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Mikita ging die ganze Zeit in München wie im Traume. Er tat Alles, was ihm seine Freunde rieten, er ging überall hin, wo man sagte, daß er hingehen müsse, aber er fühlte, daß es schlecht, sehr schlecht um ihn stehe.
Nun mußte er abfahren. Er wäre so gerne in München geblieben, aber er hatte nichts mehr zu tun. Und er mußte etwas zu tun haben. Gleichgültig was.
Er ging langsam zum Bahnhof. Ja, er mußte nach Berlin zurück.
Eigentlich hätte er sich von seinen Freunden verabschieden sollen, aber das war so peinlich. Sie würden mit ihm auf den Bahnhof gehen wollen, dann würden sie Witze machen und ihm Freundlichkeiten erweisen ... nein! er mußte allein bleiben.
Merkwürdig, wie seine Gedanken sich in die Breite zogen! Früher jagte das Alles sich übereinander, so daß er Mühe hatte, zu wissen, was er eigentlich wollte, und jetzt Alles so hübsch breit und behaglich und übersichtlich.
Seine Stimme war auch leise geworden.
Nur dies sonderbare Zittern, das ihn so stundenlang befallen konnte, dies seltsame Verschwinden des Bewußtseins – oh! das war fürchterlich.
Er fühlte Angst, daß es wiederkommen würde.
Plötzlich blieb er vor einem Waffenladen stehen. Er erinnerte sich an die tausend Reisegeschichten, die er in Zeitungen gelesen hatte. Die Möglichkeit war ja nicht ausgeschlossen, daß ihm auch so etwas passieren könnte. Ja, er könnte auch überfallen werden. Herrgott! Warum sollte ihm das nicht zustoßen, was tausend Andern zugestoßen war? Er lachte still in sich hinein.
Ja! Sonderbar, dies mit dem Denken. Nicht ein einziges Wort hatte er übersprungen.
Er sah die mannigfaltigen Waffen in dem Schaufenster.
Furchtbar erfinderisch sind doch die Menschen!
To be or not to be ... schoß es ihm plötzlich durchs Gehirn.
To be or not to be ... Nun fehlte ihm noch ein passender Mantel und ein Schädel ... Potz Tausend! Das müßte er vorm Spiegel einstudieren! Der kleine Mikita ... wunderbar. Er würde ja ungefähr aussehen wie der kleine Opernsänger Sylva in der Robe des Riesenrecken Siegfried.
Er ging in den Laden hinein.
Das Erste, was ihm auffiel, war ein großer Abreißkalender.
1. April – las er die riesigen Buchstaben. Prima Aprilis ... da gibt es heute viele Überraschungen.
Er verlangte nach einem Revolver, war aber so müde, daß er sich hinsetzen mußte.
War es denn durchaus nötig, daß er heute noch nach Berlin zurückfahren müsse? könnte er nicht warten, bis er sich ein wenig erholt habe?
Da belebte er sich wieder.
Die Entfernung ist ja für die Liebe von der allergrößten Bedeutung. Falk ist auch weg. Sie hat sich die ganze Zeit gelangweilt. Sie mußte ja immer Jemanden um sich haben. Wenn er jetzt zurückkäme ... Warum sollte ihm das nicht passieren, was tausend Andern passiert ist?
Hatte er nicht in hundert Romanen gelesen, daß die Entfernung eine erlöschende Liebe wieder entflamme!
Herrgott! Die Schriftsteller sind doch wirklich nicht von Pappe ... Wie schön und wie ausführlich sie das schon beschrieben haben!
Er bezahlte den Revolver und ging.
Eine Hoffnung löste die andre ab. Sein Gang wurde hastig. Er reckte sich. Es kam ihm vor, als träten plötzlich neue Muskeln in Tätigkeit.
Und so kam eine Unruhe über ihn, eine Spannung daß er glaubte, unmöglich diese lange Reise aushalten zu können.
Es fing an in seinem Gehirn zu fiebern.
Er dachte an Isa; er dachte daran, wie sie glücklich waren, wie sie ihn liebte und bewunderte. Er war ja der mächtige Künstler, den sie in ihm verehrte.
Aber es war nicht nur der Künstler. Nein, nein! Sie liebte es ja, sich an ihn anzuschmiegen, und ihn zu streicheln ... Sie – sie – o Gott, wie er sie liebte! Wie er gar nicht selbst war, wie jeder Faden seines Organismus mit dem ihren zusammengeknotet war, – so unlöslich ...
Aber selbstverständlich mußte sie müde werden, er hatte sie doch unaufhörlich gequält mit seiner Eifersucht, seiner ... seiner ...
Ja, nun, nun ... sie war so gut. Sie hatte ihm Alles vergessen.
Da – Ja, da wird sie stehen und ihm die Hände hinstrecken und sich dann an seine Brust werfen: Gott sei Dank, daß Du hier bist! Ich habe mich so grenzenlos nach Dir gesehnt.
Ja, das wird sie tun! schrie er auf. Er wußte es ganz sicher.
Aber ... ja! Hat sie ihm nicht auf seine Briefe nur ein einziges Mal ein Billet geschickt, daß sie sich wohl fühle ...
Er schlug sich auf den Kopf.
O, du dummer Mikita! Was weißt du vom Weibe? Was weißt du von seiner Listigkeit ... Ja, selbstverständlich! Wie konnte er sich nur deswegen so quälen? Das ist ja ganz klar ... und es ist ganz Recht, daß sie mich so bestraft ...
Und er überzeugte sich mit deutlichen und eindringenden Argumenten, daß er die ganze Sache total mißverstanden hatte, daß es nur weibliche Schlauheit, weibliche Klugheit ... nein, nein, wie sagte doch Falk ... angeborene Zuchtwahlsklugheit ...
Ja, Falk hatte für Alles passende Worte ...
Aber je näher er an Berlin kam, um so stärker wuchs seine Unruhe. Die alte Qual stieg wieder in ihm hoch, und die letzten zwei Stunden war er nur noch eine willenlose Beute der wüstesten Schmerzensraserei.
Wie ein Tier wurde er gequält! Das ist doch unerhört, was sich so ein Mensch quälen muß – unerhört!
Und er lief in dem Coupé hin und her, sprang und zuckte, und dann plötzlich befiel ihn dies furchtbare Zittern am ganzen Körper, daß er glaubte, er müsse nun wahnsinnig werden vor Schmerz und Angst.
Isa empfing ihn mit kaltem, verlegenem Lächeln.
Sie war mit Packen beschäftigt.
Mit einem Ruck empfand Mikita eine klare, eisige Klarheit.
Er konnte ebenso gut gleich gehen, aber er war so erschöpft, daß er sich hinsetzen mußte.
Isa wandte sich weg.
– Du! schrie er sie plötzlich heiser an, ohne sie anzusehen.
Er kam nicht weiter. Auf dem Tisch sah er ein paar grüne, seidne Strümpfe. Irgend eine verborgene, geschlechtliche Assoziation löste sich in ihm aus, er packte die Strümpfe und zerriß sie in Stücke.
Isa sah ihn verächtlich an. Jetzt endlich hatte sie den Mut gefunden.
– Was willst Du von mir? Ich liebe Dich ja nicht. Sie versuchte nur, ob sie ihm das sagen könne.
– Ich liebe Dich nicht. Du bist mir vollkommen fremd ...
Sie wollte noch Etwas von Falk hinzufügen, aber das konnte sie nicht.
Sie sah dies Hündische, Unterwürfige in ihm.
Er wurde ihr widerwärtig.
Sie sagte noch Etwas, dann hörte er nichts mehr.
Er ging auf die Straße.
Einmal hatte er doch irgendwo gelesen, daß man in solchen Augenblicken nichts verstehe, aber er hatte Alles verstanden, so klar, so deutlich. Eigentlich brauchte sie es ihm gar nicht zu sagen.
Warum die Straße nur so leer war?... Aha! es war ja Sonntag und da gingen alle Menschen hinaus ins Freie ... Sonntag ... prima Aprilis – Nachmittags – er sah auf die Uhr – sechs Uhr Nachmittags ... To be or not to be – Ja, wenn ich vor dem Spiegel stehe mit Hamletsmantel und dem Schädel in der Hand, dann muß ich der Zeittatsache in dem Schlußmonolog Erwähnung tun.
Er hätte sich das doch niemals denken können, daß man vor seinem Ende so klar, so ruhig und so vernünftig denken könne ...
Ja – Garborg hat Recht. Wenn man erst weiß, daß man unabwendbar sterben muß, dann ist man ganz ruhig.
Ja, ja ... die Schriftsteller sind immer diejenigen, welche ...
Er ging sehr langsam, aber jetzt blieb er stehen.
Dieser dumme Bengel irritierte ihn schon lange. Ja, schon eine geraume Zeit mußte er ihn beobachten.
Er ging wohl zu einem Mädchen, wollte kleine Füße haben und hatte sich zu enge Stiefel gekauft. Und jetzt mußte er jeden Augenblick stehen bleiben, und um seine Hühneraugen zu maskieren, tat er, als ob er die Schaufenster ansah.
Da – da ... nun blieb er wieder stehen!
Eine plötzliche Wut erfaßte Mikita gegen diesen dummen Bengel. Er trat mit strenger Miene an ihn heran.
– Sie, junger Herr, Sie haben wohl mächtige Hühneraugen?
Der junge Herr sah ihn verblüfft an, dann wurde er zornig, ganz tiefrot vor Zorn.
Mikita bekam Angst.
– Das ist eine gemeine Unverschämtheit! schrie der junge Mann.
Mikita kroch ängstlich in sich zusammen. – Verzeihung ... Sie wissen ... Wachsmutringe in der Uhr ...
Er entfernte sich schnell.
Gott, wie die Menschen ungemütlich werden – sie schreien mich an, plagen mich, quälen mich bis aufs Blut –ja ... seigner à blanc ...
Ja, er fühlte, daß ihm Tränen über die Backen rollten.
Na, Mikita! Es ist dir zwar viel Schlimmes widerfahren, aber deswegen brauchst du nicht zu heulen ... Zum Teufel! Beruhige dich doch!
Er wurde wütend.
Dummer Mensch mit deinen sentimentalen Komödien! Warum greinst du? Vermutest du etwa was vom schönen Geschlecht in der Nähe, das dir gleich so rührselig wird? Heh? Das schöne Geschlecht ... na ob!...
Er ging in sein Atelier hinauf, und schloß die Tür zu.
Er sah ein Bild an. Diese scheußliche Verzeichnung! Daß er das nicht bemerkt hatte! Das mußte er gleich verbessern!...
Er faßte einen Pinsel, aber seine Hand flog willenlos umher.
Er wurde rasend, packte in sinnloser Wut das Gemälde und riß es in Stücke.
Dann warf er sich auf das Sofa. Aber von Neuem flog er auf, als wäre er von tausend Teufeln besessen.
– Isa! schrie er auf – Isa!
Er fing an zu lachen. Ein Lachkrampf, daß er erstickte.
Er wälzte sich auf dem Boden. Er schlug mit dem Kopf gegen die Dielen, er faßte einen Stuhl, zerschlug ihn in Stücke, eine Vernichtungsraserei wütete in ihm.
Als er zu sich kam, war es Nacht.
Er war erschöpft. Sein Gehirn war irr.
Nur das Eine, das Letzte: Ja, Gott, was war es denn, was sollte er doch nur tun.
Plötzlich fühlte er etwas Schweres in der Tasche.
Aha! Ja, richtig! Richtig ... Er ging suchend im Zimmer umher und wiederholte fortwährend: Ja, richtig, richtig ...
Das war es! Der Revolver in der Tasche hat ihm wohl die Haut am Bein abgeschürft. Es brannte so. Sich hinsetzen! Nicht wahr? Das war wohl das Richtigste.
Wie die Ruhe weh tat!
Er nahm den Revolver, es dauerte lange, bis er ihn geladen hatte. Seine Hände wollten nicht mehr seinem Willen gehorchen.
Er wurde sehr böse.
Natürlich sich zuerst hinsetzen. Das war das Wichtigste.
Er setzte sich hin.
Ins Herz? Freilich! Das war ne gute Idee. Man schießt gewöhnlich einen Millimeter höher und wird dann kuriert! He, he ...
Plötzlich verfiel er in ein willenloses Brüten, er vergaß Alles.
Mit einem Mal hörte er ein Singen auf dem Hof. Eine jähe Unruhe ergriff ihn. Er umklammerte fest den Revolver.
Schnell! Schnell!
Es peitschte ihn Etwas in eine furchtbare Unruhe. Nach einer Sekunde würde er es nicht machen können.
Und mit jähem Ruck steckte er die Waffe tief in den Mund hinein und drückte los ...