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Das Heft war blutrot. Da es hastig und billig hergestellt war, dieser Mai 1868 ein schöner und warmer Mai war und der Lesende zudem auch sehr rasch von innen her sich erhitzte, färbte der Umschlag ab. Einige Leserinnen, mit dem Inhalt durchaus zufrieden, beschwerten sich doch, dass ihre weissen oder perlgrauen oder beigefarbigen Handschuhe rote Flecke bekommen hatten. Es gehörten also auch die süssen Siegerinnen des Weltausstellungsjahres zu den Leserinnen. Der Autor und Herausgeber antwortete in der folgenden Nummer auf das galanteste: er werde zum Schutz der zarten Handschuhe gewisse technische Massnahmen treffen; aber das Heft müsse rot bleiben, blutrot: diese Einsicht müsse auch vom empfindlichsten Glacéleder erwartet werden. Morny, siebzehn Jahre früher noch Graf, noch nicht Vicekaiser, aber verruchter Innenminister und Generalprovokateur des Staatsstreiches, hatte zum schaudernden Bruder Cäsar gesagt, am Tag des pünktlich angesetzten blutigen Ernstes: dass man sich gewiss Handschuhe anziehen dürfe, wenn man Revolution macht; aber die Handschuhe, es ist nun einmal so, verhindern nicht, dass Blut an die Finger kommt und ein wenig auch unter die Nägel. Diese Parabel vom Handschuh kannte der Autor nicht, sonst hätte er sie als Antwort auf die Beschwerde gebracht. Aber er kannte anderes, er wusste genug, er hatte genug zum Heimleuchten und Heimzahlen. Zunächst allerdings handelte es sich nicht um Blut, sondern nur um seine Farbe, um rotes Anstreichen der Staatsfehler, um blutrote Züchtigung der Staatssünden, um den blutigen Witz, – um das rote Gespenst schliesslich. Es wird nichts vergessen werden.
Das Format des Heftes war Kleinoktav, man konnte es nötigenfalls in der Handfläche verbergen, es war Konterbanden-Grösse, Schmuggelformat der Emigrantenschriften. Doch dies war die Koketterie der Keckheit; denn hier wurde ja nicht geschmuggelt, hier geschah im Gegenteil alles so öffentlich wie möglich, übrigens auch ohne rechtes Risiko. Denn am 11. Mai war das neue Pressegesetz, das die Publikationen vom Zensurmaulkorb gänzlich befreite, in Kraft getreten, und zwanzig Tage später erschien die erste Nummer der »Laterne«. Nur die Farbe war wie Blut, und nur das Format erinnerte an Mut und Gefahr des Ungesetzlichen: dem Witz diente auch dies, selbst der kaiserliche Fünf-Centimes-Stempel, mit dem das Heft geschmückt und mit welchem Betrag das Recht erkauft war, alle Embleme des Stempels und des Staates, Adler und Justitia, zu beleuchten, zu lästern und zu hängen.
Im Rot schwamm der Titel mit riesigen und flammenden Lettern, darunter hing die Laterne, die offen war, damit man sehen konnte, dass sie brannte; daneben, in der Flammenschrift, die zugleich doch auch der Handschrift des Autors ähnelte, stand der Name: Henri Rochefort. Man sollte aber noch mehr sehn, auf den ersten Blick. Seht nur, wie die Laterne unter dem Titel » Lanterne« hing: an einem Strick, am Galgenstrick, und des Strickes Ende schlang sich um das N, und bevor er sich in den Laternenring hakte, legte er sich um den Querschenkel des L, dass er eine Stütze habe, und das L nun war geformt und geschärft wie das Schrägmesser der Guillotine. Dies auf den ersten Blick.
An diesem ersten Laternensamstag ging Rochefort mit Lucile, jetzt dreizehnjährig, spazieren. Die Wahrheit zu sagen, geschah es nicht allein, um der Tochter und damit auch sich eine Freude zu machen, – nein, es war nicht wegen Lucile, sondern wegen der Laterne, und das Kind diente gar dazu, durch seine anmutige und vertraute Nähe das Lampenfieber zu beschwichtigen, Lampenfieber um die Laterne: das ist ein Wortspiel, das keinesfalls verwendet werden kann, – und dass man nun so tut, als ginge man mit seinem Töchterchen spazieren, um den schönen Tag zu geniessen, an der Madeleine Maiglöckchen und bei Boissier eine Tafel Schokolade zu kaufen, dass man in Wahrheit aber den grossen Boulevards zustrebt, genauer gesagt, den Zeitungskiosken, um nach den roten Heften zu schauen: dies nun war nicht pamphletarisch. Rochefort hatte Lampenfieber und er dachte nicht daran, dass er als Theaterkritiker gerne über die Autoren lächelte, die im Hintergrund der Direktionsloge das weisse Gesicht versteckten, – er hatte den Kopf voll, und Luciles Gezwitscher blieb draussen und fern wie der Strassenlärm der glücklichen Stadt.
Einzelgänger zu sein oder, wie es auf Seite 1 heisst: so etwas wie ein Kavalier allein im politischen Kotillon, oder, wie es vielleicht am richtigsten lautete: Clown ganz allein in der Manege, – es war gewagt, – nicht wegen dieses Staates, dem man ja den Fünf-Centimes-Stempel pro Heft zahlt, sondern wegen der Käufer. – Der erste Satz sei wichtig, hatte der Chefredakteur gesagt. Der erste Satz lautet: »Frankreich enthält, laut ›Kaiserlichem Almanach‹, sechsunddreissig Millionen ›sujets‹, ungerechnet die ›sujets› der Unzufriedenheit.« Ist das gut, scharf, vielversprechend? Ist die Einleitung gut, die Hohn und Spott über den Innenminister giesst, nicht mehr den Gentleman, den man der Eugenie und den Klerikalen geopfert hat, sondern ein Männchen, winzig wie Thiers, doch stupid – natürlich ein früherer Staatsanwalt –, Hohn und Spott, weil er vor dem neuen Pressegesetz die Publikationserlaubnis für die »Laterne« versagt hat? Aber wie sollte ein Minister dem berüchtigtsten Journalisten, dessen Ausscheiden aus der Zeitungsredaktion er erzwungen hat, ein eigenes Publikationsorgan zugestehen können? Und war die Verbotsironisierung nicht gerechterweise das Lob auf das neue Pressegesetz, das die Laterne nun doch zum Brennen brachte? O nein, auch das Pressegesetz wird gelästert, und nicht genug der Witze gibt es über die fünf Centimes, die alles erlauben. – Wie sagte der Chefredakteur? »Pamphletist ist keine Schmeichelei.«
Lucile stiess den Vater mit dem spitzen, kleinen Ellbogen an und zwitscherte: »Laterne!''
Ja, ein dicker Mann bog um die Ecke, in der roten Pranke das rote Heftchen, im Mundwinkel wackelte die ausgebrannte Maryland, so lachte er. – Gut, dicke Leute lachen gerne und sind auch, wenn man auf derlei Wert legt, von erfreulicher Vorbedeutung. Nur die bäuchigen Greise des Senats, verstockt im Fett ihrer Unwichtigkeit, lachen nicht, trotz der dreissigtausend Francs nebenbei. Der Senat des Kaiserreichs oder die Shakespeare-Lüge: das wird gebracht. –
Vierzig Centimes pro Heft und eine Auflage von fünfzehntausend! Der Autor hatte die Hälfte schon für zu hoch befunden; aber der Chefredakteur hatte dies gesagt: »Zwanzig Centimes decken ein wenig mehr als die Unkosten, das verlohnt sich nicht. Wer über den entfesselten Rochefort lachen will und sich auf Unverschämtheiten freut, zahlt gerne vierzig Centimes, sogar fünfzig. Und es gibt, zumal nach der Propaganda von meinen Gnaden, fünfzehntausend Menschen, die es zahlen werden.« Wird er recht behalten, der kundige Mann, und hat er nicht selber nach der Lektüre des ersten Heftmanuskripts geurteilt: »Sie haben schon besseres geschrieben, Herr Graf. Aber vielleicht kann man nicht besser schreiben, wenn man die Dinge nicht mehr beim lasziven, sondern beim nackten Namen nennt.« – Wird man lachen? Wird man kaufen?
»Laterne! Laterne!«, rief Lucile aufgeregt und glücklich, »lauter Laternen!«
Sie gingen über den Börsenplatz, und hier begann das Wunder. Ein Menschenknäuel umstand einen unsichtbaren Mittelpunkt, man konnte an einen Unfall denken, an den überfahrenen Boulevardhund, von dem der Figaro bekanntlich eine ganze Weltanschauung abgeleitet hatte. Aber nein, der Knäuel war in besonderer und fortwährender Bewegung, es war ein Geschiebe von innen nach aussen und von aussen nach innen, die Hineindrängenden hatten verbissene Gesichter, die Herausquellenden aber bliesen genüsslich die Backen auf oder lachten schon in der Erwartung, und sie trugen in der Hand das Rote, das sie erobert hatten. Die Laterne! Die Laterne! In der Mitte aber zeterte ein Weib, die Kolporteurin, überfallen und ausgeraubt, sie deckte mit Arm und Bein und Bauch die Kiepe, in der die Hefte lagen, vor den Zugriffen, und es fehlten ihr ganz und gar die Hände, um den Regen der Soustücke aufzufangen: so schnappte sie nach ihnen und nach allen mit dem zahnlosen und zeternden Mund.
Sie lesen im Stehen, im Gehen, auf den Bänken, gelehnt an die mailichen Bäume, sie lachen oder schmunzeln oder zeigen doch die Zähne. O ja, da habt ihr die Dinge nackt, die Feinde nackt. Da habt ihr die mustergültigen Feinde, die immer wiederkehren werden, verlasst euch drauf: den Rouher mit der mexikanischen Folie und seiner neusten autoritären Arie, der neuste Jünger des Herzogs de Persigny – achtet auf das »de«, »de« Persigny gehört zu den Ausgezogenen –, Rouher mit dem Tenorbauch, sein Morny liegt schon weit zurück; aber ihr werdet auch ihn wiedersehen, sowohl als Staatsstreichbruder wie als Saint Remy, kein Dezembrist bleibt im Dunkeln; denn der Staatsstreich ist der Pfahl der Laterne; da habt ihr im innigsten Zusammenhang den Namen Jecker, es sei euch allerlei versprochen mit Hinblick auf den Namen Jecker, und der Laternenherold ist ein Duodez-Staatsanwalt als Innenminister, der alles verbietet und verurteilt, aber für fünf Centimes alles erlauben muss: doch für wie lange, lieber Leser?, denn die fünf Centimes werden weidlich ausgenutzt, wie ihr schon jetzt zu bemerken scheint; da habt ihr den Klerus in der Gestalt unseres besonderen Freundes, des elegantesten Abbé Bauer, Hofprediger und Löwen der Gesellschaft, spät, sehr spät getauft, aber dafür mit dem grössten Erfolg, man möchte aus seiner süssen Suada schwerlich das Ungarische heraushören. »Wäre ich der Abbé Bauer, so schleppte ich zum nächsten Ball der österreichischen oder russischen Botschaft einen Moribundus unter meinem Arm mit und gäbe ihm zwischen zwei Kontertänzen die letzte Ölung.« Das lest ihr gerade; denn ihr schlagt euch lachend auf den Schenkel.
Doch wer von den Lesenden mitten auf dem Fahrdamm stehenbleibt, mit offenem Mund, und die Augen aufreisst, um die winzige Seite zu verschlingen, sie jetzt noch einmal liest, langsamer, mit zuckenden Lippen, und dann endlich lacht: der ist auf Seite 21. Denn dort steht das bonapartistische Glaubensbekenntnis des Henri Rochefort, Glanzstück des ersten Heftes. »Ich bin Bonapartist, aus der Tiefe des Herzens. Aber ich darf mir meinen Helden aus der Dynastie auswählen, das ist mein gutes Recht. Ich bevorzuge Napoleon II. Das ist mein gutes Recht. Er stellt für mich das Ideal des Souveräns dar. Niemand wird leugnen, dass er einmal den Thron eingenommen hat; denn sein Nachfolger nennt sich Napoleon III. Was für eine Regierung, meine Freunde, was für eine Regierung! Nicht eine Kontribution, keine unnützen Kriege mit Steuerzuschlägen hinterher, keine Fernexpeditionen von sechshundert Millionen Kosten, keine Zivilliste, die uns auffrisst, keine Minister mit fünf oder sechs Funktionen, hunderttausend Francs das Stück: da habt ihr den Monarchen, so wie ich ihn meine. Ja, Napoleon III., dich liebe ich, dich bewundere ich schrankenlos … Und wer wagt jetzt noch zu behaupten, ich sei kein Bonapartist?«
Lucile zwitschert: »Laternen! Laternen! Es gibt überhaupt nur noch Menschen mit Laternen!«
Die Zeitungskioske sind belagert, die Hefte flattern wie rote Vögel zwischen den Köpfen und den greifenden Händen, schon gehen die Vorräte aus, die Käufer werden nicht weniger, und doch trägt schon jedermann den roten Fleck in der Hand, wo du auch hinsiehst. Rochefort ist bleich, vor seinen Augen tanzen rote Flecke – aber das Kind Lucile sieht sie doch auch! –, er nimmt einen Fiaker, das ist eine grosse Freude für Lucile. Die Fahrt ist kurz, und an der Ecke der Coquillière müssen sie aussteigen; denn die kleine Rue Coq Héron – Nummer 5: die Druckerei sowohl des »Figaro« als auch der »Laterne« – ist mit Menschen und Karren verstopft, mit Zeitungshändlern, Kolporteuren, Austrägern, Boten von Buchhandlungen, Grossisten, Zeitschriftsortimentern, Kiosken, – und hier lacht keiner, hier schimpfen sie alle: was für eine Wirtschaft!, das nennt man Auslieferung!, fünfhundert Exemplare!, tausend, dreitausend! – Vater und Tochter drängen sich durch den Eingang und kämpfen sich die Treppe hinauf, oben steht im Kampfgetümmel Monsieur Dubuisson, der Drucker, verteilt, verspricht, schwört und flucht – Lucile freut sich – und dann sieht er Henri Rochefort. »Sie sind mir ein Herausgeber!«, schreit er, im Getümmel, »Sie und fünfzehntausend! Jetzt stehen wir bei vierzigtausend oder fünfundvierzig, und ich schaffe es nicht, ich habe keine Hefterinnen, ich treibe im ganzen Viertel keine mehr auf, machen Sie sich nützlich, Herr Rochefort, treiben Sie Mädchen auf, – wir stehen bei fünfzigtausend, Rochefort!«
Rochefort kehrte um, er kam nicht zum Sprechen, er wollte auch nicht sprechen, auf der Place des Victoires fand er einen Wagen, sie fuhren von einer Buchbinderei zur anderen und schickten Hefterinnen in die Rue Coq Héron 5. Es war ein grosses Vergnügen für Lucile. Am Abend erreichte die Auflage der »Laterne« das hundertzwanzigste Tausend.
»Das ist schlimm«, sagte der Kaiser, »so schlimm wie Mexiko.«
»Die das lesen, verachten es«, sagte Eugenie.
»Ach Gott«, lächelte der Kaiser, »man hängt sich zum Beispiel auch mit besonderer Vorliebe an verächtliche Frauen und man wird oft schlecht durch sie.«
»Man erzählt mir, schon Morny habe vor ihm gewarnt.«
»Nicht mich, und Persigny behauptet nun, er habe ihn schon Anno 63 einsperren wollen; aber der Prophet weissagt, je älter er wird, immer mehr in die Vergangenheit.«
»Nun, lieber Freund, ich bin keine Verehrerin Persignys: aber ist etwa die »Laterne« keine Folge der neuen Freiheit?«
»Nein«, sagte der Kaiser müde, »der alten Unfreiheit. Der Schmutz soll sich abschwemmen, vor aller Augen, vielleicht kommt dann das klare Wasser oder doch die Sehnsucht danach. Das genügte schon.«
Der Chefredakteur las die Korrekturen des zweiten Heftes. »Pfui Teufel«, urteilte er, »ich gratuliere, Sie haben sich eingeschrieben, Sie neuer Désiré des Volkes, das nenne ich Mut, – oder wie soll ich das nennen?« Er betrachtete den Laternenmann. Der berühmte Rochefort, der in einer Woche vierzigtausend Francs verdient hat, sah nicht besonders glücklich aus.
»Schmutz«, antwortete er, »alles ist schmutzig. Auch das steht drin.«
Auch das stand drin, eine schaurige Seite, wie kann man darüber lachen?, eine Seite über die wahnsinnige Charlotte in Laeken, sie schreit immerzu: »Alles schmutzig, mein Gott, alles schmutzig! Sauber machen! Sauber machen!« – Er sei kein Irrenarzt, versichert dazu der Mann der Laterne, aber wenn die Frau des Füsilierten schreie, dass alles schmutzig sei und die grosse Reinigung vonnöten, dann dünke es ihn, Rochefort, dass wir in ganz Europa keine so hellsichtige Fürstin haben. – Nein, das war nicht zum Lachen, eher zum Weinen oder auch, dass man ausspeie, – vor wem? Da sind wieder die Troubadours des Mexikozuges und des Staatsstreiches, Spekulanten, Glücksritter und Selbstanfertiger ihrer Adelsdiplome, ja, da ist schon wieder jener grossmächtige Herzog, der noch vor dem Pairsgericht von 1840 als ein ganz anderer dastand, als ein Herr Fialin oder so ähnlich, Husarenkorporal a. D., – oder ist das pure Erfindung, Herr »de« Persigny? Ausspeien vor wem?
Wie kommt es nur, fragt sich der Mann der Laterne – auch dies steht drin, die Entdeckung einer verwunderlichen Ungerechtigkeit der Geschichte –, wie kommt es nur, dass in der offiziellen Sphäre, in allen Schulbüchern, selbst noch in Leierkastenliedern, immer und immer von der Königin Hortense die Rede ist, niemals aber, auch nicht aus dem Mund der bestbezahlten Ergebenheitsdichter, ein freundliches Wort für ihren Gemahl fällt, für Louis, Roi d'Hollande? Man kann die Frage hin und her wenden, der Fragesteller tut es auch mit Sorgfalt und Bedacht: er kommt zu keiner klaren Antwort, – es muss da etwas dran sein oder etwas dahinter stecken, das auch dem durchdringendsten Verstand entgeht. – Ihr lacht?
Hundertfünfzigtausend Menschen kaufen die Laterne Nummer Zwei. Wenn man annimmt, dass jede gekaufte Laterne durch fünf Hände geht, und bedenkt, dass die Glücksstadt im Weltausstellungsjahr rund eine Million achthunderttausend Einwohner zählte, so müsste jeder dritte Mensch in Paris die Laterne Nummer Zwei gelesen haben. Das ist das neuste Glück der grossen Zahl: Rochefort, der meistgenannte Name von Paris, sieht nicht so aus, als ob es ihn beselige.
»Zuviel Schmutz«, sagte der Kaiser zum Polizeipräsidenten Pietri, »räumt es wenigstens von der Strasse weg.«
Der Strassenverkauf wird verboten. Endlich sah man Rochefort fröhlich: als ihm der Polizeikommissar sehr höflich und sogar etwas verlegen – denn man hat es mit einem berühmten Mann zu tun – das amtliche Schriftstück auf den Tisch legte. Warum freut sich der Mann der Laterne, – hat er sich denn geschämt, dass sich dieser Staat widerstandslos anfallen liess, mit »Keule und Stilett«, wie es naserümpfend der Edeldemokrat des Kaiserreichs, Prévost-Paradol, in seinem noblen Blatt vermerkte? »Unser neuer Désiré«, sagt der Chefredakteur, »scheint auf ein nettes kleines Märtyrertum aus zu sein, was zu erreichen aber garnicht so einfach ist: er frage nur den kleinen Thiers oder den alten Désiré.« Man bemerkte, dass die Laternenkommentare des Figaro anfingen, säuerlich zu werden.
Der Autor machte aus dem Strassenverkaufsverbot seiner Wochenschrift das Glanzstück des dritten Heftes; denn es erhebe sich nun die Frage, warum das Verbot erfolgt sei, – wegen Verbreitung von Lüge und Verleumdung in Wort und Schrift? Wo steht eine Unwahrheit, – hält Herr Rouher nicht Mexiko für den grössten Gedanken des Reichs (nicht des Reiches des Füsilierten, versteht sich), hiess Herr »de« Persigny nicht vor den Pairs ganz einfach Fialin oder so ähnlich, ist die Königin Hortense nicht beliebter als ihr fraglos im Hintergrund stehender und schon bei Lebzeiten wenig frequentierter Gemahl Louis, Roi d'Hollande, kann man dem Autor oder irgend einem andern der zahllosen zeitgenössischen Bonapartisten verbieten, sich unter den drei Nummern der Dynastie die Nummer Zwei als Devotionalium zu erwählen? Wo ist die Lüge? Oder sollte gar der Staat die Wahrheit nicht vertragen können und deshalb auf Mittel sinnen, um die gewaltige Verbreitung der Laterne einzudämmen? So haben wir also, meine Freunde, eine neue Topographie der guten Stadt Paris: die eine Seite des Trottoirs, dort, wo Kioske und Zeitungsstände sind, gehört dem Staat und ist laternenlos, wahrheitslos, dunkel; die andere Seite aber, die mit den Läden, gehört der Wahrheit und ist hell. Denn in den Läden, meine Freunde, findet ihr die Laterne. Dieser Staat selber stellt euch vor die Wahl zwischen Licht und Schatten. Was für ein nachtsüchtiger Staat, der sich selber in den Schatten stellt, – was für ein lichtscheuer Staat! Im nächsten Jahr sind die Wahlen …
Jeden Sonnabend fielen hundertfünfzigtausend Laternen über die Stadt, ein Funkenregen. Es gab ja viel mehr Läden als Zeitungsstände, und wenn keine Buchhandlung und kein Papiergeschäft in der Nähe war, so verkaufte der Krämer das rote Heft. Die Woche hat sieben Tage, und in jeder Laterne wird über jeden Wochentag säuberlich Buch geführt, von Sonnabend bis Freitag. Aber es ist doch kein Tagebuch, sondern die Abrechnung, die Ableuchtung der zwei kaiserlichen Jahrzehnte, seines dunklen und bösen Beginns zumal, seiner Kriege, seiner Expeditionen, seiner Justiz, seiner Verwaltung, seiner Moral, seiner führenden Personen, es wird nichts vergessen, und zwischen jedem bösen Memorandum steht im Text ein winziges Laternchen, es wird alles erhellt, zwischen zwei Laternchen stehen auch Witze, gute und schlechte, immer politische, immer böse, und es sind auch kleine tägliche Dramen zu lesen – Näherinnen, die sich umbringen, weil sie mit der Arbeit nur fünfzig Centimes täglich verdienen und doch nicht auf die Strasse gehen wollten; Studenten, die mit einem Säbelhieb über dem Kopf im Hôtel Dieu liegen, weil sie die Freiheit haben leben lassen; Sammlungen für Familien politischer Gefangener –, es sind auch, als Kontrapunkt des Imperialismus, viele Zitate aus der Hamer Schriftstellerzeit des Staatsgefangenen Louis Napoleon zu lesen, vornehmlich aus der »Ausrottung der Armut«, die Laternchen springen auch böse mit dem lieben Gott um, wohl weil er den Kaiser besonders liebt oder weil es Ihn, den Herrn, doch garnicht gibt, dafür aber den Kaiser, der nicht wegzuleugnen ist, – böser noch mit der Kirche und ihrer Hierarchie, von Pio Nono bis zum Abbé Bauer, und plötzlich auch springen die Laternchen weit hinter den Staatsstreich zurück und sengen die grosse Legende an, die des männermordenden Kriegsgottes, dessen Signum noch gilt: das staatsheilige, heillose N. – Was bleibt euch noch?
Was bleibt ihm noch zu fressen, unserem Rochefort? Nun leben auch schon die Karikaturisten von ihm, nicht nur die Photographen, die sein Bild in jeden Laternenladen hängen, auch zum Krämer. Die Zeichnung, die im August die Auflage eines ziemlich obskuren Witzblattes verzehnfacht, zeigt seinen übertriebenen Kopf mit der Beulenstirn, dem schwarzen Qualm der Haare, Stichflämmchen der Brauen über den Menschenfresseraugen und schnaubenden Nüstern, der Rachen, mit Raubtierzähnen bestückt, ist weit aufgerissen, – und auf der Gabel, die die Knochenhand zum Munde führt, steckt wieder der Rochefortkopf, nicht grösser doch als das bereite Maul, ein klein wenig erschrocken auch:
»... Und in seiner letzten Wut
Frisst er sich selber – schmeckt es gut?«
Wenn man ein Gesicht hat wie Rochefort, Laternen-Gesicht, Fackel-Gesicht, das aus der Masse lodert, einleuchtend und unvergesslich wie ein Bilderbuchgesicht vom bösen Mann, ist der Ruhm eine Geissel. Die Liebes-, Lob- und Drohbriefe, die täglich zu Hunderten ankommen, liest der Sekretär; aber der Laternen-Rochefort kann sein Gesicht nicht auslöschen und nicht verhängen, wenn er seine Wohnung oder die Redaktion verlässt. Was ist das für ein Leben, von jedem dritten Menschen erkannt zu werden – Rochefort! –, angestarrt, umstanden, verfolgt zu werden – Rochefort! Rochefort! –, der Ober von Brébant vermietet rings um Rocheforts Stammplatz die Tische an Neugierige, die Studenten aber, kleine Laternen an der Uhrkette oder im Knopfloch, salutierten mit den Stöcken, wenn sie ihn sahen, oder formierten gar im Fluge eine Ehreneskorte und schrien: »Hoch Rochefort! Hoch die Laterne!« Aber Rochefort war doch ein scheuer Mensch!
»Ich erinnere mich«, sprach der säuerliche Figaro, »ans Jahr Achtundvierzig, wo auch plötzlich Blechstückchen in die Knopflöcher und an die Hüte flogen; damals war es allerdings ein Adler, auf der Rückseite den Désiré. Der aber war als kluger Mann noch in der angenehmen Emigration zu London.«
In Heft Zwölf, unter Montag, dem 10. August, war zu lesen: »Vor achtundsiebzig Jahren zu gleicher Stunde plünderte das Volk die Tuilerien. Heute ist es gerade das Gegenteil. – Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die politischen Rechte wiederkommen, wenn die Regierungen abgehen. Ich erinnere mich an einen Mann, der ihrer gleicherweise beraubt worden war, nachdem er zu Boulogne einem armen Soldaten das Kinn zerschmettert hatte. Dieser berühmte Verschwörer muss die politischen Rechte doch wohl wiederbekommen haben, da er sich später eine Krone hat aufs Haupt setzen können. Es ist mir dennoch untersagt, künftighin über den Staatsstreich zu schreiben. Alle Minister doch sprechen vom Staatsstreich als der »Ruhmestat des 2. Dezember«. Wenn es eine Ruhmestat war, warum darf ich nicht davon sprechen? Wenn es keine war, warum habt ihr sie begangen? – Die Preisverteilung des Staatskonkurses ist vom Kaiserlichen Prinzen präsidiert worden. Der junge Eugen Cavaignac, Sohn des Generals, der so loyal die Macht in die Hände des zukünftigen Ruhmestäters – ich sprach gerade davon – zurückgegeben hat, wurde vom Unterrichtsminister aufgefordert, den ersten Preis für griechische Übersetzung in Empfang zu nehmen; aber Eugen Cavaignac weigerte sich, ihn aus den Händen des Thronerben zu empfangen. – Man kann keine radikalere Opposition zeigen, man kann nicht deutlicher seine Feindschaft gegen die herrschende Dynastie zum Ausdruck bringen. Aber Frankreich ist doch glücklich, der Souverän geliebt, der Sohn das Idol der Jugend: so kann man wetten, dass die Rebellion Cavaignacs mit Pfiff und Protest quittiert wurde. Ihr habt die Wette verloren: die Laureaten aller Pariser Gymnasien haben der Rebellion des Eugen Cavaignac frenetischen Beifall geklatscht. Ich möchte nun doch glauben, dass die Regierung nicht die »Laterne« anklagen wird, den Beifall oder die Rebellion oder beides provoziert zu haben.«
Loulou war sehr bleich und traurig, viel zu traurig für einen Zwölfjährigen, selbst nach einem solchen Erlebnis. Später weinte er wieder; aber selbst sein Weinen war anmutig. Dann ging er mit seinem Gouverneur, einem General mit entrüstetem Gesicht. Der Kaiser sprach kein Wort, er schritt im Salon hin und her, so schlecht er heute gehen konnte, er watete hin und her. Es waren Gäste da, man war in Fontainebleau, man war im Salon des Heiligen Ludwig. Eugenie sah vor sich hin, zwischen den Händen zerdrückte sie das Taschentuch. »Jetzt gelten wir garnichts mehr«, sagte sie plötzlich laut und heiser. Man schwieg betreten. Eugenie hatte Augensäcke, man sah es heute eigentlich zum ersten Mal. Plötzlich sprang sie auf, warf den Kopf nach hinten und öffnete den Mund. Dann lachte sie, mit starrem Gesicht und flatternden Schultern. Der Kaiser watete auf sie zu und führte sie hinaus. »Corvisart!«, rief er dabei. Sekretär Conti schloss hinter den beiden die Flügeltür und stellte sich davor. Sekretär Franceschini Pietri lief zu Doktor Corvisart, dem Leibarzt. Die Gäste wussten nicht, wohin mit sich. Eugenie lachte durch die Wand, ein schreckliches Lachen, heiser beim Ausatmen, röchelnd beim Einatmen, wie Eselgeschrei. Die Gäste retteten sich auf die Treppe, die zum Fontänenhof führte.
Am Sonnabend sagte der Kaiser, in der Hand den roten Fleck der Laterne, zum Polizeipräsidenten Pietri: »Jetzt Schluss machen. Akten zur Generalstaatsanwaltschaft. Code pénal Paragraph 59 und 60, scheint mir.«
»Und sofortige Verhaftung, wegen möglicher Fluchtgefahr?«
Der Kaiser zögerte einen Augenblick; dann sagte er: »Ich bin doch nicht der Generalstaatsanwalt.«
»Herr Graf«, sagte der Chefredakteur, zu ungewohnter Stunde erscheinend, »obgleich Ihr geringfügiger Kommanditär, habe ich meine Beziehungen zum fluchwürdigen Regime beibehalten. Ein guter Freund und Polizeikommissär hat mit eigenen Augen den Haftbefehl gelesen, der Ihnen morgen früh um sechs Uhr präsentiert werden wird. Sie werden gut tun, Ihr Bankkonto abzuheben – so weit Sie es noch hier haben und nicht schon, wie es sogar Désirés zu tun pflegen, in andere europäische Hauptstädte transferierten – und mit dem Abendzug nach Brüssel zu fahren.«
»Nein«, sagte Rochefort.
»Aha«, meinte der Chefredakteur. »Immerhin haben Sie, nach meinem Gewährsmann und auch nach allgemeiner Erfahrung, zwischen ein und drei Jahren Gefängnis zu gewärtigen und zwischen zehn- und zwanzigtausend Francs Geldstrafe. Die Francs können Sie mit einem Griff in die Westentasche entrichten, nicht aber die Zeit.«
»Meine Aufgabe ist«, sagte Rochefort, »einzustehen …«
»Nun hören Sie, mein Lieber«, unterbrach der Chefredakteur, »Ihre Aufgabe ist, dass man lacht, aber möglichst wenig über Sie selber. Machen Sie sich mit Ihrem Einstehen also nicht lächerlich. Vernichten Sie nicht Ihr eigenes Werk, schneiden Sie nicht den Faden Ihres Erfolges durch und überschätzen Sie doch um Gotteswillen nicht das eine wie das andere. Die Laternenfunken stecken nämlich das Reich nicht in Brand, sondern entzünden nur die Haut, das ist schon allerlei, das sind die Röteln der Freiheit, eine Kinderkrankheit also, an der man nicht stirbt, die aber unter Umständen ernsten Krankheiten Vorschub leistet. Wenn Sie aber darauf im Gefängnis warten wollen, sind Sie vergessen, noch ehe die erste Diagnose nötig wird, vergessen wie eine blinde Laterne.«
»Ich weiss«, sagte Rochefort, »dass Ihnen die brennende Laterne nachgerade zu grell geworden ist, Villemessant.«
»Das käme nur daher, lieber Kollege, weil mir mein Laternenanteil zu schlecht und mein »Figaro« zu gut ist. Aber ich will ja, dass sie weiterbrennt und angemessener. Ihre Kampfschrift hat sich innen und aussen so emigrantisch gebärdet, dass man die kleine örtliche Änderung der Administration – Brüssel statt Paris – kaum bemerken wird. Und was sie durch die Auslieferungsschwierigkeiten an Auflage verlieren wird, wird sie an Schärfe gewinnen. Und was Sie betrifft, Rochefort: kein Désiré ohne Verbannung, – ein Axiom der Historie. Und was für ein komfortables Exil, in Begleitung einer runden halben Million Francs und vieler Millionen Laternenleserwünsche! Das hat selbst Hugo der Grosse erst auf seinen Inseln aus Napoleon dem Kleinen und den Miserablen des Kaiserreichs herausgeschlagen …«
Rochefort reiste nach Brüssel.
Dies noch stand im Heft Zwölf der Laterne: Die gegenwärtige Hitze soll durch die Nähe eines bisher noch unsichtbaren Kometen verursacht sein. Zu allen Epochen, man weiss es, ging die Erscheinung eines Kometen grossem Ereignis voraus. Ich erwarte nur ein einziges grosses Ereignis auf der Welt, aber ich habe ja kein Glück. Ihr werdet sehen, es passiert noch nicht dieses Jahr! Und mir träumte, ich sei der Mann, der für Herzog Morny die Reime zu machen hat, so wie Corneille für Richelieu – es ist ungefähr der gleiche Unterschied zwischen Corneille und mir wie zwischen Richelieu und Morny, so ähnlich der Bart ist –, und Morny schrie: Ein Reim auf La France!
Und ich fand nur einen, ich fand nur einen: