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Olga war sehr verwundert, als Falk eintrat.
– Ja, siehst Du liebe Olga, was zum Teufel hat Dich verleitet über einer Restauration zu wohnen? Man kann ja zu jeder Tages- und Nachtzeit zu Dir kommen, ohne die Hilfe eines Nachtwächters zu beanspruchen. Und unten können die Detektive ihr Lager aufschlagen. He, he – ich habe ein wenig Verfolgungswahnsinn. Plötzlich glaub ich in jedem Menschen einen Polizeiagenten zu sehen.
Er lachte nervös.
– Ich glaube sogar, daß ich irgend einen Menschen, der mich fragte, ob er die Ehre habe, mit Falk zu sprechen, denk nur: die große Ehre, mit Falk zu sprechen ...
Er stutzte plötzlich.
– Du, Olga, ich bin wohl wirklich krank. Denk nur, ich habe den Menschen gefragt, ob er mich verhaften wolle ...
Olga lachte auf, sah dann aber beunruhigt Falk an.
– Du bist wirklich krank. Macht Dir wieder Deine Brust zu schaffen?
Falk dachte tief nach.
– Ich war nämlich bei Czerski, sagte er plötzlich und sah sie an.
– Was? Du bei Czerski?
– Das wundert Dich? He, he, das war aber Deine Schuld. Hast Du vielleicht nicht geglaubt, daß ich das Geld schickte, um ihn loszuwerden? Und wenn Du das glaubtest, so mußte er erst recht daran glauben. Und so bin ich zu ihm gegangen, um ihn zu bitten, daß er sofort zu Isa gehe, um mich von der Lüge zu befreien ... Wir gingen übrigens als Freunde auseinander. Die ganze Zeit haben wir sehr schön über den Übermenschen philosophiert, und da habe ich herausgefunden, daß Du und er die einzigen Übermenschen seid, vielleicht gibt es noch einige Andre, ein paar Mediziner mit Grundsätzen ...
– Bist Du gekommen, um mich zu verhöhnen? Sie sah ihn traurig an. Übrigens hab ich nicht eine Sekunde daran geglaubt, daß Du das Geld aus Feigheit schicken könntest, und ich danke Dir auch für die Ehre, daß Du mich für einen Übermenschen hältst. Ich brauche es nicht, ich will nur Mensch, einfach Mensch bleiben.
– Wunderbare Antwort! Prachtvolle Antwort. Nein, wirklich im Ernste. Das hätt ich auch werden sollen.
– Ich habe nicht gesagt »werden«, sondern »bleiben«.
Er sah sie ernst an.
– Ja Du – Du und Czerski. Aber ich, ich müßte erst Mensch werden, um Mensch zu bleiben.
Olga sah ihn fast zornig an.
– Ich finde Deine Selbstanklagen und Deine krankhafte Lust, Dich zu demütigen und zu verleumden, ganz unausstehlich. Es kommt mir beinahe vor, als wäre Dir die Liebe, die man Dir entgegenbringt, widerlich, und als wolltest Du sie auf diesem Wege zerstören.
– Ja, das will ich, schrie er plötzlich rasend auf. Das will ich! Ihr hindert mich daran, das zu sein, was ich bin, ein Schurke, ein Halunke, ha, ha, ha ... nein, zum Donnerwetter kein Schurke! Lächerlich! Dir hindert mich daran, böse zu sein, ja, groß im Bösen zu sein, zu schaffen durch das Böse. Ich verachte Eure schaffende Güte, weil sie doch immer den Weg ins Böse nimmt. Ja, jetzt fühl ich erst, wie verächtlich Eure Güte und Eure Liebe ist. Und ich dummer Esel, ich laufe bei euch Allen umher und flehe Euch um Verzeihung an. Warum?
Er fiel erschöpft hin und starrte Olga an.
– Warum siehst Du mich so erschrocken an? Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich bei Czerski zu viel geschwätzt habe. Ich habe mich vor diesem Menschen gebeugt ... Aber es kam nur so im Fieber ... Wenn ich nur erst gesund werde: ich habe einen höllischen Plan ausgedacht ... Du sollst sehen, der ganze Plan ist bis in das feinste Detail ausgedacht und ausgearbeitet ... Ich schwöre Dir, daß ich den ganzen Bergwerkverband, he, he, es ist eine Gesellschaft von zwanzig Millionen, in spätestens zehn Monaten ruinieren werde ...
Er fuhr plötzlich triumphierend auf.
– Das werd ich mit Czerski zusammen machen ... Wir sind jetzt Freunde. Er ist der einzige Mensch, mit dem zusammen ich es machen kann. Er hat gräßlich gelitten. Ich untersuchte, ob er nicht weiße Haare bekommen hatte. Das bekommt man nämlich, wenn man so viel leidet. Aber weißt Du, Olga, geh herunter und hol eine Flasche Kognak. Ich bin ein wenig krank. Geh, geh, hier hast Du Geld; ich will mit Dir sehr lange sprechen. Ich will ein neues Leben beginnen. Ich werde Czerski folgen. Czerski ist ein Christus. Er ist der reinste Mensch – ja, er und Du ...
Falk fiel ins Sofa hin und grübelte. Olga holte den Kognak.
Er trank ein Glas voll.
– Sonderbar, wie das hilft. Es ist wirklich keine Einbildung, aber auf meinen Organismus wirkt Kognak ungemein stimulierend. Ich werde wohl garnicht sterben können, denn ich überwinde jede Krankheit mit Kognak.
Er schwieg und vertiefte sich in Gedanken.
– Du, Olga, Du hast Dich wohl meinetwegen sehr gequält? fragte er plötzlich.
Sie antwortete nicht.
– Es ist schlecht von mir, daß ich Dich in meiner Nähe behalte, aber ich kann Deine Liebe nicht entbehren, es kommt mir vor, als würd ich in Deiner Gegenwart ein neuer Mensch.
– Und doch suchst Du diese Liebe zu zerstören.
– Nein, nein, Du irrst Dich, sagte er eifrig. Ich bekomme nur eine solche Angst, daß ich sie verlieren könnte und dann werd ich so verzweifelt – ja, wirklich verzweifelt, fügte er langsam hinzu.
Sie schwiegen lange.
Er erhob sich in plötzlicher Unruhe und ging auf und ab.
– Sag mal, Olga, hast Du jemals das Gefühl gehabt, daß die Welt zu Grunde gehe? Ich habe nämlich jetzt plötzlich das Gefühl. Es ist nicht das erste Mal. Es kommt oft, und immer öfter, ja – seit einem Jahre vielleicht. Hm, es ist möglich, daß es nur eine lächerliche Suggestion ist von irgendwoher ... Ich habe zu viel Elend gesehen in der letzten Zeit. Das kann man nämlich wirklich durch Suggestion bekommen, mein ich. Es liegt in der Umgebung, in der Luft, man liest es ab auf irgend einem Gesicht ... Als ich noch Student war, kamen Mehrere von uns öfters zusammen ... wir waren wohl sechs Menschen ... Es waren scheußliche Ausschweifungen. Wir tranken auch sehr viel. Da plötzlich bekam ein Mensch mitten im Trinken furchtbare Krämpfe. Nun denk Dir: war da ein Kerl, ein Jurist, stark wie eine Fichte im Urwald. Aber er sieht den da sich in Krämpfen winden, er bekommt einen wahnsinnigen Schreck und fällt selbst in Krämpfe ... Ein Dritter fängt wie in Todesagonie zu schreien an, nicht wie ein Mensch, nein, es waren gräßliche, tierische Schreie, die die Nerven aus dem Leibe rissen ... Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn nicht die Leute aus dem ganzen Hause zusammengelaufen wären ...
Falk trocknete sich den Schweiß von der Stirne und wurde blaß wie ein Toter.
– Hör Olga. Dir muß ich das erzählen. Es quält mich, und ich habe keinen Menschen, dem ich das sagen könnte ... Ich weiß eigentlich nicht, warum ich Dir das erzählen soll ...
Er sah sie schweigend an. Sie faßte seine Hand. Er schien gräßlich zu leiden.
– Ja, sag es mir, vielleicht wird es Dich erleichtern.
Falk sah zu Boden.
– Ich habe nämlich ein Kind getötet ...
– Was? Olga fuhr auf.
– Ja, ein Mädchen von sechzehn Jahren ... Ich habe sie nicht direkt getötet, aber – er sah Olga starr in die Augen.
Eine lange Pause.
– Sag, sag Alles! Olga raffte sich auf.
– Wirst mich nicht verachten?
– Nein! sagte sie hart.
– Eine ganze Woche hab ich an der Zerstörung dieser weißen, reinen Seele gearbeitet.
– Und Du warst verheiratet?
– Ja.
Er schwieg und sah sie wieder starr an. Der Schweiß trat ihm wieder auf die Stirn, und seine Lippen bebten.
– Es war ein Gewitter, sie war allein zu Hause, und da hat sie sich mir gegeben. Ich weiß dann nicht mehr viel. Ich weiß nur, daß ich in unsagbarer Qual nach Hause ging, daß Blitze um mich her einschlugen, ich erinnere mich an eine Weide, die plötzlich in Flammen stand und auseinanderfiel, dann ward ich krank und lag lange Zeit besinnungslos.
– Dann hast Du es wohl im Fieber gemacht?
– Nein! Ich bekam das Fieber nachher.
– Und sie?
– Sie hat sich Tags darauf ertränkt, als ich ihr sagte, daß ich verheiratet sei.
Es entstand eine lange, peinliche Pause.
– Ich habe nicht viel darüber nachgedacht. Ich erinnere mich, daß ich ein ganzes Jahr nach ihrem Tode sehr wenig daran gedacht habe. Aber plötzlich, als ich vor einem Jahre von Paris hierher kam, traf ich ihren Vater auf der Straße. Er fuhr wahrscheinlich mit seiner kranken Frau ins Bad. Damals waren sie nämlich auch im Bad, und da habe ich die kleine Marit verführt ...
Falk bekam einen Anfall von quälender Angst, sein Atem stockte und das Fieber fing wieder in ihm zu rasen an. Er sprach schnell und leise.
– Ich traf ihn plötzlich auf der Straße, da bekam ich einen Ruck, als wär ich vom Blitz getroffen. Ich blieb wie angenagelt stehen, ich hätte mich nicht rühren können, wenn auch der Himmel über mich einstürzen sollte ...
Er lachte heiser auf.
– Ja, natürlich, dann erst recht nicht ... Aber ich sah den alten Mann, er starrte mich an, als wollte er mich mit dem Blick töten. Ich wollte wegsehen, aber ich konnte nicht ... Ganz weiß war er geworden ...
Falk atmete schwer.
– Dann hört ich ihn laut schreien: Mörder! Und in dieser Sekunde hab ich verstanden, daß ich ein scheußliches Verbrechen begangen habe ... In demselben Moment trat er auf mich zu, ich sehe seine Hand sich ausstrecken, zur rechten Zeit fing ich sie auf, und stieß ihn mit der Faust so heftig zurück, daß er taumelte und fiel. – – Seit dieser Zeit ist es gekommen ...
Falk sprach fast unhörbar.
Olga wurde von einem unheimlichen Gefühl ergriffen. Fast unbewußt packte sie seine beiden Hände, hielt sie fest, drückte und schüttelte sie und sah ihn mit wachsender Angst an.
– Warum, warum mußt Du so unglücklich sein?!
Falk überkam plötzlich ein Gefühl, daß er sich diesem Weibe zu Füßen stürzen müsse, es zwang ihn etwas nieder mit aller Macht, er faßte sich mit großer Mühe.
– Du, Du ... stammelte er.
Aber plötzlich zog er seine Hände weg und lachte mit einem kurzen heiseren Pfiff.
– Sieh mich nicht so an. Tu es nicht! Das berührt mich so unheimlich.
Er wurde von einem Taumel erfaßt. Er sprach schnell und lachte beständig.
– Es gibt nämlich hier in der Stadt ganz sonderbare Stellen, wo man plötzlich temporäre Wahnsinnsanfälle bekommen kann ... Ja, da, an einer solchen Stelle, ich glaube, es war im Afrikanischen Keller, saß ich mit einem Freund, den ich bis zur Verrücktheit liebe ... Ha, ha, auch ein Übermensch! Er hat hier einem Maler die Frau entführt und ist mit ihr durchgegangen. Seitdem ist er verschwunden. Ich hasse ihn, ich hasse ihn, schrie er plötzlich auf. Ich darf gar nicht mit ihm zusammen sein, er haßt mich auch, ja, jetzt ... Wir saßen damals ganz still und tranken. Aber plötzlich begegneten sich unsere Augen. Ganz zufällig. Ja, zufällig – und sie blieben an einander kleben. Ich wollte sie losreißen, aber es war unmöglich, unsere Augen waren in einander verwachsen. Und da fängt er plötzlich an zu schreien, in einem so tierischen Angstgefühl, daß mir der kalte Schweiß über den ganzen Körper rann ... Es ist etwas in der Seele, das nicht berührt werden darf, sonst geht der Mensch auseinander ... He, he, he ... Siehst Du, der Alte hat es in meiner Seele aufgerissen und seitdem blutet es unaufhörlich ... Der verfluchte Alte, daß ihn der Teufel hole ... He, he: das ist etwas, was jenseits vom Gehirne liegt – ganz, ganz jenseits ... Der größte, der heiligste Verbrecher auf der Erde, Napoleon, ja Napoleon, dieser große heilige Verbrecher bekam Krämpfe, als er den Herzog von Enghien töten ließ ... Ich habe illustre Vorbilder ... Das hab ich sehr lang und breit Czerski erklärt ... Hast Du jemals davon gehört, daß die Römer so ein heiliges Bacchusherz bei den Saturnalien herumtragen ließen? Wer es zu sehen bekam, der mußte sterben ... Ha, ha, ha ... die Alten wußten es, die wußten es sehr gut, und sie wußten viel mehr, als in Eurem kommunistischen Manifeste steht.
Plötzlich sah er Olga ihn mit unaussprechlicher Angst anstarren.
Er wurde augenblicklich ruhig. Dann lächelte er verlegen.
– Ja, Du hast wohl ein wenig Angst vor mir? Er setzte sich hin. Hast Du vielleicht etwas zu essen? Ich habe heute noch nichts gegessen.
Sie schaffte ihm Brot und Butter, er rührte es aber nicht an. Er schien ganz in einem tiefen Brüten aufzugehen.
Ein namenloses Mitleid erfaßte Olga mit dem Manne, den sie so grenzenlos mit ihrer starken Seele liebte. Sein Fieber teilte sich ihr mit, ein wilder Taumel fing an in ihrer Seele zu wirbeln. Es war, als wäre etwas in ihr aufgesprungen, und die heiße Glut quölle unaufhaltsam heraus. Sie fühlte ihren ganzen Leib sich aufbäumen und in heißem Schauer aufzucken. Sie wurde von Sinnen, eine rasende Wut packte sie, ein Verlangen riß an ihr nach diesem Mann, sie fühlte, daß sie nun aufschreien müsse: Hier, nimm mich doch – nimm!
Aber in demselben Nu erblickte sie Falks Augen, die mit einem seltsamen Ausdruck sie anstarrten.
– Olga, ich quäle Dich, ich werde gehen.
Sie zuckte heftig auf: der Mann schien jeden Gedanken in ihrer Seele zu lesen. Sie wurde so verwirrt, daß sie ihn nur sprachlos anstarrte.
Aber Falk schien sie schon wieder zu vergessen. Er verfiel in sein früheres Brüten.
Plötzlich lachte er mit einem seltsamen Lachen auf.
– Ich habe nämlich auch einen Freund in den Tod getrieben; er war der Verlobte meiner Frau, aber sein Tod berührt mich nicht im mindesten. Er ist mir so gleichgültig, wie einer Kuh die medicäische Venus. Das kommt wohl daher, daß sein Tod notwendig war und einen Zweck hatte. Übrigens könnt ich ihn jetzt, wenn er wieder auflebte, zum zweiten Male töten ...
Hm ... Olga, Du glaubst nicht, wie krankhaft spröde meine seelische Konstitution ist. Isa hatte mich lange Zeit zusammengehalten. Ich hatte nämlich ein Gefühl der Liebe zu ihr, so unerhört stark, daß meine ganze Seele davon erfüllt wurde. Aber da bekam plötzlich diese wunderbare Synthese einen Riß, einen tiefen Riß durch ganz sonderbare und ekelhafte Empfindungen ... Nun ja ... He, he ... Hast Du vielleicht nicht auch solche kleinen Würmer in Deinem Herzen? ... Ich habe irgendwo gelesen, wie ein Kerl sagt, wenn er vor dem allmächtigen Richter erscheine, dann werde der ganz erstaunt sein über den Umfang der Leiden, die sein edles Herz beherberge ... Ha, ha, ha ... Prachtvoll gesagt, prachtvoll ...
Er schwieg.
Olga stützte den Kopf in beide Hände und sah ihn stumm an.
– Hast Du vielleicht Tee?
Da sah er große Tränen in ihren Augen, er sah sie still und unaufhaltsam über ihre Backen rennen.
Es sah furchtbar aus. Das Gesicht war wie erstarrt im Schmerze. Nicht ein Muskel zuckte. Es war für ihn ein Gefühl von Schreck und gräßlicher Qual. Er konnte es nicht ansehen.
Er stand auf und ging auf den Zehen unhörbar zur Tür hinaus.
Ein nie gekanntes Gefühl von Scham würgte ihn. Nie hatte er es früher empfunden.
Nur nicht nach Hause, nur nicht nach Hause. Er wiederholte es unaufhörlich.
Er lief die Straße entlang, dann um die Ecke und blieb plötzlich stehen:
Ein riesiges Glasschild, in dem inwendig Gas brannte: »Zur grünen Nachtigall« las er.
Er kam in einen Zustand von entzückter Seligkeit.
Hier war er mit Isa an dem Tage, als er sie kennen lernte ... Nur einen Augenblick sich hinsetzen und noch einmal Alles durchleben.
Die Rathausuhr fing an zu schlagen.
Es war zwei Uhr. Dann hatte er ja Zeit genug, um nach Hause zu kommen.
Er trat ein.