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Corrida


Die Tugend des Lebens

Die schwarzen Klippen von Biarritz hatten es schwer in diesem Herbst, so zornig war die Biskaya, so ohne Unterbrechung angriffswild. Die Wellen, lila vor Wut und schaumgesprenkelt, galoppierten in furchtbar breiter Front und endlos tiefer Staffelung gegen die ewigen Widersacher und stülpten Gischt-Netze über sie. Die Angegriffenen schüttelten sie immer wieder ab und zogen den Kopf aus der Schlinge, durchstiessen den Schaum mit dem Einhorn ihres Rumpfes und waren doch mehr weiss als schwarz; denn die neue Welle sprang sie schon schäumend an, während die alte an ihnen milchig herabstürzte, und noch aus dieser Vermischung wuchsen dem Feind neue Kräfte zu. Die Turmklippen dampften wie weisse Geysire aus der Brandung und nur während ihrer immer wieder übergischten Sekundensiege zeigten sie das schwarze Stiergenick.

Von der weit vorgezogenen Terrasse der Villa Eugenie aus sah der Kaiser dem Schauspiel zu. Er war allein, der Kaiserin, für welche die offene Loge auf das theatralische Meer eigentlich geschaffen war, stürmte es zu heftig – sie war auch bereits leicht erkältet –, die Damen und die Herren der Suite waren zum Teil ebenfalls erkältet, zum Teil befürchteten sie es, nur der Geheimsekretär des Kaisers, auch ein Pietri, treu und bissig wie ein Hund, lehnte im Hintergrund gegen die Terrassentüre. So war sie von innen nicht zu öffnen. Der Kaiser wollte allein sein.

Der Wind fuhr ihm durch das dünne Haar, der Wind schlug ihm um den Kopf wie ein kaltes Tuch; aber das tat nicht weh, das tat gut. Die Lippen waren salzig, auch der Bart. Die See, ihre laute Wut, ihre laute Luft, dieser ganze gellende Herbst war ein immertätiger Wecker: man konnte ihn brauchen, man konnte ja nicht wach genug sein, es war gut und recht, das Beste und einzig Richtige, aufzufahren aus der Trägheit des Blutes, aus der einlullenden Wiege des Körpers, des kranken Körpers. Und geriet man endlich ausser sich, aus dem dumpfen Gehäuse des scheinheilig schlummernden oder höllisch schlaflosen Leids, fuhr er auf, stand er im Wind, geschärft und gesalzt, war er endlich wach, so fasste er die wilde Widerspenstigkeit der Biskaya-Brandung, des Klippenstierkampfes von Biarritz, nicht nur mit Augen und Ohren, sondern auch mit dem Blut. Dann erst gelang es ihm, die Blutsverwandtschaft mit dem Bruder Morny abzustreiten, mit dem ewigen Schläfer.

Es wäre unmenschlich, einem Menschen zu verübeln, dass er stirbt. Es wäre auch dann noch wider jedes Gefühl und eine Lästerung Gottes, wenn man wissen würde, dass der lebenswichtige Mensch sterben wollte, gleichsam aus Bosheit. Der Kaiser wusste gewiss nicht, ob der Bruder Morny hatte sterben wollen; aber er glaubte es nicht, er glaubte es ganz und gar nicht, Todessüchtige, die nicht Selbstmörder sind, sondern geduldige Liebhaber und ganz heimliche Förderer der Auflösung, sind sehr selten, viel seltener, als die Dichter meinen, und unter die Raren verirrt sich kein Zeitliebling. Oh nein, der Bruder Morny starb nicht gerne, der Kaiser glaubte es nicht, und sein Herz war viel zu weich und viel zu traurig, um ihm zu zürnen, dass er aufgehört habe zu leben, dass er mit einem Male nicht mehr lebe.

Die heimlich in den Tod Verliebten sind sehr selten; aber es gibt sie. Wenn der Kaiser in sich selber versank und der Körper nur noch das Gefäss war für die Müdigkeit, eine so dünne Wand zwischen dem kreisenden Blut und der kreisenden Leere, dass sie der kleinste Schlaf ganz leicht durchbrach und vermischte: süsseste und leiseste Wollust, – wenn er im eigenen Körper gewiegt wurde wie in einer grossen Wiege oder von ihm getragen wurde wie von einer grossen Woge oder in ihm schwamm wie im Meer, die Strömung wunderbar fühlend, das Einströmen in den Kreislauf des Blutes, das Verströmen in den Kreis der Leere, und wenn er dann endlich langsam sank und dies alles eine Lust war, die grösste aber das Untergehen: gehörte er, der Selbstverschwender und Selbstzerstörer, dann nicht zu den sehr seltenen Süchtigen?

Fragte es sich nur der Kaiser selber, der mit sich und seinem Körper Bescheid wusste (denn selbst die Müdigkeit war sein Geheimnis), – hatte es sich denn je der Bruder Morny gefragt, das scharfsichtige und klare, zum Schluss gar harte und nackte Antlitz, das zugleich ähnliche und gegensätzliche Gesicht, hatte er sich denn je die Mühe genommen, der sichere Zeitliebling und approbierte Reichsverweser, hatte er nicht bestenfalls mit sich selber geantwortet: wenn er, der Kaiser, klein beigibt und stirbt, dann bin ich noch da? Nun, so hätte es sein sollen, nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und es hätte den wachen Morny nichts angegangen, dass der schläfrige Kaiser selbst noch in seiner Müdigkeit das Reservat verpackte, nämlich die Lebens-Widerspenstigkeit, die er für ein Erbteil der Familie hielt, für das Hortense-Geschenk, gehörig also auch dem Bruder Morny, gehörig doch gezeigt von ihm, dem hurtigen Reformer. Und hier enttäuschte ihn der Bruder, hier versagte das Bruderblut so sehr, dass es, mehr als eine Enttäuschung, die Bedrohung wurde.

Morny starb, kaum vierundfünfzig Jahre alt: das war das Enttäuschende und Bedrohliche. Dass er krank war, wusste der Kaiser schon lange; was es war, das im Bruder nagte oder frass oder stach, wusste er nicht, – das wusste niemand; denn Morny machte klugerweise aus seiner Krankheit ein Geheimnis, ganz so wie der Bruder, der unverbesserliche Verschwörer, aus seiner Politik. Ein Mann, der reformiert und erneuert und wie kein Zweiter über den Zeitmarsch auf dem Laufenden zu sein hat, darf so wenig krank scheinen wie ein Arzt, der heilt. Es war nur recht und billig, dass er selbst dem Bruder nicht das Leid verriet und ganz im Gegenteil mit der immer etwas grausamen Teilnahme des Gesunden den leidenden Kaiser hin und wieder, aber stets seltener doch, fragte, ob er leide. Dem Kaiser gefiel das Spiel, eben weil es zur Familientugend gehörte. Er wusste, dass auch Morny krank war, der grauhäutige, das Brudergefühl verriet es ihm, das eigene Leid, die Widerspenstigkeit des eigenen Lebens. Denn das Erbteil der Mutter Hortense kam nicht aus der Gesundheit; nach dem Letzten, dem Sohn Morny, trug sie ja den Tod aus, ganz im Geheimen, langsam, widerspenstig und heilig listig.

Morny wurde von zwei Krankheiten in die Schere genommen, von der alten, geheimnisvollen, gerecht verleugneten, und von einer frischen, boshaft offenbaren und geläufigen: einer Bronchitis. Die Arzte, von dem Feind der Schulmedizin endlich gerufen, wussten mit der verheimlichten und unheimlichen Krankheit nichts anzufangen und bestraften den Wunderpillenschlucker nur mit dem unbestimmten Hinweis auf eine mögliche Magenvergiftung durch die üblen Drogen. – Ob es vielleicht, fragte der Kaiser den alten Freund und Arzt Conneau, das Leid der Königin Hortense sei? – Krebs sei recht unwahrscheinlich, antwortete der Doktor, er glaube eher an eine Entzündung oder Funktionsstörung der Bauchspeicheldrüse, einem geheimnisvollen und leider noch wenig geklärten Krankheitsbild, – da könnte erst die Autopsie Klarheit schaffen. – Die Autopsie, wiederholte der Kaiser und schüttelte den Kopf; denn er glaubte nicht, dass der Bruder Morny an seinem Geheimnis sterben würde, mit vierundfünfzig. Wie lange hielt sich noch die Mutter, auch als sie gestehen musste, dass sie den Tod im Schoss trug – und Morny hat nicht Krebs –, und er, der Kaiser, wie lange ist er nicht schon krank und müde, und hält er sich nicht, der immer Kränkere und Müdere, durch die Familientugend, die den Widerstand gegen die Krankheit zur Widerspenstigkeit erhebt und die er mit dem Bruder teilt?

Morny drückte sich um die Antwort, nein, er gab eine falsche Antwort und drückte sich aus dem Leben, so als habe er genug, der gar nicht Widerspenstige, der enttäuschend Ergebene. Er starb nicht an seinem Geheimnis, er machte es den Ärzten leicht und ging an der frischen und geläufigen Krankheit regelrecht ein, wie ein Schulbeispiel. Es war also die Bronchitis, die ihm den Lebensfaden abschnitt – ach, das Bild ist falsch –, die ihn erwürgte. Warum ging das Schicksal in der letzten Stunde so fürchterlich mit dem Zeitliebling um, warum erstickte es ihn? Aber er litt ja nicht mehr, behaupteten die Ärzte, er wusste schon lange nichts mehr von sich, als sich der Bruder über ihn beugte. Es pfiff schaurig aus dem offenen Mund, die Lippen waren eher bläulich als rötlich, und blaugrau war das Antlitz, das knochige oder versteinte, überaus harte und dennoch nicht unzufriedene.

Ein bläuliches Brudergesicht, aufs Leben schaurig pfeifend, lag doch schon einmal unter dem Blick des Kaisers, vor mehr als einem Menschenalter, damals hiess er noch Louis und der Sterbende hiess Charles, und dass beide auch Napoleon hiessen, machte selbst noch den Tod des einen, des älteren, zu einem bösen Märchen. Der Kaiser erschrak sehr, als er daran dachte, aber nicht, weil ihm die alte Schauerballade vom brüderlich geteilten und dann mit Hilfe des Todes, also unbrüderlich erbeuteten Namen jetzt noch viel anhaben konnte, sondern weil doch auch der Bruder Charles, auch dieser Hortense-Sohn, ganz widerstandslos und bar der Familientugend starb, an den Masern, sechsundzwanzig Jahre alt. – Wenn sich der Würgegriff lockerte, redete Morny vor sich hin, mit fremder kleiner kindischer Stimme, und was er sprach, war unverständlich. »Morny!«, flüsterte der Kaiser über ihm, »ich bin da, Morny!« Der Bruder sah ihn ja an oder durch ihn hindurch oder garnicht bis zu ihm hin mit seinen hornigen Augen und redete weiter in seiner fremden kindischen Sprache. – »Lieber Bruder«, flüsterte der Kaiser, so nahe seiner Stirn, dass er den sauren Schweiss roch, »mit uns ist es doch nicht so leichtes Tun – das glaubst du doch selber nicht, lieber Bruder …« Morny pfiff ihn schaurig an. Der Kaiser richtete sich auf und sah über einen uralten Herrn hinweg, den er jetzt nicht sehen wollte, auf die Kaiserin hinunter, die vor dem Bett kniete und betete, die fromme Frau, und das Gesicht mit den gefalteten Händen schirmte; man sah nur die Schwarze Schute und den goldenen Haarknoten. – Vielleicht betet sie, dass er nicht widerspenstig sein möge, dachte der Kaiser und schneuzte sich, weil ihm plötzlich die Tränen kamen. Dann ging er hinaus, auf seinen leisen Sohlen, mit seinem knieweichen, eigentlich mühseligen Gang, der jede Erschütterung vermeiden musste, wegen der Krankheit und hier auch wegen des Sterbenden. Die versunkene Kaiserin merkte es nicht, wer ging so lautlos wie er? Der achtzigjährige Graf Flahaut, der Sohn Talleyrands, der Geliebte der Mutter Hortense, der Vater des Vicekaisers, war taub, auch gegen den eigenen Tod, und starrte den sterbenden Sohn an wie einen, den er nicht verstand. Morny pfiff und kratzte mit den blauen Nägeln über die Bettdecke, ganz allein mit sich. Er starb am Ende dieser Nacht.

Dieses Jahr 1865, das in seinen Anfängen den mächtigen und wichtigen Vicekaiser auslöschte, im Wegwerfen auslöschte wie ein Streichholz, liess mit grossen Schritten das Staatsbegräbnis und die allgemeine Trauer um einen besonderen Mann hinter sich und strebte einer europäischen Entscheidung zu, die wichtiger war als die hastige Kapitulation eines dem Anschein nach ungewöhnlich lebendigen Menschen vor dem Tod. Den Eingeweihten mochte es sogar des Raunens wert sein, als sei für den Kaiser der Tod von Monsieur Le Duc, gewiss in geziemendem Abstand von der persönlichen Trauer um einen Verwandten und Kameraden, dennoch eine gewisse Erleichterung; denn war nicht, unter Brüdern, der selige Herr eine von den zwei bekannten Kugeln an den kaiserlichen Beinen, und glauben Sie denn, Hand aufs Herz, verehrte Exzellenz, unser höchster Herr sei von den Gedanken und Taten des Zweithöchsten über die Massen entzückt gewesen, glauben Sie nicht viel eher, dass jetzt, nach dem Tod des immerhin populären, also nachgerade fatalen Erneuerers, die Fahrt auf hübsche leise Kaiserart gebremst wird und sachte wieder in die hübsche leise Tyrannei zurückgeht?

Was wissen denn die Vielwisser und Alleswisser von diesem geheimnisvoll enttäuschten, bedrohten und gramvollen Napoleon? Er geht doch dem Leben nach, der widerspenstige Geliebte der Müdigkeit, er wird ihm nachhumpeln, wenn er noch kränker sein wird, und der Bruder Morny war das Leben gewesen, das blutnächste Leben, das Leben aus dem Widerstand: so konnte man ihm nachgehen oder mit ihm mitgehen, mit der lebendigen Selbstbestätigung, so war die Morny-Idee gut, Kraftfeld zugleich der Zeit und des Ichs, so war auch der politische Widerstand gut, den der Bruder aufrichtete; denn er kam aus dem Körper, aus seinem und des Kaisers Körper, der davon lebte. Das gemeinsame Erbteil der Mutter wird dem Staat einverleibt: auch der Staat sei widerspenstig. Wer es weiss und beweist, dass er stärker ist als das Übel seines Lebens und dass die Lebenskraft mit dem Leid steigt und endlich gar die Krankheit dazu da ist, das Leben zu steigern: der duldet Opposition, auch im Körper des Staates, der braucht sie schliesslich, weil er ihre Treibkraft erkannt hat, – der hat sie nicht zu fürchten.

Aber jetzt? Jetzt ist die Familientugend tot, mit einem Mal, jetzt hat der Kaiser das Leben des Bruders Morny hinter sich, ein kläglich entflohenes Leben, und er ist verlassen. Er hat sich eine Zeitlang sehr gefürchtet. Denn wenn es der Bruder gewesen ist, der blutnächste: was hat ihm der Tote vererbt? die Widerstandslosigkeit; was hat ihm der Flüchtling zurückgelassen? die geduldete, die genährte, lebendige und tödliche Staatsfeindschaft. Aber ist er denn der Bruder gewesen?, fragte er sich bald und tauchte aus der Lebensangst auf, ein wenig nur und schon wieder von ihr überschwemmt, oder nur ein Feind, – das wäre schon besser, das wäre doch schon wieder Widerstand und wirke er auch posthum: feindlicher Bruder wie jener Charles, der ihm fluchend den einen und ungeteilten Namen hinterliess? Er starb mit sechsundzwanzig und hatte nicht die Tugend. Morny starb mit vierundfünfzig: man kann ihm die Tugend abstreiten, man erkenne ihn so wenig an wie Hortense, die nicht einmal seinen Namen wusste, man hat nichts von ihm zu erben; denn man erbte ja ganz allein von der Mutter die eine und ungeteilte Widerspenstigkeit.

 

Es wurde ans Glas der Terrassentür geklopft. Der Sekretär drehte sich um und machte das finistere Pietrigesicht, welches besagte, dass der Kaiser allein zu sein wünschte, immer noch. Ein Adjutant öffnete die Tür auf einen Spalt und sagte etwas, wahrscheinlich etwas Gleichgültiges oder doch nichts Dringliches; denn der Sekretär nickte kurz, schloss die Tür und lehnte sich wieder gegen sie.

Die Biskaya ritt gegen die Klippen, immer kürzer wurde die schwarznäckige Siegsekunde, das weisse Gischt-Netz immer dichter: aber es wird nicht zum Ende kommen; es ist eine Lust, das Unbändige zu sehen. Plötzlich sichelte eine Regenbö über die Bucht, ein mächtiger grausträhniger Vorhang segelte heran, schräg gespannt vom grauen Himmel zum tintigen Wasser des Hintergrundes, in stürmischem Flug nach vorne die Wellenreiter überholend und die Sicht verhängend, schon wurde der gelbe Strand vom Regen gekämmt, aufzuckend unter den Strichen. Der Sekretär lief mit einem Schirm über die Terrasse, der Kaiser kam ihm entgegen, er hatte gerötete Augenlider und Augensäcke und eine rote Nasenspitze. »Das macht frisch, Franceschini«, meinte er heiter. Es gab viele Pietris an wichtiger Stelle, man nannte sie zweckdienlich beim Vornamen.

Sie schritten zur Terrassentür, der Regen trommelte auf den Schirm, der Wind pfiff, die verhängte Biskaya im Rücken donnerte gegen die Klippen. Es war ein solcher Lärm in der Welt, dass Franceschini Pietri die Worte des Kaisers nicht verstand; doch sie waren wohl nicht wichtig und betrafen wahrscheinlich das schlechte Wetter, das Hauptthema dieses Herbstes. Er selber aber, der Sekretär, wollte nun doch verstanden werden und schrie also: »Rouher hat telegraphiert – Bismarck kommt morgen!«

 

Dieser Herbst war so hässlich, dass sich der Hof von Biarritz und in den Villen und Luxushotels die Auserwählten, die dazu gehörten, um alle baskischen Saisonfreuden gebracht sahen. Man konnte weder baden noch im Sand liegen noch am Strand promenieren, zur Chambre d'Amour, jener Legendengrotte, wo die böse Flut zwei Liebende überraschte und sie doch nicht trennen, sondern ihnen nur das Leben nehmen konnte und die Toten in heilig-widerspenstiger Umarmung liegen liess. Nur der Kaiser, in seinem plötzlichen Lufthunger und erstaunlichen Gleichgültigkeit gegen das schlechte Wetter, ging beinahe täglich dorthin, begleitet von Franceschini Pietri, den man bedauern würde, gönnte man dem Gefürchteten nicht die nassen Füsse, hin und wieder auch vom Grafen Goltz, dem preussischen Gesandten, jetzt dem besonderen Freund des Kaisers, einem wetterfesten Mann, eben einem Preussen, und gerade ihm, dem Preussen, entwickelte der Kaiser bei dieser Gelegenheit aus der melancholischen Legende seine etwas trübe Widerstandsphilosophie, sofern ihm nicht der ewige Weststurm den Mund zuhielt. Man konnte nicht zur Atalaya hinauf und auf den engen Port Vieux hinuntersehen, auf das Gewirr der Fischerbarken und das erstarrte Getümmel der Klippen und das ewig gespornte Meer dahinter, im Norden den ewigen Mündungskampf des gelben Adour mit der Biskaya, der selten heitergrünen, zumeist wütend violetten, niemals doch gleichmütig grauen, nach Süden schauend die ungeheure Krümmung bis zur Kantabrischen Küste Spaniens und auf die Himmelsbarre der Pyrenäen. Man spazierte nicht zur lieben Côtes des Basques, wo sich plötzlich eine neue, freiere, süssere Bucht öffnet, im Rücken aber die Gebirgsterrasse grossartig aufspringt, – und hier, zu ihrem Strand, kommen am Sonntag nach Maria Himmelfahrt die schönen Menschen, die Basken, aus ihren Dörfern und Weilern herab, mit Pfeifer, Tambour und Geiger, um zu tanzen und zu baden und wieder zu tanzen, seltsamen Rundtanz und Springtanz mit taktklatschenden Händen und dem baskischen Hahnenschrei, und in langen Reihen, Hand in Hand, mit Sang und Schrei gehen sie ins Wasser, wie gegen den Feind, und wenn die Wellenreiter über sie hin galoppiert sind, müssen sie dastehen, Hand in Hand, in langer Reihe, mit Sang und Schrei, widerspenstig wie ihre stummen Klippenbrüder. Dies auch erzählte der Kaiser dem Preussen Goltz, während eines regengepeitschten Spaziergangs auf der Rue des Falaises, hoch über dem Baskenstrand.

Der hässliche Herbst erlaubte keinen Ausflug ins Gebirge, keine jener wohl vorbereiteten Unternehmungen, die auf die Rhune führten, den kleinen Berg der grossen Sicht übers Meer, übers Land und aufs Gebirge, oder zu den Grotten von Sare, wo man bei Fackellicht und gleichsam zwischen Schmuggler-Requisiten trefflich speiste, von verwegen aussehenden Musikanten, die im Zivilberuf nun tatsächlich Schmuggler sein mochten, sowohl mit baskischen als auch – zu Ehren der höchsten Dame – mit kastilianischen Weisen romantisch unterhalten, dann auch von Tänzern und Tänzerinnen, die im Höhlensaal wie aus der Versenkung auftauchten – und es gab in dieser komplizierten Grottenarchitektur mit ihren wilden Aufstockungen, Durchbrüchen und unheimlich gurgelnden Wildbachkellern szenische Geheimnisse und Überraschungen wie im Märchen oder in der grossen Oper: und wenn man dann Glück hatte, die höchste Dame in ganz spanischer Stimmung war und der Kaiser fehlte, konnten die Auserwählten unter wahrlich malerischen Umständen den choreographischen Höhepunkt, überhaupt die Kulmination der Biarritzer Hofferien vom spanischen Protokoll erleben, – dann tanzte die immer blondere Eugenie mit knatternden Kastagnetten Fandango, sehr schön, sehr kalt, sehr ungefährlich (so urteilte ihr alter Freund Mérimée, Dichter der »Carmen«, der stets dabei war; die anderen aber klatschten hingerissen, oder es war die hallende Grotte, die aus der Akklamation die Begeisterung machte). Ach, und es gab in diesem Herbst nicht die beliebten Lust- und Wallfahrten ins Spanische, nach dem heroisch finsteren Fuentarabbia und dem eleganten San Sebastian, aus dem das Mittelalter mit Hilfe von Kriegen und Bränden recht säuberlich entfernt wurde, – und hierher gehörten die hämischen, aber unterhaltenden Mérimée-Kommentare über topographisch zugehörige historische Figuren wie Johanna die Wahnsinnige oder den grossen ersten Franz, der ebenso zu lieben wie sein magenkranker und höchst wahrscheinlich aus dem Mund riechender Besieger Karl abscheulich sei, und was aus dem Kampf der beiden um die europäische Hegemonie geworden sei, mes dames, das sehen Sie in der angelsächsisch-spanischen Schönheit unserer viellieben, gut österreichisch gesinnten Kaiserin der Franzosen: und Eugenie lachte zu derlei, ein wenig heiser, wie immer. Aber dann ging der Spanienzug noch weiter, das Vergnügen wurde nun zur Wallfahrt oder doch zu einer Reise mit religiösem Ziel, wenn auch durch bequeme Transportmittel, reizende Picknicks und standhaftes Panorama im kurialen Ferienrahmen gehalten, die Fahrstrasse bog bei Zumaya vom Meer ab ins Waldtal der Urola, nach Cestona legt sich der mächtige Itzarraitz wie ein Sperrklotz in die Wegrichtung, – aber hinter dem Berg doch liegt das Kloster von Loyola, das fromme Ziel: und schliesslich konnten Eugenie und die Auserwählten durch die Santa Casa schreiten, um welche das Kloster sich aufbaute; und in jeder der kostbaren Kapellen, die an die Lebensstationen des heiligen Gründers Ignatius, des hier geborenen, mit Macht erinnern, kniete die Kaiserin nieder, fromm und schön und um ein geringes zu geübt, – eine virtuose Beterin, sagte sich Mérimée, der dabei war, aber nicht betete, der Atheist. Und Loyolas Heiliges Haus war die geistliche Attraktion der Biarritzer Kaiserwochen, in jedem Jahr, nur nicht in diesem garstigen Herbst.

Aber der Kaiser verfügte bekanntlich über einen französischen und lebenden Loyola, über eine dennoch schon beinahe historische Gestalt, Persigny, den pensionierten Herzog, – und auch er, wie die ganze grosse Welt, war im regentriefenden und sturmzerzausten Biarritz dieses Herbstes, durchaus nicht zur Freude der Kaiserin, die sich mit dem mattgesetzten Derwisch nicht abfand – sie führte nicht nur Buch über die Dankbaren und Ergebenen, sondern auch, sozusagen auf der Gegenseite, über die Widerspenstigen und Gefährlichen, und sie hatte gute Witterung für beide, die politische Frau – und noch weniger mit seiner skandalösen Lady. Die keusche und kluge Kaiserin duldete in ihrer Umgebung wohl die Frivolität, weil sie gewillt und begabt war, die Zeit mitzumachen, eine lange Zeit, fühlte sie; aber der Lebensgenuss, den sie gestatten musste, ohne ihn teilen zu können, hatte als Kriterium die Anmut, die hübsche Form also; das Formlose indessen, das Zuchtlose des Liebesbedürfnisses, die kalte Unzucht einer Castiglione oder die überhitzte dieser nagelneuen Herzogin durfte sie heftig verurteilen. Und Persigny hatte sich noch immer nicht scheiden lassen, vielleicht weil ihr bekanntester oder doch ihr offizieller Liebhaber, der eleganteste Pariser nach Morny, unstreitig aber der extravaganteste, Haupt des Jockeyklubs, berühmt wie der selige Alfred d'Orsay durch die Rekordzahlen der Duelle, Schneiderrechnungen, Spielverluste, des Kokottenverbrauchs und durch die gewonnene Wette, ganz allein in der Maisondorée fünfhundert Francs für ein Souper auszugeben, ohne sich den ohnehin empfindlichen Magen zu belasten, – weil dieser wilde Verschwender, auch er ein Herzog, doch aus uraltem Haus, kürzlich gestorben war, nicht viel mehr als dreissig Jahre alt, an Lungentuberkulose, vergeudeten Körpers. Die Dame Persigny ging deshalb nicht in sich, so traurig sie war, sie verschwendete sich nunmehr gleichsam aus Pietät für den toten Exzessiven, im Biarritz des hässlichen Herbstes gingen die Einzelheiten dieses Trauerkultes um. Aber der Herzog Persigny, überzählig als Gatte und Staatsmann, bewegte sich dennoch mit dem alten Anspruch und eigentümlicher Sicherheit durch die Gesellschaft und die Zeit, die ihn nicht mehr zu brauchen vorgab: eben als Prophet, ob man es wollte oder nicht. Ja, er habe gewusst, dass es den jungen Prasser und Tunichtgut so bald packen würde, – nun wohl, das hat sich jeder Eingeweihte an den Fingern abzählen können, jeder Kellner, jeder Lakai, der den kleinen Herzog hatte husten hören. Gut, doch er, der Prophet, habe ja auch gewusst, dass Morny sterben würde, zu früh sterben würde. Das hatte er wahrhaftig dem Kaiser gesagt, als er damals aus dem Sterbezimmer schlich, und er hatte gesagt, dass er, der Prophet, die Schwarzseherei dem Herzog Morny im Wahljahr 63 nicht verheimlichte. Und der Kaiser hatte nicht darauf geantwortet, dass der Augenblick für solche Entdeckungen weder taktvoll noch sinnvoll sei oder dass es gerieben scheine, einen Sterbenden als Zeugen für eine Weissagung zu nennen, die sonst ein wenig billig schmeckte, nämlich retrospektiv, – der Kaiser hatte ihn damals nur gefragt, leise und dringlich, sogar ihn an den Schultern leise rüttelnd: »Und ich?« – Der Prophet hatte in das besonders gelbe, verweinte, verstörte und aufgebrachte Gesicht geschaut und geantwortet: »Wir nicht, wir sind aus anderem Holz.« Und der Kaiser hatte diese ungeheuerliche Plural-Hoffart, Beleidigung der Majestät und Mornys, schweigend hingenommen, freundlich schweigend, wie man einen Trost hinnimmt, Loyolas Arm leicht drückend, wie getröstet oder doch für den Zuspruch dankbar. Es kam dann auch, dass die Vielwisser und Alleswisser raunten: der Kaiser, kaum von der Fusskugel Morny befreit, habe sich eilends das vor zwei Jahren so gerne abgeschüttelte Gewicht Persigny wieder zugelegt, man werde die Schleifspur politisch bald erkennen. Aber das geschah ja nicht, der Prophet wurde nicht reaktiviert, auch nicht seine Politik, so viel man bemerken konnte; er kam vielleicht nur etwas häufiger als früher in die Tuilerien und wurde hin und wieder konsultiert, doch eher wie ein Arzt oder wie ein geistlicher Berater. Denn der Kaiser war in diesem Jahr, Mornys Todesjahr, sehr besorgt um sich, auf seine versteckte Art besorgt und recht im Gegensatz zur Gesundheitssorge des Biarritzer Ferienhofes: er machte sich ja nichts aus dem schlechten Wetter.

Er konnte also auch in Biarritz seinen Loyola konsultieren, er hatte es bequemer als Eugenie. Er fragte ihn, noch zerzaust und gerötet von der Luftkur auf der Terrasse: »Was gefällt Ihnen eigentlich so sehr an Herrn von Bismarck, der scheinbar allen hier gefällt.«

»Seine Zukunft«, entgegnete der Prophet, und nur er durfte eine solche Antwort geben.

»Ach Gott«, meinte der Kaiser, doch ohne Ärger, »er kommt morgen. Wir haben es also zunächst mit seiner Gegenwart zu tun.«

»Dieser Mann«, sagte Persigny, »ist augenblicklich der Einzige in Europa, der den intelligenten Mut hat, Richelieu-Politik oder, wenn es zu sagen verstattet ist, Persigny-Politik zu machen, nämlich Aussen- und Innenpolitik mit zweierlei Mass, starr und hart im Innern und bis zum Glücksspiel, bis zum Falschspiel beweglich und wendig und prachtvoll unmoralisch im Äussern, – kurz, ein Mann nach meinem Herzen, kein wurmstichiger Toleranzler, einer, der alt wird, weil er Kämpfer ist, – um unser Axiom von der Widerstandskraft auf ihn anzuwenden.« Der Prophet strich mit dem Handrücken die dunklen Backenbartbüschel auf, die nicht grau wurden, so wenig wie die Biskayawellen. Er war von penetrantem Hochmut.

»An der Anwendung liegt mir gar nicht so sehr viel«, meinte der Kaiser, ohne Ärger, »weil der Herr nämlich preussischer Ministerpräsident ist, lieber Duc. Mir läge an anderem. Ich habe mir, beiläufig übrigens, von meinen Ministern und Geschäftsträgern, vor allem, so weit nicht schon dienstliche Berichte vorliegen, von Gramont aus Wien und Benedetti aus Berlin, aber auch von bestimmten englischen, russischen, italienischen und österreichischen Herren so etwas wie Memorials über ihre letzten und vorletzten Gespräche mit Ihrem Herzensmann eingefordert, bekanntlich einem Gesprächsvirtuosen und Dialogstrategen, – übrigens eine bedenklich undeutsche Begabung, nicht wahr, alter Freund?, wir kennen doch von früher her das Rhein jenseits. Ich besitze jetzt schon ein ganzes Komödienmaterial an Bismarckszenen, von seinem dänischen Auftritt bis zu seiner gestrigen Pariser Generalprobe für Biarritz, die mir Rouher gerade depeschiert und zu der Herr Drouyn de Lhuys bis zum Abend das Supplement zu liefern hat. Ich wollte Sie also bitten, sich erinnern zu wollen, ob vielleicht auch schon vor seiner Ministerpräsidentschaft, also während seines Pariser Provisoriums und Ihrer Innenministerschaft, wo Sie und andere Ihrer Kollegen an dem charmanten Ministerbesucher einen Narren gefressen haben, ein Gespräch zwischen Ihnen beiden stattfand, das mir für meine, sagen wir: dramaturgischen Zwecke nützlich sein könnte.«

Der Prophet drückte je zwei Finger gegen die Schläfen, schloss die Augen und zeigte auf seine eindrückliche Art die Arbeit der Gedanken. Dann liess er die Hände zufrieden sinken und sagte: »Oh ja, Sire, ich kann mich erinnern, auch ohne die Notizen, die leider in Paris liegen. Allerdings: damals war Bismarck mehr Virtuose des Zuhörens als des Sprechens, – ich glaube übrigens, dass das zusammengehört und dass er auch heute noch oder gerade heute mindestens so meisterlich zum Sprechen bringen wie selber sprechen kann. Sie sagten es ja selber, Sire, als Sie ihn einen Dialogstrategen nannten. Damals also war er ein Ministerkandidat, der aus begründetem Interesse einen erfahrenen Innenminister, genauer gesagt, den Mann des autoritären Regimes konsultierte. Und ich hielt ihm ein paar Kollegs über mein Spezialfach. Ich erinnere mich gut. Ich sagte ihm zum Beispiel: haben Sie keine Angst vor der Beamtenhierarchie, halten Sie furchtbare Musterung, scheiden Sie jeden aus, der nicht nach vorgeschriebener Gesinnung riecht; haben Sie keine Angst vor der Presse, zensurieren Sie, verbieten Sie, verbieten Sie; haben Sie keine Angst, die Kammer aufzulösen, zweimal, dreimal, viermal, wenn es sein muss; haben Sie keine Angst vor der Volksvertretung, haben Sie keine Angst vor dem Volk, wenn Sie die bewaffnete Macht intakt und in der Hand haben. Mir scheint, Herr von Bismarck hat gut zugehört. Ich aber sagte es vor den Wahlen des hochseligen Herrn Herzogs Morny.«

»Das hat für mich kein unmittelbares Interesse«, meinte der Kaiser, ohne Ärger. »Nur noch eine Frage zu Ihrer herzhaften Charakteristik des Helden: ist denn ein Glücksspieler, der angeblich auch, wenns drauf ankommt, falsch spielt, ein Kämpfer?«

»Aber ja, aber ja!«, rief der Prophet und hob dramatisch die Hände. »Zuerst korrigiert man doch das Glück und dann erst zwingt man es! Oder ist es eine Scherzfrage gewesen, Sire – wir kennen uns doch seit dreiunddreissig Jahren und damit die selbstverständliche Antwort –, oder ist es eine Anspielung auf das Gegenbeispiel, auf den Morny-Geist, der im Abnehmen allerdings nur korrigieren wollte, nicht mehr kämpfen …«

Der Kaiser unterbrach freundlich, nur seine Finger spielten etwas ungeduldig durch die Luft: »Dann müssten Sie überzeugt sein, dass Bismarck seinen Krieg macht, seinen zweiten Krieg.«

»Welchen Krieg?«

»Den sogenannten Bruderkrieg.«

Der Prophet zeigte das Erstaunen auf seine gleichsam unterstreichende Art, er hob die Augenbrauen, den Kopf, die Schultern, die Arme, und balancierte die Hände, mit den Flächen nach oben, wie zwei Waagschalen. »Aber deshalb kommt er doch!«, rief er, und in seiner Stimme war der Vorwurf wie vor dreissig Jahren, wenn der Auserkorene, der auch Napoleon hiess, fahrlässig die notwendigsten Napoleondaten übersah, »das hängt doch von Eurer Majestät ab!«

Jetzt erst zeigte der Kaiser eine Bewegung der Ungeduld oder sogar des Unwillens. Franceschini Pietri kam mit der umfangreichen, bereits dechiffrierten Rouher-Depesche und sah den pensionierten Herzog bissig an. Der Kaiser setzte sich und las, machte schon ein böses Gesicht und setzte an den Rand ein dickes Ausrufungszeichen. Das war die Gesprächsstelle, wo Minister Rouher dem Grafen Bismarck versicherte, der Kaiser habe das höchst abfällige, bekanntlich durch eine fatale Indiskretion in der belgischen Presse veröffentlichte Zirkular seines Aussenministers über die frische Gasteiner Konvention zwischen Preussen und Österreich gekannt und gebilligt. Der Kaiser las weiter, mit dem goldenen Crayon dies und jenes anstreichend oder leicht aufs Papier klopfend. Loyola war im Augenblick überflüssig, aber er merkte es nicht in seiner besonderen Hoffart.

Hatte der Prophet, der so vieles zu wissen vorgab, was zwar nicht zu beweisen, aber auch nicht zu leugnen war, so Unheimliches wie den Tod und seine rechthaberische und geradezu rachsüchtige Auswahl – gerade jenen treffend und gerade diesem, weil er aus anderem Holz war, beiliebe noch nicht nahend, noch lange nicht –: hatte der Prophet denn auch die Cholera vorausgesehen, die sich gegen alle Wahrscheinlichkeit und als ein Hohn auf den sanitären Sinn des grossen Glücksaufwandes von Marseille aus ins Reich schlich und mit mächtigen Sätzen in die Hauptstadt sprang? Doch davon sprach man nicht in Biarritz, – und es war doch die Cholera, die den hässlichen Herbst von Biarritz sehr erträglich machte und bei keinem der Auserwählten den Wunsch aufkommen liess, die langen Ferien abzukürzen; und der Herzog Persigny gehörte ja zur Hofgesellschaft. So blieben sie alle beisammen, die Krone, die Würdenträger und Granden des neuen Reichs, auch sehr vornehme Namen aus der Zeit der weissen Lilie, wohl aufgenommene Krönchen mit sieben Zacken, mit neun Zacken, nicht einmal mehr Renegaten, und dann die vielen noblen Russen und das ganze diplomatische Korps. Man verzichtete notgedrungen auf die Aussenfreuden von Biarritz; aber man hatte die Cholera in siebenhundert Kilometer Entfernung und man hatte die Innenfreuden wie in Paris: Tees, Diners, Bälle, Amouren, Klatsch und Politik. Man hatte eine gewisse Zeit über die bevorstehende Hochzeit einer Prinzessin Murat mit einem Herzog Mouchy zu reden, ein gelinde aufregendes Ereignis, weil es sich ja um die Hochzeit des neuen mit dem alten Glück handelte, also um die endgültige Anerkennung der Heraufgekommenen oder, anders gesagt, um die gesellschaftliche Kapitulation der Blaublütler. Man hatte dann eine herzbewegende Sensation: die Kaiserin besucht das sterbenskranke Kindchen eines sehr bekannten Publizisten der Opposition, eines Staatsstreichverbannten sogar, und das Kind hatte Scharlach-Diphterie. Hier hatte man zwei Tugenden der hohen Frau bewundernd zu besprechen: ihre Grossmut gegen einen Feind, – und sie war sonst gegen Feinde nicht grossmütig, ob sie unglücklich waren oder nicht; und dann ihren grossen Mut gegenüber der Ansteckungsgefahr: ein Beweis, dass sie, die Fee der Spitäler, sich auch vor den Cholera-Baracken nicht gefürchtet hätte, wäre sie in Paris. Aber mit dem Leben des Kindchens erlosch doch, wenn auch langsamer, die Freude an der rührenden Anekdote, der Herbst blieb abscheulich, der Weg nach Hause durch das grosse Übel versperrt, was nun? – Ja, der König der Belgier stirbt, ein bösartiges Jahr; aber der belgische Gesandte fährt nicht nach Brüssel, sondern ist in Biarritz, scheinbar bepackt mit einer noch grösseren Sorge, und seht, im Hauptquartier der internationalen Diplomatie, im Hotel d'Angleterre, geht es immer lebhafter zu, das heisst: immer geheimnisvoller, immer geschäftiger, – was will man mehr von Biarritz und diesem angeblich vertanen Herbst, wenn jetzt und hier grosse Politik gemacht wird?

Denn Bismarck kommt, der berühmte oder berüchtigte, auf jeden Fall höchst interessante und aktuelle Mann, er kommt in diesem Jahr nicht allein und inoffiziell, um mit jener schönen russischen Aristokratin, der ritterlich verehrten, die beliebten Spaziergänge zu machen oder am Strand zu liegen oder ihr zuzuhören, wenn sie Beethoven spielt: er kommt mit Frau und Tochter, um die Mission sozusagen in familiäre Watte zu packen; aber die Welt von Biarritz, die Elite der Vielwisser und Alleswisser, lässt sich nicht einwickeln. Bismarck kommt als politische Sensation, und nun ist die Zeit ausgefüllt, die eben noch langen und leeren Stunden sind plötzlich bis an den Rand voll von den vielen Antworten auf die grosse Frage, warum er kommt und was er will und was nun wird aus Europa. Man ist ja in Biarritz zur Zeit germanophil und prussophil, schon weil dieser hochaktuelle und immerhin erfolgreiche Bismarck kommt – ob ein grosser Mann, ist noch nicht erwiesen, ob ein gefährlicher Mann, sei dahingestellt; aber bekanntlich ein Mann von Geist und zur Stunde der meistgenannte –, man ist es auch, weil man sich mit Vergnügen an den Roi de Prusse erinnert, der im vorigen Jahr in Paris zu sehen war, ein grossartig aussehender und vollkommener Edelmann, und man schätzt immer mehr die Saisons in Baden-Baden, Wiesbaden und Ems. Nun ja, man ist auch austrophil und anglophil und sowohl russophil als auch den noblen Polen zugetan. Man hasst in Biarritz überhaupt kein Volk und kann es sich leisten; denn der höchste Herr, der eigenartig lufthungrige und wetterfeste, ist ja immer noch der Schiedsrichter der Welt, wie es sich wieder einmal zeigt. Und dass es dieses Mal kein heimlich-unheimliches Plombières ist, sondern Biarritz, die erlesenste Bühne, mit dem besten Publikum, macht die angesagte Weltpolitik schon deshalb zu einem Ereignis, weil kein Mensch weiss, ob die schönste Kaiserin in der Loge sein wird oder bei den Protagonisten. Der hässliche Herbst bekommt seinen schönsten Inhalt. Bismarck kommt. Biarritz lauert.

Der Kaiser schob den Rouher-Bericht fort und hob den Kopf. Der Prophet war noch immer da. Er trug so zarte und helle Beinkleider, dass es selbst einen gutmütigeren Oktober als diesen, der Graupeln gegen die Fensterscheiben schoss und im Kamin jaulte, hätte reizen müssen, – dazu einen heftig karierten sommerfröhlichen Rock. Er schaute scharf und wichtig den Kaiser an, er merkte nicht, dass er schon geraume Zeit überflüssig war. »So«, meinte Napoleon nachsichtig, »jetzt noch das Protokoll vom Quai d'Orsay: dann bin ich komplett, dann kann er kommen.«

Der Herzog Persigny knallte mit den Lippen und sagte: »Ich erlaube mir, diese Vorbereitung ein wenig ausschweifend zu finden, im Verhältnis zur leicht übersehbaren Situation, die doch von Eurer Majestät abhängt, von einer ganz knappen Entscheidung, einem Ja oder Nein.« Wer hatte ihn gefragt? Der Kaiser rauchte schweigend und liess die Augenlider hängen. Loyola wechselte das Standbein. »Das Ja oder Nein hängt von einer ebenso knappen Frage ab: würde Österreich oder Preussen siegen? Man setzt bekanntlich auf Österreich. Wüsste man es sicher, so könnte man Ja sagen. Es ist die klassische Art, einen präsumtiven Gegner durch einen Dritten zu Fall zu bringen und dann dem Geschwächten und Ungefährlichen die Freundeshand zu reichen.«

Der Kaiser blies den Rauch fort und fragte etwas sehr Sonderbares: »Ich wollte immer schon wissen, lieber Persigny, ob Sie auch die Cholera für eine Folge der Morny-Wahlen halten oder für ein Gottes-Gericht über das liberale Sodom.«

»Möglicherweise«, antwortete der Prophet voll bösen Hochmuts; »aber ich bin im Gegensatz zur allgemeinen Meinung der Ansicht, dass Preussen siegen würde, nicht Österreich. Ich würde an Stelle Eurer Majestät dem Herrn von Bismarck klipp und klar Nein sagen, ich würde ihm den Bruderkrieg verbieten.«

Der Kaiser klopfte mit dem Crayon auf den Tisch und sagte scharf: »Und ich sage Ihnen, lieber Freund, die Cholera ist nur eine Gottesprüfung unserer Widerspenstigkeit, und das Übel weicht schon zurück!«

Der Prophet verbeugte sich kurz und sprach: »Eure Majestät machen mir Freude!« Wer hatte ihn danach gefragt? – Dann ging er endlich. Der Kaiser schaute nervös zum Fenster. Er schien zu überlegen, ob er es öffnen sollte. Aber der ewige Weststurm hätte die Graupeln ins Zimmer gejagt.


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