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– Jetzt mußt Du zu Geißler gehen und mit ihm Alles ordnen, dann können wir übermorgen fahren.
Falk stand nachdenklich eine Weile.
– Ja, ja ... wir werden gleich fahren.
Er lächelte zerstreut.
– Du hast ihn doch sehr lieb, fragte er plötzlich.
– Wen?
– Nun, Geißler natürlich. Wenn mir ein Unglück zustoßen sollte, könntest Du ihn heiraten, nicht wahr?
Er sah sie lächelnd an.
– Stirb erst, dann werden wir zusehen, scherzte Isa.
– Nun, dann auf Wiedersehen.
– Aber komm nicht wieder so spät. Ich hab jetzt solche Angst um Dich. Denk an mich: ich werde verrückt vor Unruhe, wenn Du heute wieder lange ausbleibst.
– Nein, nein, ich komme bald.
Er trat auf die Straße.
Es war gerade Feierabend, die Arbeiter strömten in großen Scharen aus den Fabriken.
Ängstlich bog er in eine Seitengasse. Es war überhaupt sonderbar, was ihm jetzt Alles zur Angst wurde; sein Herz war in fortwährender Fiebertätigkeit.
Hörte er ein Geräusch an der Tür, so zuckte er zusammen und konnte sich lange nicht beruhigen; er hörte den kleinen Janek schreien und fuhr in höchster Angst auf: er konnte sich lange nicht besinnen, daß er einen Sohn hatte, nein, nun hatte er sogar zwei: den kleinen Janek und den kleinen Erik, zwei süße, wunderbare Kinder ...
Oh, dieses prachtvolle Vateridyll! Wenn es nur nicht so unendlich komisch wäre.
Er ging nachdenklich die leere Straße entlang.
Die Vorgänge der letzten Tage schwirrten ihm durch den Kopf und verschwammen zu einem Gefühl von einer unsäglichen Traurigkeit. Es war ihm, als müßte er ersticken: er atmete tief und schwer.
Was würde es auch nützen, wenn er fliehen würde? Nicht reisen, nur fliehen, fliehen, damit seine Lügen nicht entdeckt würden? Er konnte nicht mehr mit all den ekelhaften Lügen leben, jetzt konnte er auch nicht mehr Isa ruhig in die Augen sehen: ihr Vertrauen, ihr Glauben quälte ihn, demütigte ihn, er fühlte Ekel vor sich selbst, qualvolle Scham, daß er sich am liebsten hätte anspucken mögen.
Sonderbares Weib, diese Isa. Ihr Glauben hat sie hypnotisiert. Sie geht wie eine Somnambule. Sie sieht nichts, sie ahnt kaum, daß er leidet. Das Erwachen wird gräßlich sein. Es geht ja nicht weiter: ihr Glaube wird jetzt doch früher oder später gebrochen werden.
– Also bin ich ein doppelter Verbrecher. Ich habe die Ehe gebrochen und ihre Bedingung, den Glauben gebrochen. Eigentlich bin ich nur ein Verbrecher an mir selbst, denn ich habe die Wurzeln meines Daseins zerschnitten. Ich kann doch nicht ohne Isa leben. Wie ich auch denke und überlege: es geht nicht. Und weil ich Ich bin, weil ich also Gott bin, denn Gott ist jeder, der Alles um sich zu seiner Sache macht – und Alles um mich ist meine Sache –, so hab ich mich gegen Gott verbrochen, also ein Sakrileg begangen.
Er sprach es halblaut mit tiefem Nachdenken vor sich hin, merkte es plötzlich und stutzte.
Sein Ernst konnte das nicht sein, er kannte ja kein Verbrechen. Nein, was er auch über seine Heldentaten denken mochte, der Begriff des Verbrechens ließ sich nicht herauskonstruieren. Das Verbrechen postuliert einen Gemütszustand, der eben keine Gemütlichkeit ist ... He, he, he, Gemütlichkeit! – ich wollte eigentlich sagen Herzlosigkeit. Nun, weiß der Teufel, alles Andere bin ich eher, als herzlos. Ich habe ja mehr Mitleid in mir, als unsere ganze Zeit zusammengenommen. Also bin ich kein Verbrecher.
Er verlor sich in die subtilsten Untersuchungen.
– Aber vielleicht ist jetzt ein Gefühlszustand in Bildung, der früher nicht existierte, und für den etwas als Verbrechen gilt, das früher durchaus kein Verbrechen war. Ein Gefühl des Vergehens gegen zivilisatorische Entwicklungen, z. B. gegen Monogamie.
Sein Gehirn war aber so ermattet, daß er den Gedanken nicht weiter verfolgen konnte: es war ja auch gleichgültig; das Gehirn mit allen seinen Advokatenkniffen war ja doch ganz machtlos gegen das Gefühl. Wozu denn da weiter nachzugrübeln?
Er bekam plötzlich die sichere, unmittelbare Gewißheit, daß nun Alles vergeblich sei, was er auch tue, daß das Furchtbare jetzt sicher, unabwendbar, mit eiserner Notwendigkeit über ihn hereinbrechen werde.
Er erschauerte und seine Knie wurden schwach. Er sah sich um: keine Bank in der Nähe.
Mühsam und verzweifelt schleppte er sich weiter.
Sein Gehirn wurde nun ganz zerstreut, er vermochte es nicht mehr zu konzentrieren. Dafür sah er mit unheimlicher Deutlichkeit die geringsten Details. So sah er, daß an einem Schilde ein Buchstabe schief hing, daß an einem Gitter die Stange nach auswärts verbogen war, daß ein Vorübergehender den charakteristischen Gang eines Menschen hatte, dessen Stiefel schlecht passen.
Sein Gehirn erschöpfte sich in diesen Kleinigkeiten.
Plötzlich schrie er leise auf.
Der Gedanke, den er schon den ganzen Tag in der untersten Tiefe arbeiten hörte, und den er so mühsam zu ersticken suchte, brach auf.
Er mußte Grodzki folgen!
Er hatte den Selbstmord so oft theoretisch überlegt, aber diesmal war es wie eine ungeheure Zwangssuggestion: er fühlte, daß er ihr nicht widerstehen könne. Es kam nicht von Außen, nein, es kam von dem Unbekannten heraus: ein herrischer, jeden Widerspruch erstickender Wille.
Er zitterte, taumelte, blieb stehen und stützte sich an einem Haus.
Er müsse es tun! Ganz so wie Grodzki es getan hat. Den Gehirnwillen daraufhin dressieren, ihn zwingen, dem Instinktwillen zu gehorchen.
Auf einmal empfand er eine eigentümliche taube Ruhe. Er zwang sich, zu denken, aber er konnte nicht, er ging immer weiter gedankenlos, versunken in dieser tauben, inneren Totenstille.
Er stolperte und wäre beinahe gefallen. Das rüttelte ihn auf.
Nein! es war nicht schwer, was sollte er sich noch länger quälen.
Er dachte nach, was nicht Qual wäre, aber er konnte nichts finden. Dann dachte er nach, was nicht Lüge wäre, aber es gab nichts, was es nicht wäre, höchstens eine Tatsache, aber was ist eine Tatsache, sagte Pilatus und wusch sich die Hände. Nein! Pilatus sagte: was ist Wahrheit? und dann erst hat er sich die Hände gewaschen.
Er fing an zu faseln.
Aber als er vor das Haus kam, in dem doch Geißler wohnen mußte, wurde er sehr unruhig.
Er hatte das Haus ganz vergessen. Aber hier mußte er doch wohnen. Er las alle Schilder, darunter ganz besonders aufmerksam: Walter Geißler, Rechtsanwalt und Notar, aber er konnte sich nicht orientieren.
Er ging in den Flur hinein, trat wieder auf die Straße, las wieder die Schilder, kam zur Besinnung und wurde halb bewußtlos vor Angst.
Sollte er verrückt werden? Das war doch eine augenblickliche Sinnesverwirrung. O Gott, o Gott, nur das nicht!
Er faßte sich mühsam, eine krankhafte Scheu, nur Niemandem zu zeigen, was in ihm vorgehe, begann ihn zu beherrschen.
Er richtete die größte Aufmerksamkeit auf sein Gesicht, schnitt die sonderbarsten Grimassen, um den Ausdruck der gleichgültigen Alltäglichkeit herauszufinden, fühlte sich endlich befriedigt und ging hinauf.
– Einen Augenblick!
Geißler schrieb, als gälte es sein Leben.
Endlich sprang er auf.
– Ich habe nämlich wahnsinnig viel zu tun. Ich will nun meine Advokatur endgültig an den Nagel hängen, und mich ganz und gar der Literatur widmen. Das ist doch eine charmante Beschäftigung, und ich arbeite jetzt bis zur Bewußtlosigkeit ...
– Aber vorher wirst Du doch meine Affären ordnen?
Geißler lachte herzlich auf.
– Da ist ja nichts mehr zu ordnen. Du hast auch nicht einen Schimmer von Deinen Verhältnissen. Dein ganzes Vermögen ist noch allerhöchstens dreitausend Mark.
– Nun gut. Dann werd ich morgen zu Dir kommen; Du wirst mir das Geld morgen geben können, nicht wahr?
– Ich werde zusehen.
Falk dachte plötzlich nach.
– Du brauchst mir eigentlich nur fünfhundert zu geben, den Rest wirst Du monatlich in hundert Mark-Raten an diese Adresse schicken.
Er schrieb Janinas Adresse auf.
– Wer ist das? fragte Geißler.
– O, ein unschuldiges Opfer einer Schurkerei.
– So, so ... Du willst wohl nun in die Wüste gehen und fasten?
– Vielleicht.
Falk lächelte. Er besann sich plötzlich auf seine Rolle und fing mit übertriebener Herzlichkeit zu lachen an.
– Denk Dir nur, ich habe sehr eifrig nach Dir gefragt.
– Wo denn?
– In einem wildfremden Hause. Ich wollte einen Spitzel irre führen und so fragte ich auf der zweiten Etage sehr laut und mit großer Emphase nach Dir ... Aber das ist ja gar nicht interessant.
– Na, erzähl doch.
– Nein, nein, das ist entsetzlich langweilig.
Falk begann in ein stumpfes Grübeln zurückzuversinken.
Geißler sah ihn verwundert an.
– Fehlt Dir was?
– Eigentlich nichts, ich habe nur einen schweren Fieberanfall überstanden.
– Ja, Donnerwetter! Geißler knackte plötzlich mit den Fingern – was sagst Du zu Grodzki?
– Grodzki? Ein heftiger Schreck fuhr Falk durch die Glieder.
– Nun ja, er hat sich doch erschossen.
– Erschossen? fragte Falk mechanisch.
– Das ist ja ein phänomenales Stadtgespräch. Er hat die Frau von einem Maler entführt, ist plötzlich zurückgekommen, und hat sich erschossen.
– Die Frau von einem Maler?
– Ja. Der arme Kerl ist verrückt geworden. Aber dieser Grodzki! man sagt, daß er sich aus Furcht erschossen hat.
– Aus Furcht? Falk kam in eine unbeschreibliche Verwirrung. Aus Furcht?
– Man sagt, daß er kurz vor einem Monstreprozeß stand. So eine Art von einem sensationellen Fall Wilde.
Falk lachte auf.
– Also deswegen erschießen sich die Menschen. Ha, ha, ha, und ich glaubte, daß ihr Wille so stark sei, um über das Leben gebieten zu können, ha, ha, ha ...
– Man sagt es nur so, vielleicht ist es nur eine Klatschgeschichte ... Ich glaube nicht daran. War doch ein phänomenal begabter Mensch. Nun, Du kennst ihn doch wohl am Besten. Man erwähnt übrigens jetzt oft Deinen Namen.
– Meinen?
– Ja, man will Dich mit Grodzki in Verbindung bringen.
Falk wurde zerstreut.
– Will man das? Sonderbar ...
Geißler sah Falk aufmerksam an.
– Die Krankheit hat Dich doch sehr ramponiert, was? Du mußt Dich schonen ... Aber wie geht es Isa?
Falk schrak auf.
– Du hast sie sehr geliebt, nicht wahr?
– Bis zur Gemütsblödigkeit.
– Und so ging es vorüber?
– Na, na; so ganz vorüber ist es nicht.
– Nicht?
Falk empfand eine wilde Freude.
– Du scheinst Dich darüber zu freuen.
– Ich ordne die Affären, sagte Falk mit einer plötzlichen, übermütigen Laune.
– Was meinst Du?
– Nun, wenn mir ein Unglück zustoßen sollte ...
– Sprich doch keinen Irrsinn. Bist krank. Solltest zu Bett bleiben.
– Ja, ja, Du hast Recht. Er stand auf. Du kommst doch bald zu uns, sagte er zerstreut.
– Ja, natürlich.
Als Falk in den Flur trat, erinnerte er sich plötzlich, daß er mit Geißler über die Reise sprechen sollte. Aber er wußte nun plötzlich ganz sicher, daß er nicht reisen werde.
Als er auf die Straße kam, fing er an über Abschiedsvisiten zu denken ... Wenn man verreisen soll, muß man doch Abschiedsvisiten machen, dachte er tiefsinnig.
Der Gedanke an die Reise bemächtigte sich wieder seines Gehirnes. Er wollte aber nicht weiter darüber nachdenken. Er fühlte plötzlich, daß er aus dieser Tatsache eine Unmenge Folgerungen ziehen müßte, also z. B. wieder zu Geißler hinaufgehen und dergleichen Dinge mehr, die unfehlbar seine ganze Kraft zerstören müßten. Er wollte jetzt frei sein von allen Gedanken.
Und jetzt: zu Olga.
Der letzte Gedanke erregte ihn wieder.
Woher plötzlich der Entschluß? So ohne jegliche Vorbereitung, ohne jedes Nachdenken? Ein Wunder, ein großes Wunder! Folglich ist der Wille ein Phänomen? Nein, mein Du ist ein Phänomen.
Dann wunderte er sich, daß sich in seine Gedanken plötzlich die Vorstellung eines chinesischen Theaters eingemischt hatte: Ein Aktor steht auf der Bühne, macht eine Fußbewegung und sagt zum Publikum: Jetzt reite ich ... He, he, he ...
Sein Gehirn kam wieder in Bewegung. Grodzki tauchte wieder in ihm auf.
– Das ist doch sehr riskabel, Selbstmord zu begehen! Diese ekelhafte Schnüffelei nach den Gründen ...
Er kam inzwischen vor Olgas Haus. Das ewig offene Restaurant hatte etwas Irritierendes. Er erinnerte sich, daß ihn schon als Knaben die ewige Lampe in der Kirche irritierte. Lächerlich, daß sie nie ausgehen durfte. Ist etwa Olga die heilige Vestalin, die das ewige Feuer in der Kneipe zu hüten hat? Nun, nun, Falk ... Du wirst ein wenig abgeschmackt und banal ...
Er trat auf die Treppe, zog seine Handschuhe an und rückte die Krawatte zurecht.
Er klopfte.
In Olgas Zimmer saß Kunicki in Hemdsärmeln auf dem Sofa, der Rock lag über einer Stuhllehne.
Er hat den Russen im Duell erschossen, flog es wie ein Blitz durch Falks Gehirn, gleichzeitig erinnerte er sich, was man über Grodzkis Tod sagte, und in dem nächsten Sekundentausendstel schoß ihm ein Entschluß auf.
– Sie sind wieder heiß, lieber Kunicki, wie gewöhnlich, wie gewöhnlich.
Falk lachte mit boshafter Freundlichkeit.
Kunicki sah ihn finster an.
– Nun, lieber Kunicki, Sie sehen ja aus, als wollten Sie in den nächsten zwei Tagen die soziale Harmonie einführen.
Falk lachte noch freundlicher und drückte Olga beide Hände. Er sah sie strahlend an.
– Sieh, sieh, wie Du schön aussiehst!
– Fasle nicht! Ich habe hier mit Kunicki sehr unangenehme Sachen. Er ist wütend, daß wir Czerski auf Agitation geschickt haben.
– Vielleicht wollte Herr Kunicki reisen? Falk sah ihn an mit verbindlichstem Lächeln. Das ist ja ein edler Wettstreit.
Kunicki warf Falk einen wütenden, feindseligen Blick zu und sagte aufgeregt:
– Ihre lächerlichen Sticheleien gehen mich nichts an. Aber es handelt sich hier um die Sache. Sie wissen ebenso gut wie ich, daß Czerski ein Anarchist ist.
– Kein Mensch weiß es besser wie ich. Ich habe sehr lang und breit mit ihm darüber gesprochen.
– Um so schlimmer für Sie. Sie können mir nicht übel nehmen, wenn ich dem Komitee die Augen über Sie öffne.
– Ich kümmere mich den Teufel um Ihr Komitee, brauste Falk auf. Er fiel ganz aus seiner Rolle. – Ich mache, was ich will.
– Aber wir, wir erlauben Ihnen das nicht, schrie Kunicki wütend. Sie zerstören durch Czerski unsere ganze dreijährige Arbeit. Sie gehen nur darauf aus, unsere Arbeit zu zerstören.
– Ihre Arbeit, Ihre Arbeit?! Falk lachte höhnisch. Haben Sie denn ganz vergessen, was Sie mit Ihrer Arbeit ausgerichtet haben. He, he, vor anderthalb Jahren haben Sie mir einen schönen Plan entwickelt, aus dem zur Evidenz zu ersehen war, daß Sie innerhalb zwei Monaten alle Schwierigkeiten, die einem Generalstreik der Bergwerkarbeiter im Wege ständen, beseitigen würden. Ich gab das Geld dazu, obwohl ich an Ihre Träumereien natürlich nicht glaubte ... Aber Sie interessierten mich damals. Ich brauchte einen Menschen, der mich überzeugen könnte, daß gewaltige Massensuggestionen tatsächlich noch möglich sind ... Sie sollten mir das mikroskopische Kunststück einer neuen Kreuzfahrt vorzeigen, nur mit einer veränderten Devise: l'estomac le veult ... Ha, ha, ha ... Interessant genug war es ja zu sehen, ob die Menschen sich noch hinreißen lassen ... Ich glaubte, daß Sie vielleicht dazu im Stande wären. Aber nach einer Woche kamen Sie unverrichteter Sache zurück, ich glaube sogar mit bedenklichen Körperverletzungen ...
– Sie lügen, schrie Kunicki wütend auf, beherrschte sich aber sofort. Sie wollen mich lächerlich machen. Das können Sie, wenn es Ihnen Vergnügen macht. Ich verzeihe Ihnen gerne Ihre kindische und bei Ihnen doppelt komische ... he, he ... aristokratisch-ästhetisch Nietzscheanische Sehnsucht nach Macht und Größe ...
Kunicki würgte sich am absichtlichen, beleidigenden Hohngelächter.
– Ja, ja, bitte, bitte, wenn es Ihnen nur Vergnügen macht ... Falk sah ihn boshaft an. – Nein, lieber Kunicki, ich wollte Sie nicht beleidigen, und ich will es um so weniger, als ich sehe, wie stark die unglückliche, um nicht zu sagen komische Rolle, die Sie gespielt haben, an Ihnen würgt.
– Sie irren sich, sagte Kunicki. Falk labte sich an der Mühe, die Kunicki hatte, sich zu beherrschen ... Ich verstehe Ihre Absichten nicht, aber, wenn Sie glauben, daß ein Mensch wie Sie mich beleidigen kann ...
Falk lachte lange und sehr herzlich.
– Ha, ha, ha, ich verstehe sehr gut, daß ich einen Menschen wie Sie nicht beleidigen kann. Das war nur ein wenig phrasenhaft ausgedrückt im Verhältnis zu der Mühe, die Sie haben, um sich nicht beleidigt zu fühlen ... Aber kommen wir auf Czerski zurück. Ja, sehen Sie, ich glaube nicht an das sozialdemokratische Heil. Ich glaube auch nicht, daß eine Partei, die Geld im Überfluß hat, eine Partei, die Kranken- und Versorgungskassen gründet, etwas ausrichten kann ... Ich glaube auch nicht, daß eine Partei, die an eine behäbige Vernunftlösung der sozialen Frage denkt, überhaupt ernsthaft in Betracht kommen kann. Ebensowenig wie der Salonanarchist Herr John Henry Mackay ... Sie predigen Alle einen friedlichen Umsturz, ein Auslösen des gebrochenen Rades durch ein neues, während der Wagen sich in Bewegung befindet. Ihr ganzer Dogmenaufbau ist ganz idiotisch, gerade weil er so logisch ist, denn er gründet sich auf der Allmacht der Vernunft. Aber bis jetzt ist Alles durch die Unvernunft entstanden, durch Blödsinn, durch zwecklosen Zufall.
– Und Sie schickten Czerski, damit er den Blödsinn mache, höhnte Kunicki.
– Ich hoffe von ganzer Seele, daß er etwas furchtbar Blödsinniges macht. Ich hoffe es bestimmt, und zwar in der Überzeugung, daß die paar Revolutionäre, die gehängt, erschossen oder hingerichtet wurden, tausendmal tiefer in das Bewußtsein der unzufriedenen Volksmassen eingedrungen sind, als Ihre Partei mit den theoretischen Marx-Lassalleschen Wassersüppchen jemals zu dringen vermag.
Kunicki lachte höhnisch und versuchte recht spitz zu sein.
– Wissen Sie, Herr Falk, nach alledem, was ich jetzt von Ihnen gehört habe, könnte man sich ganz eigentümliche Gedanken von Ihnen machen. Gerade so, wie ich Sie jetzt sprechen höre, hab ich einen Lockspitzel in Zürich reden gehört.
Nun ist der Augenblick da, dachte Falk.
– Glauben Sie, daß ich ein Lockspitzel bin?
Kunicki lächelte noch boshafter.
– Ich betone ja nur die allerdings sehr seltsame Ähnlichkeit Ihrer Rede ...
In demselben Momente beugte sich Falk weit über den Tisch und schlug Kunicki mit ganzer Kraft eine Ohrfeige.
Kunicki sprang auf und stürzte sich auf Falk.
Aber Falk bekam seine beiden Arme zu fassen und umklammerte sie so fest, daß Kunicki trotz der wütendsten Anstrengungen sich nicht losreißen konnte.
Falk wurde sehr ärgerlich.
– Wir werden uns doch hier nicht prügeln. Ich stehe Ihnen, wenn Sie Satisfaktion haben wollen, ganz und gar zur Verfügung. Übrigens bin ich stärker wie Sie, Sie riskieren also sehr fatale Prügel.
Er ließ ihn los und stieß ihn zurück.
Kunicki sah totenblaß aus, auf seine Lippen trat Schaum. Dann zog er seinen Rock an und ging ohne ein Wort taumelnd aus dem Zimmer.
Falk setzte sich hin, Olga blieb am Fenster stehen und starrte ihn an.
Falk verkroch sich wieder in sein Grübeln.
Dies Schweigen dauerte wohl eine halbe Stunde.
Plötzlich stand er auf.
– Er schickt mir doch sicher eine Forderung?
Es war wie ein stiller Triumph in seinen Worten.
– Du wolltest es haben. Du hast ihn provoziert. Du hast ihn dazu gezwungen. Und jetzt triumphierst Du darüber. Du findest, daß dies leichter ist, wie Selbstmord.
Sie lachte nervös und streckte die Hand aus.
– Du hast also keine Kraft mehr, Du willst es doch. Und Du sagtest, daß Du meine Liebe liebst, und ich glaubte, daß Du es um meiner Liebe willen nicht tun würdest. Du hast gelogen. Du liebst Niemanden.
– Ich liebe Dich – sagte Falk mechanisch.
– Nein, nein, Du liebst Niemanden. Deinen Schmerz liebst Du, Deine kalte, grausame Neugierde liebst Du, aber nicht mich.
Sie kam in immer größere Aufregung. Ihre Lippen bebten und die Augen wurden unnatürlich weit.
– Ich liebe Dich! – wiederholte Falk tonlos.
– Lüg nicht, lüg nicht mehr. Du hast mich niemals geliebt. Was bin ich Dir? Hättest Du um meinetwillen leben können? Du sagtest: bleib bei mir, ich habe Deine Liebe nötig, aber hast Du einen Augenblick daran gedacht, daß ich nur um Deinetwillen lebe? Du hast genug Liebe um Dich, aber wen hab ich, was hab ich, außer Deiner kalten, grausamen Neugierde, die Dich an mich fesselte. Dachtest Du jetzt an mich?
– Ich denke immer an Dich, sagte Falk sehr traurig.
Sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimme brach, ihr Gesicht erstarrte, und wieder sah Falk die Tränen über das stumme Gesicht laufen. Sie drehte sich schnell nach dem Fenster um. Aber im nächsten Momente kam sie auf ihn zu und faßte ihn mit verzweifelter Leidenschaft an den Armen.
– Willst Du sterben?
Er starrte sie an, als hätte er sie nicht verstanden.
– Willst Du sterben? wiederholte sie in Raserei.
– Ja.
– Ja? schrie sie auf.
– Ja.
Sie ließ die Arme sinken.
– Ich liebe Dich nicht. Ich liebe Dich nicht, wie ich Dich geliebt habe ... Warum gibst Du mir nicht einen Schilling, wo Du Millionen bekommst? Bist Du so arm, bist Du wirklich so arm ...?
Sie trat zurück und sah ihn mit qualvoller Verzweiflung an.
Aber in diesem Momente stürzte Falk auf seine Knie, faßte ihr Kleid und küßte es mit langer Inbrunst.
Sie sank an ihm nieder, sie faßte seinen Kopf, sie küßte ihn auf seine Augen, auf sein Haar, auf seinen Mund. Sie konnte sich nicht sättigen an dem Kopf, den sie so unsagbar mit all der Qual, mit all der schmerzhaften Entsagung liebte.
Plötzlich fuhr sie jäh auf und taumelte zurück.
– Du liebst mich nicht!
Ihre Stimme war müde und gebrochen.
Falk antwortete nicht. Er setzte sich hin, stützte den Kopf in beide Hände und litt. So hatte er nie gelitten.
Die Impotenz seiner Seele hatte ihn nun ganz gebrochen. Es gab wirklich keinen Ausweg mehr. Nun wurde seine Seele stumpf, nur hin und wieder blitzte irgend ein gleichgültiger Gedanke auf.
Olga setzte sich auf ihr Bett und sah ihn unverwandt an.
Er erhob plötzlich die Augen zu ihr, sie starrten sich eine Ewigkeit an, er lächelte irre und senkte die Augen nieder.
Plötzlich sagte er, wie zu sich selbst:
– Ich habe ihn geohrfeigt, weil er nur eine Laus ist.
– Du bist krank, Falk. Jetzt erst seh ich, daß Dein Kopf krank ist.
Sie sah ihn mit wachsendem Erstaunen an.
– Du warst immer krank. Du bist nicht normal.
– Nicht normal? fragte er. Nicht normal? Du hast wohl recht. Ich habe mich oft gefragt, ob ich doch nicht am Ende irrsinnig bin. Aber mein Irrsinn ist anders, wie bei andern Menschen ... Ja, mein Kopf ist krank. Der Ekel tötet mich ...
Er saß mit tief gesenktem Kopfe und sprach sehr leise.
– Der Ekel vor mir, der Ekel vor Menschen frißt an mir wie Gangrän ... Ich hätte vielleicht etwas machen können, aber die sinnlosen Ausschweifungen haben meinen Willen zerfressen. Ich ging und zerstörte und litt ... O, wie ich furchtbar gelitten habe. Aber ich mußte es tun, halb aus einem dämonischen unverständlichen Drang. Die Menschen unterlagen meinen Suggestionen ... Doch, was soll ich davon reden. Ich habe genug geschwatzt ... Am Ende ist es nur meine Eitelkeit, die so spricht ... Es freut mich eigentlich, daß ich diese Macht hatte ... Ich bereue auch nichts, vielleicht würd ich von Neuem anfangen, wenn ich von irgend woher frische Kräfte bekäme.
Er stand auf.
– Jetzt werd ich gehen. Du tatest mir Unrecht: ich habe Dich sehr geliebt.
Er beugte sich über ihre Hand und küßte sie. Die Hand zitterte heftig.
An der Tür blieb er stehen.
– Wenn es schlecht geht, verstehst Du, Kunicki ist ein berühmter Schütze, ja, willst Du dann ab und zu bei Janina nachsehen? ... Sie war gut zu mir ... Es ist schändlich, daß ich so tief in ihr Leben eingreifen mußte ...
Er sah sie an und lächelte sonderbar.
– Willst Du das?
Sie nickte mit dem Kopfe.
– Nun leb wohl Olga, und – und ... Ja, wer weiß, wir sehen uns vielleicht nicht wieder.
Sie starrte ihn sprachlos an und winkte dann heftig mit der Hand.
– Ja, ja ... ich gehe.