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Da war zu Chislehurst der alte Mann, einst Kaiser, kein besonderer Held, – der nannte das Leben eine Tugend, übte sie und war darum tugendhaft bis fast zum Heldentum, widerspenstig ein wenig wie ein Heiliger auf dem Rost; an die Auflösung dachte er dennoch wie an die Geliebte, er war also galant zum Tod. Das Schicksal forderte von ihm eine besondere, nicht glorreiche Ritterlichkeit. Zu Sedan noch wäre ihm das Sterben leichter gefallen als das Reiten. Jetzt wurde ihm das Sterben so schmerzensreich gemacht, wie es selbst das Reiten ihm nicht angetan hatte, – und wieder hing es zusammen. Er hatte zu beidem den stillen, den besonderen Mut. Er wagte das eine um des anderen willen.
Gestern, Mittwoch, um elf Uhr abends waren noch einmal alle Ärzte bei ihm, und dann kamen sie einzeln: um zwei Uhr Doktor Conneau, um vier Uhr Baron Corvisart, um sechs Uhr der grosse Thompson, der Steinzertrümmerer, um halbzehn vormittags Doktor Clover, der die Chloroform-Narkose macht. Ja, der Schlaf des Kaisers war tiefer. War der Schlaf, dachte Conneau, der alte Freund, nicht schon bedenklich tief, urämisch? – Die dritte Operation der Steinzertrümmerung wurde für die Mittagsstunde festgesetzt: sollte auch sie nicht vollständig glücken, wird geschnitten.
Am Neujahrstag, am Tag vor der ersten Operation, schrieb Louis Napoleon an einen Parteigänger: »In einem Monat sitzen wir im Sattel.« Was war das: die Euphorie des Menschen, nach dem der Tod langt? Nein, der Kaiser war krank, nicht sterbenskrank, es war der Entschluss des Lebenstugendhaften und wörtlich gemeint; es ging um das gesattelte Pferd, ums Reiten. Es war der stille, der besondere Mut.
Der kleine Thiers war Präsident der Republik; doch der Herr von Frankreich war Mac Mahon, Herzog von Magenta, – es waren nun schon fast zwei Jahre her, dass die Revolutionstravestie des letzten Kaiserreichsjahres zum Schreckensernst der Commune wurde und in Blutkatarakten zerschellte (jener Laternen-Rochefort doch gehörte nicht zu den Füsilierten, sondern zu den Deportierten). Der Restaurationsgedanke war so laut geworden wie die bonapartistische Partei, eine starke Partei, wenn auch ohne Prophet; denn Persigny war tot, sein unduldsamer Kopf ertrug nicht lange die furchtbare Zeitbestätigung, dass er recht gehabt hatte; er starb an Gehirnhautentzündung fast auf den Tag vor einem Jahr, seine Frau war auf einer Vergnügungsreise in Ägypten. Der Prophet starb, als sich die napoleonische Idee belebte: er hatte also genug. Der Kaiser aber lebte noch, still und zäh; und wenn er tat, als schliefe er, dann wollte er nur allein sein mit seinen wachen Gedanken, – so war es immer. –
Der Restaurationsgedanke ist Parteisache und soll so laut werden, wie er nur kann, – man muss auf ein Dutzend bonapartistischer Zeitungen kommen, die Agenten müssen das Land überschwemmen und aus der einzig möglichen Lösung die Losung machen. Die Tat aber muss leise vorbereitet sein und ist Sache des alten Verschwörers. Man weiss, die junge Republik hält sich Detektive in Chislehurst, also hat sie Angst vor ihm, und auch die Regierung Ihrer Majestät erbittet vom sehr geehrten Gast politische Ruhe. Cowes ist ein Platz für Rekonvaleszenten, man wird um der Gesundheit willen auf dem Wasser kreuzen, über das Wasser nach Ostende, viele Reisende gibt es auf der Strecke Ostende-Köln-Basel-Genfersee, in Nyon wartet nicht Persigny, aber Plonplon, kein Prophet, aber Umsturzagent. Auf der anderen Seite des Sees liegt Frankreich, Annecy hat ein Kavallerieregiment, auf das man aus bestimmten Gründen wird rechnen können. Denn Divisionskommandeur in Lyon ist Bourbaki, man kann ihn den treuen Bourbaki nennen, Eugenie kann ihn Freund nennen. Von Lyon bis Paris wird die Division zur Armee anschwellen; denn Mac Mahon wird Kriegsminister – er weiss es noch nicht –, und der Nationalversammlung wird man den Parlamentszug zwischen Versailles und Paris anhalten, auf unblutige Art den Blutumlauf unterbinden. Dies alles aber muss bald geschehen, bevor sich die neue Konstitution zwischen die Prätendenten und die Regierungsform stellt. Wer Ende 1872 noch lebt, still, zäh und mit kühnen Gedanken, der kann auch dies denken: es muss bald sein – März 1873.
Plonplon, einer der Parteiführer, kam vor vier Wochen nach Chislehurst. Der Kaiser konnte nicht mehr fahren, nicht mehr gehen; er würde vielleicht noch lange Zeit sitzen und liegen können. Das nützte nichts. Gehen und Fahren genügte nicht. Reiten. Der Kaiser geht nicht und fährt nicht: er reitet ein in Paris, mit den silbernen Erzengeln der Cent-Gardes.
Die Steinzertrümmerung war eine sehr gefährliche Operation. Selbst unter den Händen des grossen Thompson starb Leopold von Belgien daran. Und Niel …
Eugenie riet zur Operation, vielleicht dachte sie an Loulou mehr als an Louis. Aber auch Plonplon kam, um zur Operation zu raten, und er war doch das Haupt der anderen Gruppe, die an den Vater und nicht an den Sohn dachte. Der Kaiser dachte an den Sohn, er dachte nur an ihn und an Sedan, am 9. Januar.
Im Dezember machte der Kaiser das Experiment mit dem Wagen. Er fuhr mit Plonplon von Chislehurst nach Woolwich, wo Loulou auf die Kriegsschule ging. Plonplon beobachtete ihn während der Fahrt. Der Kaiser klagte nicht; aber oft schwieg er und lächelte, das eingeklemmte Lächeln. Als sie auf Schloss Camden-Place zurückgekehrt waren, fragte ihn Eugenie, ob es schlimm gewesen sei. Er antwortete: »Ich hatte Schmerzen.« Dann kamen Blut und Fieber, – und es war doch nur das Fahren. –
Der stille Mann, kein besonderer Held, hatte zu überlegen: gesetzt den Fall, die Aussichten der Steinzertrümmerung stünden fünfzig zu fünfzig, kein ungünstiges Verhältnis, Tod und Reiten hielten sich die Waage, so gilt die Überlegung für den Fall des Todes. Das ist nicht die Angst; denn man fürchtet nicht, was man so lange liebt und auch schon gesucht hat: das ist die Vergeblichkeit. Doch sieh, es gibt keine Vergeblichkeit; denn auch der Tod nützt dem Leben, dem Leben Loulous, und schafft auf würdige Weise Platz. Nur die Unbeweglichkeit ist schlecht. Gleich gut sind Reiten und Tod, Tugend und Liebe.
Zweimal schon in einer Woche hielt es das Leben aus, den furchtbaren Eingriff und das Chloroform, – was ist es für ein mutiges Herz! Der Stein wurde nie genug zertrümmert. Wenn der Kranke wach war, sprach er von Loulou und von Sedan, nicht vom Schmerz.
Am 9. Januar mittags: das dritte Mal.
Um zehn Uhr, es war ja noch viel Zeit bis Mittag, wollte Eugenie nach Woolwich fahren, zu Loulou. Sie sehnte sich nach Luft und nach Loulou.
Wie es auch komme, ihr bleibt die Hoffnung. Das Kind der Hoffnung ist der Sinn des Lebens. Von zehn Uhr bis Mittag ist noch viel Zeit, für den sechzehnjährigen Sohn, Musterkriegsschüler von Woolwich, von allen geliebt, selbst von der Queen, gibt es einen solchen Reichtum an Zeit, dass es genug für die Mutter sein wird, solange sie lebt.
Doch der Mensch kennt ja nicht das Mass der Zeit noch seinen Inhalt, und es ist gut so, gut für die Frau des Kaisers und besser noch, viel besser für die Mutter des Sohnes, der auch Louis Napoleon heisst und das Zeitmass der Mutter ungeheuerlich machen wird, fast unmenschlich: so schmal und kärglich wird das seine sein. Dass er mit seinen Jahren bis dreiundzwanzig komme: was braucht es noch viel? Noch sechs Jahre. Der Musterkriegsschüler wird dann von der Schule genug haben, er ist ja fertig mit ihr, der hübscheste Leutnant, der zu denken ist; denn er gleicht der Mutter, nur den Wohllaut der Stimme und die sanfte langsame Sprache hat er vom Vater und das weiche Herz, die Kühnheit wiederum von ihr oder den Mut von beiden; denn auch der Vater war ja mutig, wenn auch auf undeutliche Weise. Der Sohn wird sogar ein wenig von der Mutter genug haben, von ihrer Liebe, die sehr genau ist, bis zum Taschengeld. Er will nach so viel Liebe und Schule endlich ein bisschen Krieg, also Freiheit. Er wird der hübscheste kleine englische Kolonialoffizier, der zu denken ist, kommandiert zum Straffeldzug gegen die unbotmässigen Zulus, und gerade ihn trifft die Unbotmässigkeit der spitzen Assagais so schrecklich, dass man die gänzlich schwarze und von den Speeren durchsiebte Leiche nach ihrem feierlichen Rücktransport in England nur an den plombierten Zähnen erkennen wird.
Von zehn Uhr bis Mittag, von 1872 bis 1879: es ist kein Zeitmass für Eugenie. Denn die Frau, die Matrone, die Greisin, die Uralte, im schwarzen Kleide immer, ist unausdenkbar reich an Zeit, es wird ein Grauen um sie sein, das Leben schaudert vor seiner eigenen äussersten Langmut, sie nennt sich schliesslich eine alte Fledermaus, sie sieht aus wie eine alte Eule, sie hört doch noch die Glocken von Farnborough läuten, im grossen Siegesglockenchor von Schottland bis Sizilien, achtundvierzig Jahre nach Sedan.
Um zehn Uhr, es war ja noch viel Zeit bis Mittag, wollte Eugenie nach Woolwich fahren und Loulou sagen, dass der Vater operiert werde, zum dritten Mal. Aller guten Dinge sind drei, – es wird gut gehen, sagen die Ärzte. Sie hatte schon den Hut auf.
Es kam Doktor Conneau, Arzt der sterbenden Mutter Hortense, Gefährte des Hortense-Sohnes, sein Mitgänger von Boulogne, sein Mitgefangener von Ham, sein Mitbefreier, sein alter Freund, – kein Freund der Kaiserin.
Sie solle lieber nicht fahren, sie solle lieber und sofort den Prinzen holen lassen – und den Pfarrer Goddard. Denn man werde keinen Stein mehr zu zertrümmern brauchen.
Der Kaiser lächelte immerzu, bis er starb, 10 Uhr 45, und auch dann noch.