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Meinem Freunde
Julius Meier-Graefe
gewidmet
Fräulein Marit Kauer saß und freute sich.
Also doch; endlich. Sie hatte schon völlig die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wiederzusehen. Mindestens zehnmal hatte er seiner Mutter geschrieben, daß er kommen würde: morgen, übermorgen. Dann hatte er wieder so unerhört viel zu tun gehabt, daß er erst im nächsten Monat kommen wollte. Dann verging noch ein Monat und noch einer. Aber endlich: jetzt wirklich.
Heute war der kleine Bruder aus der Schule gekommen und erzählte unter tausend dummen Dingen, daß Herr Falk, ja, ganz bestimmt Herr Erik Falk, da sei. Ja, ganz sicher: er sei da. Er lasse die Eltern grüßen und werde sich erlauben, sie am Nachmittag zu besuchen.
Fräulein Marit hatte die Sprache für ein paar Sekunden verloren; nein, sie konnte es noch gar nicht glauben.
Gott, wie sie gelitten hatte! Sie war fast von Sinnen gekommen während der gräßlichen Zeit, als er nicht kommen konnte oder nicht wollte. Ihre ganze jungfräuliche Würde hatte sie ja geopfert; sie hatte sich so weit erniedrigt, Briefe an ihn zu schreiben, heiße Bitten an ihn zu richten.
Freilich hatte sie es nur im Auftrag seiner Mutter getan, aber war er denn so dumm, daß er diese Sehnsucht, die in jedem Worte zitterte, nicht verstand?
Wollte er nicht verstehen?
Sollte es wahr sein?
Nein, um Gotteswillen, nein. Es war Lüge, schamlose Lüge. Diese furchtbaren, garstigen Geschichten: er sollte einen Sohn haben, er hätte sich im Stillen verheiratet, eine Zivilehe mit einer Französin geschlossen.
Nein! Er war ja so ehrlich, so souverän. Er hätte ihr sicherlich etwas davon geschrieben; so betrügen konnte er sie nicht. Hatte er ihr nicht von Liebe gesprochen?
Hatte er ihr nicht versichert, daß sie allein, nur sie allein ihm das große Glück geben könnte?
Nein, es war Lüge; er war ja so unendlich edel und so fein ...
Ihr Herz begann sehr stark zu schlagen. Sie atmete tief auf. Die Augen fingen an zu tränen. Ein wildes Jubelgefühl stieg in ihr auf: noch eine Viertelstunde vielleicht, dann würde sie ihn sehen, in seine rätselhaften Augen sehen und auf seine wunderlichen Reden hören. Wie sie ihn liebte, wie unsäglich sie ihn liebte ...
Gott hatte sie erhört. Drei Messen hatte sie gekauft, daß er ihn ihr wieder zuführen möchte. Wie ein armes Tier hatte sie zu den Füßen des Gekreuzigten gelegen und hatte gefleht und geweint und gebetet. Wollte sie der himmlische Vater denn nicht erhören? Hatte sie ihn beleidigt?
Und sie fastete doch jeden Freitag und jeden Sonnabend, um Buße zu tun für die Sünden, die sie nicht kannte. Aber selbst der Gerechte sündiget ja siebenmal am Tage. Und vielleicht: war nicht ihre Liebe eine Sünde? Aber nein: jetzt war Falk ja da! Gott hatte sie erhört ...
Sie stand auf. Es war so drückend unter der Veranda. Der ganze Garten war so schwül. Sie trat auf die Landstraße, die in das benachbarte Städtchen führte. Von dort mußte Falk kommen.
Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper; sie fühlte, wie sich ihr das Blut zu Herzen staute. Sie zitterte.
Ja, sie sah ihn deutlich. Er war es ganz gewiß.
Sie klammerte sich an den Zaun. Es stieß sie, ihm entgegenzulaufen, sich ihm an die Brust zu werfen.
Nein, nein, nicht! Nur ihm zeigen, wie sie sich unendlich freue. Ja, sie wollte ihre Freude nicht verhehlen; er sollte sehen, wie sie sich freue.
Nein: das auch nicht! Das konnte sie nicht, das durfte sie nicht.
Sie kehrte um, wieder auf die Veranda zurück.
Nein, es ging nicht; hier konnte sie ihn auch nicht begrüßen. Sie fühlte Feuer in ihren Schläfen, sie fühlte den heißen Glanz ihrer Augen. Nicht ein Wort könnte sie jetzt sprechen; nicht einmal die Fassung würde sie bewahren können.
Sie lief in ihr Zimmer hinauf, warf sich auf das Bett und vergrub schluchzend ihr Gesicht in die Kissen ...
Falk wurde sehr herzlich vom Herrn Kauer begrüßt.
– Daß er noch existiere! Es sei doch schön von ihm, daß er sich wieder auf die Heimat besonnen hätte. Man habe ihn so lange vergebens erwartet.
Falk machte sich sehr liebenswürdig.
– Doch, doch! Er habe sehr viel an die Heimat gedacht; aber diese Unmenge Arbeit! Noch in den letzten Tagen habe er 30 Bogen Korrektur von seinem neuesten Roman durcharbeiten müssen, und das sei das Entsetzlichste, was es gebe. Nun sei er maßlos froh, und fühle sich so breit auf dem Lande, und fühle Liebe um sich; es sei gewiß etwas sehr schönes um die Heimat.
– Es war mir auch wirklich sehr nötig. Ich bin sehr nervös und ganz dumm geworden, aber bei der Mutter wird es bald, sehr bald gut werden. Die Mutter ist überhaupt neben der Buchdruckerkunst die wunderbarste Erfindung.
Herr Kauer war ganz glücklich, ihn wiederzusehen; er hatte ordentlich Sehnsucht gehabt, ihn zu sprechen. Auf der Provinz sei die Welt mit Brettern vernagelt; man wisse gar nicht, was in der Welt vorgehe. Jetzt müsse er alles wissen, Falk solle ihm alles erzählen.
Es wurde Wein aufgetragen.
– Herr Falk müsse viel trinken; dort in Paris könne er wahrscheinlich einen solchen Wein gar nicht bekommen. Übrigens sei es ganz wunderbar, mit einem so intelligenten Zechgenossen zu trinken.
Man verlor sich alsbald in ein tiefes Gespräch über Spargelzucht.
– Herr Kauer müsse es entschieden mit der neuen Methode versuchen, nämlich für jede Spargelwurzel ungefähr einen Meter Erde zu lassen, dann rings herum umzugraben ...
Die Tür öffnete sich und Marit trat ein. Sie war blaß, sah frisch gewaschen und sehr verlegen aus.
Falk sprang auf und reichte ihr beide Hände.
– Nein, ist das wunderbar, daß ich sie sehe. Herrgott wie lange ist das schon her!
– Wir hatten Sie nicht mehr erwartet... sie drehte sich plötzlich um und fing an etwas auf dem Fensterbrett zu suchen.
Falk sprach weiter von den Spargeln, war aber unruhig.
Kauer war sehr bei der Sache und beteuerte fortwährend seine Freude. Er habe nicht viel Glück gehabt, es sei eine Mißernte gewesen. Seine Frau kränkle seit einem Jahre, nun sei sie im Bade, wo sie den ganzen Sommer zubringen solle. Jetzt müsse er sich in der Wirtschaft mit Marit behelfen, so gut es gehe. Ja, und Falk müsse ihm nicht übel nehmen, wenn er jetzt auf ein Stündchen verschwinde, er müsse noch einige Anordnungen treffen.
Falk blieb mit Marit allein.
Sie sah durch das Fenster hinaus; er tat einen kräftigen Zug aus dem Glase. Dann erhob er sich.
Sie zitterte und wurde abwechselnd rot und blaß.
– Nun, Fräulein, wie ist es Ihnen ergangen?
Falk lächelte freundlich.
– Sehr gut; sehr gut ...
Sie schlug die Augen zu Boden, dann sah sie ihn fremd an.
– Es ist doch merkwürdig, daß Sie noch gekommen sind; was hat Sie eigentlich dazu bewogen?
– Ja, Herrgott, wissen Sie, wenn man viel gebummelt hat und sehr nervös geworden ist, ja, dann bekommt man so ein eigentümliches Schwächegefühl; man wird so weich, und dann muß man zu der Mutter, ganz wie ein Kind zu der Mutter.
Es wurde still. Falk ging sinnend umher.
– Ja, ich liebe meine Mutter. Aber ich konnte nicht kommen. Es waren sehr wichtige Dinge, die mich zurückhielten; sehr eigentümliche Verhältnisse.
Er richtete fest seine Augen auf sie, als ob er sie sondieren wollte.
Sie wurde plötzlich steif und abweisend.
– Ja, richtig, ich habe viel davon erzählen gehört; nämlich von den sonderbaren, eigentümlichen Verhältnissen.
Sie sprach mit ironischer Betonung.
Falk sah sie verwundert an; er schien übrigens darauf gefaßt zu sein.
– Gott, na ja: man erzählte sich sehr viele dumme Dinge, das sei selbstverständlich. Es sei ihm furchtbar gleichgültig, was man von ihm sage.
Wieder wurde es still. Falk schenkte sich ein neues Glas ein und leerte es.
Sie sah ihn hart an. Sein Gesicht war blaß und eingefallen, und in den Augen hatte er einen fiebrigen, eigentümlichen Glanz.
Er muß viel gelitten haben! Ihr Mitleid regte sich.
– O, Sie müssen es mir verzeihen. Nein, das wollte ich nicht: Ihnen gleich die unangenehmen Geschichten entgegenbringen, die über Sie verbreitet werden. Auch habe ich kein Recht dazu. Selbstverständlich muß mir das ja gleichgültig sein.
– Ja, ja ...
Falk schien müde zu sein.
– Es sei doch eigentümlich ... Hm, er sei zwei Tage gefahren, die ganze Nacht habe er kein Auge zugemacht, aber er habe keine Ruhe gehabt: er mußte zu ihr gehen, mußte sie sehen ...
Der Frühlingstag war zu Ende. Es fing an zu dämmern. Sie standen beide am Fenster. Sie sahen auf den Fluß und jenseits die bewaldeten Höhen hinan. Von dem Flusse stiegen Nebel auf und breiteten sich über die Anhöhen und krochen in den Wald hinein, und es sah aus, als wäre der Fluß aus den Ufern getreten und wollte nun mit seiner Flut die ganze Welt überströmen. Nach und nach verschwanden die Anhöhen und der Wald, und die weite, glänzende Nebelfläche floß mit dem Himmelshorizont zusammen.
Von Herrn Kauer kam die Nachricht, daß das Stündchen noch ein Stündchen dauern würde und daß Falk um jeden Preis so lange bleiben müsse.
Sie blieben allein. Falk trank unaufhörlich. Nur hin und wieder sprach er irgend ein gleichgültiges Wort.
– Sie dürfe ihm nicht übel nehmen, daß er so viel trinke; es sei für ihn jetzt wirklich notwendig. Er sei sehr heruntergekommen; ein Delirium indessen sei noch nicht zu befürchten. Übrigens sei das alles furchtbar gleichgültig. Oh, sie dürfe nicht glauben, daß er sentimental geworden sei; nein. Aber man könne doch ganz objektiv konstatieren, ganz einfach, als eine feststehende Tatsache konstatieren, daß man nicht glücklich sei. Sie solle es nicht auf ihn beziehen; oder – vielleicht doch. Aber all das sei so dumm und so gleichgültig; sie brauche kein Gewicht darauf zu legen.
Marit trat plötzlich an ihn heran.
– Wissen Sie, Herr Falk, spielen wir keine Komödie! Nein, ganz offen wollen wir sprechen. Als Sie hier vor einem Jahre waren, ja erinnern Sie sich noch: damals, als wir uns kennen lernten? Damals haben Sie mir gesagt, daß Sie mich lieben. Sie haben es mir auch geschrieben. Ich habe alle Ihre Briefe; sie sind mein großer Schatz. Nun, Sie wissen, wie ich zu Ihnen bin; ja. Sie wissen es ganz genau. Sie müssen gut sein. Ich habe Ihnen vertraut. Ich habe mich dem Gefühl der Liebe zu Ihnen ganz hingegeben. Ich wollte diese Liebe anfangs unterdrücken. Ich wußte, daß sie ziellos sei. Sie haben mir so oft gesagt, daß Sie selbst nur um der Liebe willen lieben. Sie haben mir ganz offen gesagt, daß Sie mir nichts versprechen können, daß unsere Liebe keine Zukunft habe. Ich wollte auch keine Versprechungen. Ich habe nichts von Ihnen erwartet. Ich liebte Sie, weil ich sie lieben mußte –
Marit verwirrte sich immer mehr. Sie wollte ihm so viel sagen, aber nun preßte sich alles zusammen, staute sich und drängte sich vorwärts, ungeregelt, zusammenhanglos.
– Ja, Herr Gott, nein! Nicht das wollte ich Ihnen sagen. Ich will nur, daß Sie offen zu mir sprechen, daß Sie mir die ganze Wahrheit sagen. Ich habe mich so unaussprechlich gequält, ich habe so viel gelitten ...
Falk sah sie verwundert an. Was sie denn eigentlich wissen wolle?
– O Sie wissen doch schon; es wird jetzt so viel in der ganzen Gegend von Ihnen gesprochen, und alle diese Reden müssen einen Grund haben. Ja: sagen Sie mir: ist das alles wahr? das – das mit der Französin – und – nein – das ist doch unmöglich ...
– Was denn?
– Ich meine ... das Kind.
– Kind? Hm ...
Falk ging mit großen Schritten auf und ab. Es trat ein quälendes Schweigen ein. Vom Hof her hörte man die Stimme eines Knechtes. Plötzlich blieb Falk vor ihr stehen.
– Nun, ich will Ihnen die ganze brutale Wahrheit sagen; alles, alles will ich Ihnen sagen; ganz offen. Ja, ich werde ganz offen sein, selbst auf die Gefahr hin, daß Sie mich nicht hören wollen und mir die Tür weisen. Freilich habe ich ein Kind; das Kind lebte schon, bevor ich Sie kennen lernte. Ja, das Kind ist eine herrliche Sache; es hat mich gerettet, dieses Kind. Es war wie ein festes Rückenmark, das mich wieder synthetisiert hat. Ich ging ganz auseinander, ich verlumpte schon. Ich war schlimmer wie der Schlimmste. Nein, Sie müssen mich ruhig anhören. Ich war ein Mann, ein Männchen, und als solches hatte ich das Recht Kinder zu zeugen ...
Nun, wenn Sie Ihre dumme Prüderie nicht ablegen können, müssen Sie keine Geständnisse provozieren.
Marit hatte Tränen in den Augen.
– Verzeihen Sie, mein Fräulein, aber ich bin sehr nervös.
Die Tränen flossen ihr herab.
– Gute, teure Marit! Sei gut, Marit! Höre mich an, wie nur eine kluge Schwester anhören kann. Wenn Du auch nicht die Hälfte verstehst, höre mich an ...
Herrgott, wolle sie denn weiter Blindekuh spielen und im Finstern tappen? Das könne er nicht dulden, dazu sei sie ihm zu fein und intelligent.
Freilich hab ich einen Sohn, und liebe ihn. Seine Mutter, nein, die liebe ich nicht. Ich war, als sie mir damals in den Weg lief, in vollständiger Zerrüttung; sie war gut zu mir, wir lebten zusammen, und so haben wir einen Sohn gezeugt.
– Mein Gott, mein Gott, wie ist das möglich?
– Ja, es ist vieles möglich.
Falk sprach mit müder Stimme und trank wieder. Er ging ein paar mal auf und ab, dann nahm er ihre Hand ...
– Marit! jetzt werde ich es Dir ganz offen sagen. Marit: Du darfst mich nicht lieben. Ich war ein Elender. Ja, ich habe Deine Liebe verlangt, ich bat und flehte Dich um Deine Liebe, aber damals glaubte ich, daß ich Dich glücklich machen könnte. Ich glaubte daran, ich wollte Dich zu meiner Frau machen, und Du hättest meinen Sohn geliebt. Aber das Weib hängte sich wie eine Klette an mich an. Hundertmal versuchte ich sie abzuschütteln, aber ich konnte nicht, und werds wohl auch nicht können.
Falk schien sehr erregt zu sein; Marit wollte ihn unterbrechen.
– Nein, nein, sie solle ihn ausreden lassen. Ja, er habe dran geglaubt, daß er sie glücklich machen werde. Deshalb, nur deshalb habe er ihre Liebe großgenährt; sie dürfe nicht glauben, daß er ein Schurke sei. Aber jetzt, jetzt sei alles vorbei. Jetzt dürfe er diese Liebe nicht mehr verlangen; nein, es sei unmöglich. Nicht eine Unze Glück könne er ihr geben; das sei völlig ausgeschlossen. Nur das Eine: eine Freundin, eine Schwester solle sie ihm werden.
Marit saß wie ohnmächtig.
Falk kniete vor sie hin und griff nach ihren Händen.
– Du, sei gut, sei meine Freundin. Geliebte kannst Du mir nicht sein. Nein, auch Freundin nicht – nein; ich gehe, ich gehe jetzt. Antworte mir; Du darfst mich nicht mehr sehen, nicht mehr. Also Du: leb wohl, ich gehe.
Falk erhob sich taumelnd.
Aber in dem Augenblick sprang Marit wie verzweifelt auf.
– Nein, bleiben Sie! bleiben Sie! Tun Sie, was Sie wollen; aber ich muß Sie sehen; ich werde sonst krank. O Gott, Gott, ist das furchtbar!
Falk fiel plötzlich über sie her.
– Nein, um Himmelswillen, nein! Sie stieß ihn weg und lief aus dem Zimmer.
Falk setzte sich an den Tisch, trank die Flasche leer und starrte vor sich hin. Die Dunkelheit tat ihm wohl.
Auf einmal fuhr er auf.
– Das ist doch merkwürdig, wie man vor einer Lampe erschrecken kann. Ich bin doch sehr nervös.
Marit lächelte müde; sie stellte die Lampe auf den Tisch.
– Papa muß sofort kommen; Sie bleiben doch zum Abendbrot?
– Ja, das will ich tun. Ich bin ein guter Mensch. Ich bin ein Gentleman. Ich darf Sie nicht Papas Vermutungen exponieren.