Stanislaw Przybyszewski
Homo Sapiens
Stanislaw Przybyszewski

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II.

Kaum war er unten auf der Straße, als er Czerski auf sich zukommen sah.

Beide blieben stehen und sahen sich starr an.

– Sie kennen mich wohl nicht? sagte Czerski endlich.

– Ich denke, Sie sind Czerski. Sehr schön, sehr schön, was wollen Sie von mir?

– Das werden Sie bald erfahren.

– So, so ... die Nacht ist sehr schön, wir können ja zusammen spazieren gehen, obwohl ich viel lieber allein gehen möchte.

Sie gingen lange neben einander, ohne ein Wort zu sagen. Falk war sehr unruhig und rang nach Fassung.

– Also sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen.

– Was ich von Ihnen will? Ja sehen Sie, Sie wissen natürlich, daß ich mit Janina verlobt war?

– Nein, das weiß ich gar nicht. Ich habe heute erfahren, daß Sie so gut wie verlobt waren, aber nicht verlobt.

– Ja, meinetwegen so gut wie verlobt. Aber das gehört gar nicht zur Sache. Janina hatte das Recht, zu wählen, und sie hat gewählt.

– Ja, natürlich. Das war ihre Sache.

– Ja, ja, das war ihre Sache, wiederholte Czerski zerstreut und schwieg. – Aber sagen Sie nur, Herr Falk, Sie sind verheiratet?

Falk zuckte auf und blieb stehen.

– Was geht Sie das an?

– Es geht mich eigentlich nichts an, oder ja doch, es geht mich sehr viel an. Ich will nicht davon sprechen, daß Sie mein Glück zerstört haben, nein, ich komme gar nicht in Frage, aber Sie haben das Mädchen, das ich geliebt habe, geschändet, ja geschändet, so sind nun einmal unsere sozialen Verhältnisse. Wie kommen Sie dazu, Sie als verheirateter Mensch, dies arme Mädchen zu verführen und zu schänden?

Falk lachte zynisch.

– Wie man dazu kommt? Herr Gott, sind Sie ein naiver Mensch! Die Frage, die Sie mir vorlegen, ist alt wie die Welt. He, he, wie man dazu kommt? Ich habe mir selbst die Frage mindestens tausendmal gestellt ...

Czerski sah ihn finster an.

– Sie sind ein schmutziger Mensch, ein Schurke sind Sie.

Falk lachte freundlich.

– Aber sind wir das nicht Alle? Sind Sie etwa kein Schurke? Übrigens sind Sie ein sonderbar unverschämter Mensch. Ich möchte Ihnen sehr gerne eine Ohrfeige geben, wenn ich nicht zu schlaff dazu wäre. Gehen Sie zum Teufel und lassen Sie mich in Ruhe.

– Lassen Sie nur Ihre ritterlichen Anwandlungen bei Seite. Es könnte Ihnen sonst sehr schlimm ergehen. Aber ich habe eine moralische Verpflichtung Janina gegenüber, und so muß ich wissen, was Sie nun zu tun gedenken. Nein, es geht mich nichts an, was Sie tun wollen, Sie müssen so handeln, wie ich will.

Falk blieb stehen, sah Czerski mit höchstem Erstaunen an und fing dann an laut zu lachen.

– Hören Sie, Czerski, haben Sie im Gefängnis Ihren Verstand verloren? Ich würde mich gar nicht darüber wundern, ich würde es sehr begreiflich finden ... He, he, man muß doch sonderbar fixe Ideen kriegen in dieser scheußlichen Einsamkeit. Sie haben doch eine Zelle für sich gehabt? Ich muß tun, was Sie wollen! Ha, ha, ha ...

– Ja, Sie müssen tun, was ich Ihnen befehle.

– So, so, Sie fangen an, gemütlich zu werden. Bien! Also, was befehlen Sie?

– Sie müssen Janina heiraten.

– Aber Sie wissen ja, daß ich verheiratet bin. Es gibt ja ein Gesetz, das die Bigamie bestraft, wissen Sie es nicht? Haben Sie alle bürgerlichen Institutionen im Gefängnis vergessen?

– Sie müssen sich von Ihrer Frau trennen und Janina heiraten.

Falk blieb sprachlos stehen und geriet in Wut.

– Sind Sie denn verrückt geworden? Er konnte nichts mehr herausbringen.

– Nein, ich bin nicht verrückt geworden, aber so viel ich auch darüber nachgedacht habe, find ich keinen andern Ausweg. Sie müssen es tun, ich werde Sie zwingen dazu. Ihre Frau wird Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Ich glaube nicht, daß sie mit Ihnen weiter leben will, wenn sie erfährt, daß Sie eine Maitresse haben.

Falk erbebte innerlich so heftig, daß er Mühe hatte, weiter zu gehen. Seine Knie wurden schwach, er blieb stehen und starrte Czerski sprachlos an. Dann ging er langsam weiter.

– Warum wollen Sie das tun? Falk hustete auf und faßte sich mühsam.

– Weil es der einzige Ausweg ist.

– Sie irren sich, Czerski, ich werde nicht tun, was Sie wollen. Sie können mich auch nicht zwingen dazu ...

Falk sprach sehr ernst und ruhig.

– Alles, was Sie durch Ihren Plan erreichen, ist, daß Sie mich und meine Frau zerstören. Ihr ganzer Plan ist darauf aufgebaut, daß meine Frau mich verlassen wird, und das ist richtig. Daran zweifle ich nicht einen Augenblick. Aber die Konsequenz, die Sie daraus ziehen, ist ganz falsch. Ich werde niemals Janina heiraten ...

– Warum?

– Weil Sie nicht die Satisfaktion haben sollen, daß ich unter Ihrem Drucke gehandelt habe. Tun Sie, was Sie wollen, es steht Ihnen natürlich frei, aber ich wiederhole, ja ich versichere Ihnen mit meinem Ehrenwort, daß ich Janina nie heiraten werde. Sie erreichen nichts dadurch, im Gegenteil: ich werde mich natürlich an Ihnen rächen. Die Mittel sind mir vollkommen gleichgültig. Ich halte nämlich sehr viel vom Gotteswort: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sehen Sie, Sie gehören der sozialdemokratischen Partei an. Aber man traut Ihnen nicht, Sie gelten eigentlich als Anarchist. Und Sie wissen, daß für die Sozialdemokraten jeder Anarchist ein Polizeispitzel ist. Daß Sie im Gefängnis waren? O Gott, das hat nichts zu bedeuten. Um die logischen Konsequenzen einer solchen Lappalie kümmern sich die Sozialdemokraten nicht.

Czerski sah ihn gespannt an. Falk lachte boshaft, aber innerlich kochte es in ihm vor Raserei und Unruhe.

– Sie wissen, daß ich der Vorsitzende des Zentralkomitees bin. Sie wissen auch, daß man zu mir ein unbegrenztes Vertrauen hat. Aber man weiß sehr wenig von Ihnen. Sie haben sogar einen mächtigen Feind in der Partei, der Sie verleumdet und verdächtigt ... ja, es ist Kunicki, Sie wissen es ja, Sie waren so unvorsichtig, seinen Ausschluß aus der Partei wegen der Duellgeschichte zu beantragen ... Nun hören Sie ... Falk blieb stehen ... He, he ... Sie scheinen sehr gespannt zu sein. Ja, ich verstehe es. Also ich könnte ein Wort sagen, wenn man mich nach Ihnen fragt, nur ein Wort, eigentlich kein Wort. Ich brauchte nur die Brauen hochzuziehen, mit den Achseln zu zucken, den Kopf bedenklich zu schütteln ... Sie wissen, daß so etwas im Parteileben eine kolossale Bedeutung hat ...

– Das wäre eine Schurkerei, schrie Czerski in höchster Wut.

– Warum denn? Falk sah ihn kalt an. – Ich kenne Sie nicht. Ich habe Ihnen allerdings oft Geld zur Agitation geschickt. Aber auch darin spricht der Schein gegen Sie. Alles mißlang Ihnen. Sie wollten den Büchertransport über die russische Grenze leiten, die Bücher wurden aufgegriffen, Sie waren auch so unvorsichtig, die Arbeiter einmal zur Gewalttätigkeit zu reizen, was ja sonst nur ein agent provocateur tut ...

Czerski schien sich auf Falk losstürzen zu wollen.

Falk lächelte.

– Lassen Sie das, lieber Czerski. Ich habe zu Ihnen ein unbedingtes Vertrauen. Ich kenne keinen Menschen, dem ich mehr vertraue. Ich will Ihnen nur klar machen, daß ich mich auf jeden Fall rächen würde.

– Sie sind ein Schurke, schrie Czerski heiser.

– Ja, das haben Sie schon einmal gesagt, und ich habe Ihnen darauf geantwortet, daß ich diesen Ehrentitel auch Ihnen beilege. Übrigens ereifern Sie sich nicht, sonst ziehen Sie den Kürzeren. Ich war eine Zeit so fassungslos, daß ich glaubte, ich würde in die Knie sinken, jetzt bin ich ganz ruhig und überlegen. Sie sind auch unvorsichtig mit den Worten. Sie sprachen von Befehlen und Zwingen ... Das war zu hoch gegriffen. Sie wußten ja sehr gut, daß ich nicht gezwungen werden kann ... Gehen Sie doch nicht, wir können ja sehr ruhig sprechen, für mich ist die Geschichte mindestens ebenso wichtig, wie für Sie. Ich kann Sie ja ebensogut ein Stück begleiten, he, he ...

– Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben, sagte Czerski finster, blieb aber stehen.

Sie standen dicht unter einer Laterne.

Falk wurde sehr ernst.

– Hören Sie, Czerski, Sie sind es mir schuldig, mich jetzt anzuhören.

– Ich habe Ihnen ja gesagt, was ich tun will.

– Aber verstehen Sie nicht, daß es Wahnsinn ist? Sie sehen übrigens ganz krank aus. Ich habe Sie vor zwei Jahren auf dem Kongreß gesehen. Verstehen Sie nicht, daß es Wahnsinn ist? Sie erreichen nichts dadurch. Gar nichts. Sie zwingen mich zu einem Verbrechen. Ha, ha, ha ... Nein, Czerski, Sie sind ein schlechter Psychologe ... Sie sind eigentlich ein wenig befangen mir gegenüber, wir hatten zu viel mit einander zu tun ... Glauben Sie nur ja nicht, daß ich Sie bitten will. Lassen Sie sich nur ja nicht beirren in Ihren Entschlüssen. Sie sind übrigens ein dummer Mensch.

Nun fing er an boshaft zu lachen und stellte sich ganz breit vor Czerski hin, der ihn mit eigentümlich abwesenden Augen anstarrte.

– Sie kamen da über eine ganz plumpe Geschichte in Aufregung. Plump, unerhört plump! Glauben Sie wirklich, daß ich im Stande wäre, Sie als einen unsicheren Menschen zu denunzieren?

Er wurde wieder ernst und plötzlich sehr matt.

– Übrigens bin ich gar nicht das Zentralkomitee. Eure ganze Partei ist mir ebenso gleichgültig, wie Sie mit Ihren knabenhaften Vorsätzen ...

Czerski schrak plötzlich hoch.

– Also Sie lieben gar nicht Janina?

Falk sah ihn erstaunt an.

– Nein.

– Hören Sie, Falk, Sie haben schurkenhaft gehandelt, ich hätte es nie von Ihnen geglaubt. Ich hatte eine grenzenlose Achtung vor Ihnen ... Sie waren der einzige Mensch neben Janinas Bruder ... Er brach ab und grübelte weiter.

Falk wurde sehr erregt.

– Es tut mir unendlich leid, daß ich auf diese Weise in Ihr Leben eingreifen mußte ...

Czerski unterbrach ihn plötzlich.

– Und Sie wollen mit dieser Lüge weiter leben? Wollen Sie weiter Ihre Frau belügen?

Falk sah ihn erstaunt an.

– Lieber Czerski, Sie wollen sich nun plötzlich zum Richter über mich aufschwingen. Das ist ganz lächerlich. Ich schulde keinem Menschen Rechenschaft über das, was ich tue, am wenigsten Ihnen ... Übrigens haben wir genug gesprochen. Tun Sie, was Sie wollen ... Sie sind ein braver Mensch, und vielleicht kein Schurke, freut mich ungemein, einen Nicht-Schurken gesehen zu haben ... Aber jetzt gute Nacht ... Er wurde plötzlich rasend. – Gehen Sie schlafen, Czerski! Er war ganz außer sich vor Wut.

– Gehen Sie schlafen, sag ich Ihnen!

Czerski sah ihn verächtlich an.

Eine Schutzmannpatrouille ging vorbei und musterte sie aufmerksam.

– Gehen Sie schlafen! schrie ihm Falk noch einmal zu und ging langsam die Straße entlang. Er war wie gelähmt. Die künstliche Fassung verschwand plötzlich und die Unruhe wuchs so stark, daß sein Herz sich wie in einem Krampfe zusammenschnürte und kalter Schweiß ihm auf die Stirne trat.

Dann ging er schneller und schneller, bis er ganz erschöpft wurde.

– Jetzt kommt es. Ja, jetzt kommt es sicher. Das Rad kam ins Rollen und es wird unablässig weiter rollen ... Ja, natürlich. Dieser Wahrheitsfanatiker wird sich nicht abhalten lassen.

Falk wollte die Gefahr überdenken, aber sein Gehirn war müde, nur die Vorstellung des Verderbens, des Zerstört-Werdens beherrschte ihn mit unsagbarer Qual.

Ein Weib ging hastig vorbei, und hinter ihr liefen zwei betrunkene Studenten.

– Die Hunde! Nein, wie das Alles ekelhaft ist, wie ekelhaft! Nein, zum Donnerwetter! Das ist ja unerhört idiotisch, sein ganzes Leben für ein paar Sekunden tierischen Genusses einzusetzen. Das ganze Leben? Er lachte höhnisch. Nein, zum Teufel, man setzt ja nur ein paar Sekunden für ein paar neue Sekunden aufs Spiel ... Ha, ha, ha ... Ein Weib löst das andre ab ... Vive la reine ...

Er blieb auf einer Brücke stehen und starrte vor sich hin. Er war wie blind geworden, aber nach und nach sah er eine ungeheure schwarze Masse wuchtig und majestätisch über den ganzen Himmel emporwachsen, und nach und nach erkannte er die gewaltigen Formen des Bahnhofs. Hin und wieder hörte er einen schrillen Pfiff der Lokomotive, die unter der Brücke rangierte. Er ging auf die andere Seite der Brücke. Vor ihm dehnte sich das weite Terrain der Bahnhofsanlage. Er sah die ungeheure Anzahl von Lichtern an den Schienen entlang, er sah die verschiedenfarbigen Signallaternen, er starrte hin, bis alle Lichter in einen großen, zitternden Regenbogen, nein, eine große tausendfarbige Lichtsonne zusammenflossen ...


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