Jetzt, bitte, hören Sie nur gut zu. Ich setze mein Evangelium fort, mein großes Erlösungswerk.
Die Natur hat sich ihrer ewigen, zwecklosen Morde geschämt. Die Natur ist verlogen und feig, sie wollte die Schuld für ihre zwecklosen Morde von sich abwälzen und hat dem Menschen ein Gehirn gegeben.
Wissen Sie, was ein Gehirn ist?
Ein sehr schlechter, ausrangierter, unbrauchbarer Apparat. Denken Sie sich einen schlecht funktionierenden Blutwellenschreiber. Er wird das Steigen und Fallen des Pulses natürlich aufschreiben, aber falsch, ganz falsch. Man wird nur daraus ersehen, daß ein Senken und Fallen vorhanden ist, aber nichts weiter. Sehen Sie, auf diese Weise erfährt auch das Gehirn, daß etwas in der Seele vorgeht, aber was? darüber erfährt es nichts. Kurz gesagt, wenn auch der Vergleich hinkt, und durchaus keinen Anspruch auf Exaktheit erhebt, das Gehirn wird betrogen und belogen und erfährt erst später, nachdem es Geschehenes summiert hat, daß es betrogen wurde.
Aber damit ist die raffinierte Grausamkeit noch nicht zu Ende.
Mit dem schlecht funktionierenden Gehirne ist noch ein niedliches Zeug von Gewissen verbunden, Jahrtausende lang daraufhin dressiert, Qual zu verursachen für die Sünden, die die Natur begeht.
He, he, ein ganz unglaubliches Raffinement ...
Aber auch damit ist die Sache nicht zu Ende.
Durch einen eigentümlichen Kniff hat es die Natur dem Tölpel von Menschen eingebleut, daß es ein gewaltiger Vorzug sei, Gehirn und Gewissen zu haben.
Denn was unterscheidet den Menschen vom Tiere?
Der Mensch weiß, was er tut ...
Falk horchte. Wird ihn nicht bald ein Lachkrampf überwältigen?
Der Mensch hat das Gehirn bekommen, auf daß er den Gott scilicet die Natur erkenne, ihm für seine Wohltaten danke ...
Nein! Ich muß aufhören. Sonst lauf ich wirklich Gefahr, Lachkrämpfe zu kriegen.
Potz Tausend! Ist das ein raffinierter Schelmenstreich. Sich für das Gehirn bedanken zu lassen, und noch obendrein für das Gewissen, diesen schönen Misthaufen, auf dem die Natur ihre Schurkereien abladet.
Nein, nein! Ich bedanke mich für das Gehirn, das Gewissen und dergleichen Wissensapparate. O, ich will lieber zum Bazillen hinabsteigen. Er zerstört ohne Qual und ohne Gewissensbisse.
Der kluge Herr Professor, der dem Menschen den Übermenschen beibringen wollte! Nun! der müßte ja schon am zweiten Tage an seinem Überfluß von Gehirn und Gewissen zu Grunde gehen!
Falk sah sich tatsächlich auf einer Bühne, das fand er durchaus nicht sonderbar, im Gegenteil: sehr angenehm. Er liebte es, bemerkt zu werden. Er hatte dann die Pose eines bedeutenden Menschen, nein, keine Pose: nur ein ganz natürliches Auftreten von einem bedeutenden Menschen, ganz so wie das Publikum einen bedeutenden Menschen zu sehen wünscht.
Übrigens, verehrtes Publikum, begeh ich den Blödsinn, die Natur zu personifizieren, und das ist der erste Schritt zur Bildung eines Gottes. – Er kicherte. Des Gottes, ha, ha, ha, den das liberale, freisinnige Bürgertum abgeschafft hatte. Das freisinnige Publikum – o Gott, ich ersticke, – der deutsche Freisinn mit zwanzig Plätzen im Reichstag.
Nein! Wie er sich köstlich amüsieren konnte!
Er schrak plötzlich zusammen. Sonst pflegte er sich durch dergleichen Selbstgespräche zu beruhigen, zu vergessen, aber diesmal gelang es ihm nicht. Im Gegenteil: die Unruhe packte ihn von Neuem, überraschend, hinterrücks, mit neuer Heftigkeit.
Aber zum Teufel, was denn? Was wird, was kann denn geschehen?
Er mußte es absolut verhindern. Er durfte nicht zu Grunde gehen. Noch nicht. Nein, er mußte Czerski zurückhalten, ihm die ganze Sache ausführlich klar machen, mit Gründen belegen, mit unbesiegbaren Argumenten auseinandersetzen, daß er sich völlig im Irrtum befinde, wenn er ihn verantwortlich machen wolle. Das sei lächerlich. Wolle er die Lüge strafen, so müsse er auf irgend eine Weise der Natur beizukommen suchen und sie schädigen ... Ja, er müsse den dummen Czerski überzeugen, daß er allerdings als ein wissendes Werkzeug gehandelt habe, aber durchaus ohne jede Verantwortlichkeit sei, etwa wie ein Bazill oder so etwas Ähnliches.
Ja, klar machen, überzeugen ... etwa in folgender Weise:
Falk hustete auf. Er sah sich deutlich Czerski gegenüber. Sonderbar dies Halluzinatorische seiner Gedanken. Das ist natürlich der Anfang vom Ende. Diagnostisch sehr wertvoll diese ausgeprägten Halluzinationen, die durchaus nicht beunruhigen. Sehen Sie, lieber Czerski, ich bin jetzt tausendmal ruhiger wie vor ein paar Stunden ... Ja, natürlich.
Wieder trank er ein volles Glas.
Sind Sie ungeduldig, Czerski? Nun, wir können anfangen. Ich beeile mich nicht, weil ich gewisse intime Dinge berühren muß, an die zu denken, durchaus kein Vergnügen ist.
Sie runzeln Ihre Stirn. Aber mein Gott, haben Sie denn gar kein Interesse an psychologischen Analysen? Bedaure, bedaure ... ich bin ein ganz engragierter Seelenforscher ... He, he, he ... Ich glaube, ich habe alle meine Gemeinheiten, wie Sie meine Handlungen zu benennen belieben, aus einer gewissen psychologischen Neugierde begangen, einer Neugierde, die zum Beispiel den illustren Geist des liberalen Bürgertums, Herrn Hippolyt Taine auszeichnete. Sie wissen ja, der Herr der eine Destille für Tugenden errichten wollte. Prachtvolle Idee, Tugenden in denselben Massen zu produzieren wie Vitriol. He, he, he ... So sind die liberalen Geister! ... O, o, was sie nicht Alles wissen und können! Aber, bitte, setzen Sie sich, sonst werden sich Ihre Knie lösen, wie Homer sagt. Eine Zigarette gefällig? Vielleicht ein Glas Kognak? Sie trinken nicht? Ja, natürlich, Sie sind ein Menschenfreund, und als solcher wandeln Sie auf den höchsten Menschheitshöhen, verschmähen also die leiblichen Genüsse. Ha, ha, ha ... Nun entschuldigen Sie, nehmen Sie es nur nicht übel. Ich kann nur nicht verstehen, wie ein Mensch, der Gehirn hat, ohne Alkohol auskommen kann ... Sie verletzen eine natürliche Kompensationspflicht.
Wieso? Wieso? Aber das ist ja ganz klar. Der Urmensch, der gehirnlose Mensch, also ein Homo, der noch nicht sapiens ist, und in Folge dessen seine Gefühle zu regulieren nicht im Stande ist, unterliegt spontan gewissen Gefühlsausbrüchen, die man Begeisterung, Ekstase, Suggestibilität u. s. w. nennt. Es ist ein Prozeß, der gewisse Ähnlichkeit mit sogenannten pathologischen Vorgängen hat, also einer Manie zum Beispiel. Etwas ergreift mit furchtbarer Gewalt das Gehirn, macht blind für alle Gründe, unfähig einer jeden Berechnung, man wird wie ein Stier, dem eine Scheuklappe vorgebunden wurde. Aber diese ekstatische Blindheit gibt eine unerhörte Kraft, die eigentlich unsere Zivilisation geschaffen hat. Sehen Sie, diese fanatische, gradlinige Blindheit hat die Massen nach Jerusalem getrieben, sie hat die Religionskriege entfacht, sie hat Bastillen gestürmt, Konstitutionen errungen, sie hat Barrikaden errichtet und Straflosigkeit den bübischen Preßpiraten zugesichert ... Das ist die Begeisterung der Wut, die einem Samson die Kraft gab, mit einem Eselskinnbacken ein ganzes Heer von Philistern in die Flucht zu schlagen und andererseits den Herrn Ravachol auf die Idee brachte, fromme Bürgerseelen in den Abrahamsschoß zu befördern: die Bürger lieben ja den allmächtigen Herrn, sie sollten sich bei Ravachol bedanken, daß sie so urplötzlich das Gottesantlitz in Freude schauen dürfen ... Oh, oh – Sie lachen, Herr Czerski, man hat Sie nicht umsonst anarchistischer Liebhabereien verdächtigt.
Diese Begeisterung also ist ein äußerst wichtiger Faktor in dem Haushalte der Natur, aber wir sind ihrer nicht mehr fähig. Der nüchterne Verstand des freisinnigen Bürgertums hat sie getötet. Aber wir, ja wir haben die Verpflichtung, Hüter dieser heiligen Begeisterung zu werden. Aber wie sie erzeugen, wenn sie nicht da ist? Natürlich durch Alkohol. Sehen Sie, Suwarow, der hat es verstanden. Seine Heerscharen bekamen vor jeder Schlacht soviel zu saufen, wie viel sie nur wollten, deswegen haben sie die Wunder von Tapferkeit verrichtet ... das preußische Kriegsministerium sollte mal diesen Umstand in Erwägung ziehen.
Ich schwatze, sagen Sie? Das ist sehr dumm gesagt. Sie sind wohl auch ein so liberales Gehirn, dem die kleinen Dinge lächerlich erscheinen? Aber wir kamen ja von unserm Hauptthema ab. Also Herr Taine, nicht wahr? Er hat ganz dieselbe psychologische Neugierde wie ich ... Wissen Sie, wie er die Sache anstellt? Er ist in einer Gesellschaft. Er sieht einen Menschen, der einen Charakterkopf hat, Charakterkopf lese ich nämlich zweimal täglich im Berliner Tageblatt. Das Organ des liberalen Bürgertums sagt es von jedem Minister, vorausgesetzt, daß er einem Schaf ähnlich ist. Sonst heißt es nur, scharfgeschnittenes Profil, wie aus Marmor gehauen, zuweilen auch antik u. dgl. Herr Taine sieht das Schafsgesicht. Er wird augenblicklich zerstreut. Er wandelt herum wie ein Lunatiker, bis er plötzlich dem betreffenden Charakterkopf auf die Füße tritt. Aber man weiß, daß es Herr Taine ist, und man ist darüber sehr erfreut. Herr Taine notiert in sein Notizbuch. Erste Eigenschaft: große Sanftmut. Eigentliches Milieu: Ende des achtzehnten Jahrhunderts.
Das langweilt Sie, Herr Czerski? Nun ich wollte Ihnen nur nachweisen, daß meine psychologische Methode sich wesentlich von der Taineschen unterscheidet.
Ich bin also ein verheirateter Mensch. Glücklich? Nein! Unglücklich? Nein! Was denn?
Aber wollen Sie denn wirklich nicht ein Glas Kognak trinken? Es ist gut, wenn man nervös ist. Das dämpft die depressiven Zustände, erhöht die Lebensenergie, macht den ganzen Organismus leistungsfähiger.
Sie wollen nicht? Nun, dann Ihr Wohl.
Falk trank.
Hm, hm ... Wie soll ich nur anfangen?
Er ging auf und ab.
Haben Sie schon jemals über dies furchtbare Rätsel, über den Menschen nachgedacht? Nein, natürlich nicht. Sie sind ein Anarchist, also streng genommen ein Erbe des freisinnigen Gehirns, das den Materialismus und die eudaimonistische Ethik hervorgebracht hat, ja Sie sind der Erbe einer Weltauffassung, die ... Aber kennen Sie diese eine herrliche Stelle aus den Geständnissen des heiligen Augustinus?
Hören Sie nur: »Da gehen die Menschen hin und bewundern hohe Berge und weite Meeresfluten und mächtig brausende Ströme und den Ozean und den Lauf der Gestirne, vergessen sich aber selbst daneben.«
Ja, sehen Sie: das bourgeoise Gehirn hat den Menschen vergessen. Er muß jetzt von Neuem entdeckt werden! Aber um ihn zu entdecken, muß man die lächerliche Überschätzung des idiotischen Makrokosmos, die staunenswerten Errungenschaften der Naturwissenschaften erst verlernen, man muß den kindlichen Sinn wiedergewinnen, der das Furchtbare und Geheimnisvolle, die Untiefe und den Abgrund zu sehen vermag, nicht nur zu sehen, aber anzustaunen, Angst und Schreck und Verzweiflung vor alledem zu empfinden ...
Ha, ha, ich Idiot ... Ja, Sie haben Recht, daß Sie dies überlegene Lächeln aufsetzen. Ja, natürlich. Ihr, Ihr –ja, was seid Ihr eigentlich? Anhänger der materialistischen Weltauffassung, Ihr habt ja natürlich alle Rätsel gelöst ... Nun, nichts für ungut, ich verstehe sehr gut, daß Ihre weltumfassenden Menschheitsideale Ihnen nicht Zeit lassen, sich in eine solche Bagatelle, wie der Mensch, »liebevoll zu versenken« – der Ausdruck stammt vom Berliner Tageblatt, »Ihre durchgreifende Tatkraft« – der Ausdruck ist von derselben Quelle – erlaubt Ihnen nicht, Ihre Zeit nutzlos zu vergeuden. Ha, ha, ha ...
Wollen Sie wirklich nicht trinken? Schade, sehr schade, ich kann eigentlich die Menschen nicht leiden, die nicht trinken.
Aber neugierig scheinen Sie zu sein. Sie möchten wohl gerne etwas Persönliches über den geheimnisvollen Herrn Falk erfahren, der Ihnen Geld zu sozialer Agitation, Broschüren und Proklamationen zur Aufreizung einer Klasse gegen die andere geschickt hat. Ha, ha, ha ... Aufreizung! nicht wahr, so heißt es offiziell ... Aber ich will gar nicht von mir sprechen, ich will nur über objektive Fragen reden ... Ha, ha, ha ...
Sehen Sie: das ist z. B. sehr interessant, wie sich ein Mensch unter dem Einflüsse einer Bagatelle verändern kann. Bagatelle, sag ich Ihnen. Lächerliche Kleinigkeit. Ich war gestern bei Iltis, ich studiere ihn nämlich. Er hat sich verheiratet. Seine Frau ist die wunderbarste Frau unter der Sonne. Ganz außerordentliche Frau. Nun, sehen Sie: sie hat wohl unmöglich früher riechen können, daß sie, in zwei Jahren meinetwegen, seine Frau werden sollte. Nicht wahr? So etwas kann man auf die Distanz von großen Zeitabschnitten nicht riechen. Ja, also damals, als sie Iltis noch nicht riechen konnte, hat sie sich verliebt. Ja, natürlich. Warum sollte sie sich nicht verlieben? Sie hat sich auch dem Manne hingegeben, den sie liebte. Das ist ja natürlich. Sie nehmen es ihr nicht übel, daß sie nicht erst die staatliche Konzession dazu erwartet hatte. Aber ich will nicht logisch urteilen, denn sonst würde ich es nur schön finden. Da nun aber das Weib immer in Bezug auf den letzten Mann existiert, und der letzte Mann solche früheren Eingriffe in seine Prioritätsrechte nicht schön zu finden pflegt, so – ja, meinetwegen sag ich, daß es von Iltis Frau nicht schön war, so voreilig zu handeln.
Also: Iltis – nein, ich weiß nicht genau, ob es Iltis ist, nein, mein Kopf ist ein wenig verwirrt, es ist wohl Jemand anderes. Nennen wir ihn Certain. Das klingt sogar sehr schön. Ich bin ganz entzückt über diesen prachtvollen Einfall. Denken Sie nur: Certain! Dieser Certain also verliebt sich in das Weib, das die für züchtige Jungfrauen verbotenen Paradiesäpfel bereits gegessen hat, und heiratet sie. Natürlich hat sie ihm Alles gestanden. Aber er! Herrgott, über solche Lappalien wird er als ein moderner Mensch und das frühere Haupt der wüstesten Bohème sich doch nicht aufregen. Interessant, nicht wahr? Aber nachträglich besinnt er sich. In seiner Seele öffnet sich eine kleine winzige Lücke, die ein seltsames Gefühl von Unbehagen ausströmt. Certain setzt sich hin, oder nein! er legt sich auf sein Ruhesofa, verschränkt die Arme unter seinem Kopfe und grübelt. Es war schon Einer da, der das Weib besaß. Das ist doch sonderbar! Dieselben Schmeichelnamen, die sie ihm sagt, hat sie schon einem Andern ins Ohr geflüstert, sie lag auch schon einem Andern um den Hals, ein Anderer hatte bereits diesen Körper an sich gedrückt ... Aber zum Donnerwetter, was ist das? Certain springt ganz erschreckt auf. Es kommt ihm vor, als ob die kleine Lücke eigentlich eine kleine Wunde wäre, die sich entzündete und nun eine unerhörte Qual verursachte. Aber lächerlich! Certain ist ganz wütend, daß er sich über solche natürliche, ja, durch den geheimen Naturzweck geheiligte Selbstverständlichkeit aufregen kann ... Ja, er legt sich die Sache sonnenklar auseinander und vergißt sie. Er ist sogar sehr froh, daß er diese posthumen Forderungen seines sexuellen Organismus so energisch zurückgewiesen hat. Er reckt sich, trällert ein Schäferliedchen, ach, wie idyllisch – aber mit den bösen Mächten – na, Sie kennen doch Ihren Schiller. Certain wird von Neuem unruhig. Eine gewisse quälende Neugierde überkommt ihn. Er geht zu seiner Frau, ist unglaublich liebenswürdig, er küßt ihr die Hände, schäkert mit ihr, redet über dies und jenes, dann fragt er plötzlich, so en passant, mit der unschuldigsten, gleichgültigsten Miene in der Welt: Du, wie war eigentlich Dein erster Mann, blond oder schwarz? Das Wort »Mann« spricht er ohne zu wissen mit einer sonderbaren Betonung. Es ist Haß, Wut, Neugierde, Alles, was Sie nur haben wollen.
Ja, er war schwarz, hatte aber merkwürdigerweise blaue Augen.
Certain zuckt unwillkürlich, er ist so gereizt, daß er nicht weiter darüber sprechen kann. – Er ist ganz außer sich, er kann ja gar nicht verstehen, was vor sich geht ...
Ha, ha, ha, armer Certain; ich will zugeben, daß er unglaublich lächerlich ist, aber so ist nun einmal der dumme Kerl beschaffen. Er will auch nicht weiter darüber nachdenken. Nein, er mag nicht. Er hat die ganze Sache ein paar Tage vergessen. Aber da plötzlich kommt es wieder, nur heftiger, schmerzhafter. Es ist fast wie Lust, sich selbst zu quälen, sich die Wunde ganz brutal aufreißen zu lassen ... Ich will die Frage offen lassen, in welchen physischen und psychischen Ursachen diese selbstquälerische Neugierde begründet sein mag, aber sie ist eben da. Er muß seine Frau ausforschen, natürlich mit dem nötigen psychologischen Taktgefühl, nur um sich nicht anmerken zu lassen, als wäre ihm etwas daran gelegen.
Er fragt also, so beiläufig, nur des psychologischen Interesses wegen, nach den näheren Umständen. Er bekommt sie zu wissen, natürlich, warum denn nicht? Er hat ja so schön und so begeistert zu ihr über freie Liebesverhältnisse gesprochen. – He, he – Sie sind auch Beide sogenannte moderne Menschen, die über dergleichen lächerliche Vorurteile längst hinausgekommen sind.
Ob sie ihn geliebt hatte? Sie denkt ein wenig nach. O ja, sie hat ihn geliebt, sehr geliebt. Certain zittert und sucht sich zu beherrschen. Die näheren Umstände? Mein Gott, die sind ja immer dieselben! und sie lacht. Er lacht natürlich auch. Aber sie solle ihm ja nur recht umständlich erzählen, es sei so ungemein interessant, und sie komme ihm dadurch so nah, wenn er ihr Leben in dem geringsten geheimen Winkel genau kennen lerne. Sie sträubt sich, aber gibt schließlich nach ... Der Schwarze hat sie gebeten, ihm ihre Liebe zu beweisen ... merken Sie nur auf, Herr Czerski, wie ich nun Alles umschreiben werde ... sie selbst habe es auch verstanden, daß dies – verstehen Sie dies geheimnisvolle »dies«? – der einzige Beweis der Liebe sei.
Aus der Gurgel des armen Certain kommt plötzlich ein sonderbarer Pfiff, den er durch nachträgliches Husten eifrig ungeschehen macht.
Er hat sie also gebeten um dies »dies« – sie sollte sich ja nur recht gut bedenken – denken Sie nur, was für ein Ausbund von weisem Edelmut dieser schwarze Herr sein mußte!
– Du hast natürlich während der ganzen Zeit, in der Du über dies entscheidungsvolle »dies« nachdenken solltest, nicht ein einziges Mal daran gedacht? Certain ist nämlich ein Psychologe.
– Nein, ich fühlte nur, daß es so kommen mußte, ich konnte, ich brauchte nicht darüber zu denken: es war notwendig.
– Für Dich oder für ihn? Certain rast nämlich vor boshafter Wut. Er hat eine fabelhafte Lust, aufzubrüllen, daß seine Lungen bersten müßten. Warum, weiß er nicht.
Sie hat nicht ganz gut verstanden, was er mit seiner zynischen Frage meinte und sieht ihn mit großen Augen an. Sie wissen: mit Augen, die eigentlich nur ein brennendes, mißtrauisches, ein klein wenig verächtliches Fragezeichen sind.
Certain kommt sofort zu sich. Beinahe hätte er ihr Mißtrauen geweckt. Er wird nun sehr vorsichtig.
Nun fragt er mit einer gewissen nonchalanten Bonhomie weiter und erfährt nach und nach so ziemlich alles Wissenswerte. Die dynamische Mechanik der Liebe ist ja fast immer dieselbe, es sind gewisse unverbrüchliche Momente ... He, he, he ...
Aber nun fließt es in dem dummen Certain über. Er kann nicht weiter hören. Er hat eine maniakalische, unbezwingbare Lust, das Weib zur Erde zu werfen und sie mit seinen Fäusten tot zu prügeln.
Tut er es?
Ach wo, wo denken Sie hin, Herr Czerski. Dazu ist der Certain viel zu wissend. Ha, ha ...
Ja so, ich habe Sie falsch verstanden. Sie als Menschheitsfreund fragen natürlich, warum er das tun wollte.
Warum? Das weiß er nicht.
Das wäre Alles unglaublich lächerlich, wenn es nicht so fatal wäre. Die kleine winzige Lücke erweitert sich mit rapider Schnelligkeit. Es ist wie ein Gewächs mit langen Fortsätzen, die in jede Pore seiner Seele hineinkriechen, sich in jede Öffnung mit wachsender Wut hineinzwängen und das furchtbare Gift in den ganzen Organismus verschleppen ... Ha, ha, ha ...
Warum ich so häßlich lache? Zum Donnerwetter, Mensch! ist das nicht zum Lachen?!
Aber so geht es weiter. Die Phantasie ist einmal in Bewegung gesetzt. Sie wird plötzlich so üppig wie ein Urwald, scharf und giftig wie ein Indianerpfeil, erfinderisch wie Edison, grübelnd und ausdauernd im Denken, wie Sokrates, der bekanntlich die ganze Nacht vor seinem Zelte stand, ohne zu merken, daß ein fußtiefer Schnee gefallen war. Glauben Sie nicht, daß der alte Herr ein wenig posierte? ... Nun, die Phantasietätigkeit des Certain ist ja auch sehr interessant.
Er sucht sich die Beiden vorzustellen. Sie saßen im Zimmer. Er hat es vorsichtig zugeriegelt. Sie hat langsam die Haare aufgemacht, dann ihre Taille aufgeknöpft, er stand inzwischen da, heiß, zitternd und fraß an ihr mit gierigen Blicken ...
Niedliche Bilder, was?
Oder, passons d' une autre côté ... Er sieht sein Kind an. Es fährt ihm plötzlich durch den Kopf, durch welches Wunder es verhütet wurde, daß sie nicht früher mit dem Andern ein Kind bekommen hat. Diese Frage, und die Möglichkeit, daß sie es eigentlich hätte bekommen sollen, macht ihn ganz toll.
Oder: er liest eine gleichgültige Geschichte von zwei Liebenden ... He, he, ... Warum war er nicht der Erste? Und diese Frage macht ihn ganz rasend vor Verzweiflung.
Oder: er bekommt eine ihrer Jugendphotographien zu sehen. War es vorher, oder nachher? Ja, natürlich vorher. Er sieht die Photographie an, er macht eine schmerzhafte Wissenschaft daraus, er liebt sie da, liebt sie mit einer schmerzhaften Qual, er verehrt sie in einer Agonie von Wut und Verzweiflung. Warum? Warum? Warum hat sie sich nicht so, so rein, so unwissend für ihn erhalten?
Aus Allem, was ich hier Ihnen anführte, werden Sie wohl den genügenden Eindruck bekommen haben von dem seelischen Zustande unseres Certain.
Er verliert das Gleichgewicht. Er versucht noch, das wuchernde Unkraut herauszureißen, die Wurzeln des giftigen Übels abzuschneiden, aber es ist zu spät. Er wird die Visionen nicht mehr los. In seiner Seele kocht die Wut, der Haß benimmt ihm den Verstand, er kann sie nicht anrühren, ohne an den Andern zu denken, er kann sie nicht ansehen, ohne an ihn erinnert zu werden. Seine Seele bekommt Runzeln und graue Haare. Und doch schleppt er sich hinter seiner Frau her wie ein kranker Hund. Er kann sie nicht entbehren, er liebt sie tausendmal mehr als früher in dieser Raserei, dieser kochenden Wut und diesem Haß. Können Sie das verstehen?
Falk schrie.
Können Sie das verstehen? Das ist Wahnsinn! Das ist kein Schmerz, das ist ... das ist ...
Er bekam plötzlich Angst vor sich selbst und ein wilder Wutanfall packte ihn gegen den Menschen, der ihn zwang, dies Alles wieder durchzuleben, die alten Rinden aufzureißen.
Er ging suchend im Zimmer herum mit geballten Fäusten, er war ganz von Sinnen.
Warum ich schreie? Weil ich Herzkrampf habe, Kolik habe ich, Stiche rings herum in der ganzen Brust ... Oh hätt ich Dich hier, Du verfluchter Satan mit Deiner Wahrheitsforderung, Deinen Heiratsanträgen ... Ha, ha, ha ... ich Janina heiraten!
Die Kräfte verließen ihn. Er setzte sich ans Fenster. Er trocknete sich den Schweiß von der Stirne, und wurde mit einem Mal ruhig. Er verfiel in ein schweres Brüten. Nun wird er wohl verstehen, wie man dazu kommt, ein Mädchen zu verführen. Selbstverständlich wird er verstehen. Er saß und saß, wiederholte unablässig in seinen Gedanken, daß der Czerski es nun endlich verstehen müsse, und wachte wieder auf.
Er war wohl eingeschlafen.
Und wieder sah er auf den Himmel, auf die dunkle, kranke Schwermut des Himmels und dann fühlte er, wie die Räume sich zu weiten und mit dem Ungestüm eines wilden Gerölls zu fliehen begannen.
Er horchte gespannt auf.
Es war ihm, als ringelten sich die Abgründe der Ewigkeiten in noch tiefere Tiefen, als formte sich die Ruhe zu einem unendlichen Trichter, der Alles verschlang und Zeit und Ton und das Schwermutslicht der Sterne – es war ihm, als wäre er eingehüllt in dunkle, dumpfe Fernen: Alles war verschwunden, nur Eins blieb: der weite, kranke Himmel über ihm.
Und diesen Himmel hatte er mit seinen Augen gezeugt, mit seinen Armen hatte er seine Wölbung über das Erdenall geworfen ...
Er sprang auf.
Es kam ihm vor, als hätte sich die Tür geöffnet und Jemand wäre hineingekommen.
Nein! Es kam ihm nur so vor.
Und wieder ging er auf und ab.
Furchtbar, furchtbar, daß Einem so etwas die Seele zerstören kann. Warum? Er wurde rasend. Bin ich dazu da, um alle Rätsel zu lösen? Hab ich nicht genug in meiner Seele gewühlt? Hab ich nicht mit der größten Peinlichkeit jeden Winkel meiner Seele durchstöbert? Aber kann ich das begreifen, was unter meinem Bewußtsein liegt, was sich jenseits von dem lächerlichen Gehirnleben abspielt? Kann ich das? He? Verstehen Sie nicht, Sie dummer Mensch, daß man unter gewissen Umständen dazu kommen kann, seine Frau zu betrügen? Verstehen Sie nicht, daß es Momente gibt, in denen man ein Weib so intensiv, so unerhört hassen kann, daß man es durch den Umgang mit einem andern Weibe beschmutzen muß aus Wut, aus Schmerz, aus Raserei, aus einem kranken Rachebedürfnis? Falk schüttelte sich vor Lachen. Aus Rache, weil das arme Weib fünf Jahre früher, ja, bevor sie mich traf, mich nicht gerochen hat!
Falk lief umher. Die Unruhe wuchs, daß er glaubte, sein Kopf müßte bersten.
Und jetzt, gerade jetzt, wo die Qual sich legte, wo die Wunde zu vernarben begann, jetzt wird man Isa von ihm losreißen.
Sie wird natürlich gehen.
Er suchte sich das vorzustellen.
Nein, unmöglich! Er war an sie gefesselt. Sie war für ihn Alles. Er konnte ohne sie nicht leben. Er war mit ihr verwachsen, er wurzelte in ihr ...
Eins wurde ihm klar: Er mußte Czerski los werden. Aber wie, wie?
Ein Gefühl von verzweifelter Ohnmacht befiel ihn. Er wurde schlaff und resigniert. Was konnte er machen? Jetzt mußte Alles über ihn hereinbrechen.
Da plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Olga mußte die ganze Sache ordnen. Das war der einzige Ausweg.
Er wurde froh.
Daß er daran nicht früher gedacht hatte!
Mit fieberhafter Eile schrieb er einen langen Brief, steckte Papiergeld hinein, siegelte das Kuvert zu, lehnte sich in den Stuhl zurück und starrte gedankenlos vor sich hin.
Plötzlich fuhr er auf.
Jetzt haßte er sie wieder.
Ja, sie war daran schuld, daß er so zerrissen, so elend wurde, daß er jeden Glauben verloren hatte, daß er kein Ziel und keinen Zweck im Leben sah.
Sie, sie war daran schuld, daß er in seinem Gehirne nur die eine große, kranke Idee hatte, die eine Wut, den einen rasenden Haß, daß er nicht der Erste war ...
Isa, Isa, wenn das nicht geschehen wäre! ... He, he, he ... Ja, natürlich, Herr Czerski ... Natürlich? Hab ich gesagt: natürlich!? Nichts ist natürlich, Alles ist ein Rätsel, Alles ist ein Abgrund und Alles eine Qual und ein Blödsinn ...
Es war doch am Ende besser, daß nun Alles zu Ende ging.
Und die Qual legte sich auf sein Herz und schnürte es fest und biß sich hinein mit feinen, langen, spitzen Zähnen ...
Die Nacht war so schwül und so weit und so dunkel.
Er sank in sich zusammen.
Die Welt geht zu Grunde! Die Welt geht zu Grunde ...