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Erleuchtungen

Ganz allein der kranke Kaiser gab die öffentlichen Freiheiten, Stück für Stück, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Organisationsfreiheit, und von seinen souveränen Rechten Stück für Stück an die beiden Parlamente in den Palais Bourbon und Luxembourg, – gegen den Willen der Kaiserin, der Minister, der Freunde, der Regierungsparteien, und Persigny, wütender Eckart der Staatsgewalt, predigte vor jeder Abstimmung von Bank zu Bank den Widerstand. Doch der Kaiser hatte die Freiheiten versprochen und setzte sie durch, elend von der eigenen Hartnäckigkeit; die Widerstände aber, die die Erfüllung verschleppten und die Freiheiten um die Frische brachten, luden sich in seltsam unseligem Umschwung wieder auf ihm ab: man misstraute der gewundenen Gabe, man freute sich nicht über das abgestandene Geschenk, man dankte nicht dem ungesunden und undeutlichen Geber. Was war es nur bei ihm: die Sehnsucht, den kranken Körper oder die kranke Seele zu entlasten?, oder das, was kommen mag, zu verzögern?, oder das, was einmal kommen muss, zu beschleunigen? Nun, neben den Freiheiten setzte er auch das neue Militärgesetz durch, den mächtigen Plan der Heeresorganisation. Aber es war damit wie mit den bürgerlichen Gaben: die Zeit schlug sie ihm aus der Hand. Es setzte im letzten Jahr des unheimlichen Dezenniums das Freundessterben ein oder, da der einsame Kaiser keinen Freund hatte, das Sterben der wenigen Wichtigen: Walewski, unwirsches Kriegsgottgesicht, das doch wie keiner mehr seit Morny die Umrisse einer kaiserlichen Demokratie erkannte, und der kluge und kaltblütige Aussenminister, der am Luxemburger Konflikt zeigte, dass er Krise und Kriegsgefahr zu beschwören verstand, und der Präsident des Senats und grossartiger Kronjurist, – und dann starb Niel, Solferino-Marschall, Kriegsminister, Heeresreformer. Was war es nur? Es war kein Glück mehr dabei, so gab es keinen Dank. Der Stern war nicht mehr zu sehn, schon lange nicht mehr: aber Laternen, zahllose, ein Funkenregen. Der Zeitwind trägt ihn umher, er versengt alles, durchlöchert und verdirbt alles, was noch an Ehrfurcht und Achtung das Kaisergeschenk der Toleranz umgab. Das neue Kleid hing schon in Fetzen, kaum dass es angezogen war: darunter aber trug man sich bereits sansculottisch. Das Bild war sonderbar, eigentlich zum Lachen.

Was war es nur, wo man auch hinschaute? Ist das Leben plötzlich nicht mehr angenehm, verfällt sein schönes Kleid, – darunter aber ist das nackte Elend? Wer wagte es zu behaupten, im satten letzten Jahr des üppigen Dezenniums? Selbst die Laterne nicht, die mühselig die täglichen Grossstadtdramen nach Empörendem und Staatsgreulichem absucht, die Morgue im Lichtkegel. Oh, das Leben blieb eine gute Sache, die Glücksstadt blieb die schönste Stadt der Welt, Ausstellung in Parmanenz, der Kredit blieb solid, Geld kreiste im Überfluss, immer noch wuchsen Staatsbauten, Strassenzüge und neue Wohnviertel in die Höhe, nirgends in der Welt wurde so gut gegessen, getrunken, gespielt, getanzt, gefeiert: und dennoch schwenkte das Leben, wo man auch hinschaute, mit allen seinen guten Sachen, mit dem heiteren, frivolen, ironischen, scharfen, erkenntniswütigen Geist der Zeit in die Kritik des Staates ein, in die Politik also und schon auch, da ein solcher Schwung weit ausschwingt, in den Radikalismus.

Staatskritisch, also politisch in aller Deutlichkeit, war mit einemmal die geistige Haltung des Lateinischen Viertels – dort auf dem linken Ufer, wo einst ein Anonymus den Gassenhauer auf die Cäsarine dichtete –, das ganze denkerische Resultat zweier Jahrzehnte, der Kampf zwischen Wissenschaft und Glaube, der Streit zwischen Universität und Kirche. Die geistige Freiheit, um die es Lehrern und Studenten ging, war jetzt auch die politische Freiheit, und das konnte kein Geschenk des Kaisers sein, sondern wiederum des Geistes, der die Gesellschaftsordnung zu erneuern hat, also auch den Staat. Die Wissenschaft, die den dogmatischen Glauben ausstrich und dafür die Doktrin der unabhängigen Moral einsetzte und die Gott nicht leugnete, aber übersah, hatte jetzt die politische Weltanschauung der Jugend hinter sich, welche atheistisch, freidenkerisch und republikanisch war. Die Kollegs wurden zu politischen Versammlungen, zumal die der Mediziner, die von der Therapie her in die Staatsphilosophie einfielen und aus den symptomatischen Darlegungen ihrer Dozenten den politischen Umsturz herauspfiffen oder hervorklatschten. Im Ausschwung über die Hörsäle hinaus aber vergröberte sich das griffige Gedankengut der materialistischen Lehre immer mehr, hinweg über unzählige Freidenkerzirkel bis zu den immer radikaleren Anschwemmungen der Linksparteien und den Imitatoren der Klubs von 1789, bis zu dem Postulat einer dieser Neojakobiner: Seid zuerst Atheisten, dann werdet ihr Revolutionäre sein. Es war wohl einfacher, die Existenz Gottes zu leugnen als die des Kaisers, der immerhin die öffentlichen Volksversammlungen gestattete. Aber der Hass auf Gott war ja der Hass auf den Kaiser; denn man musste doch irgendwo anfangen; und die Abkehr von den kirchlichen Institutionen war die erste Demonstration gegen den Staat: so mussten zuerst die Toten demonstrieren, durch die Abkehr von Priester und geweihter Erde, und hinter der Zivilbeerdigung eines armen Teufels, den bei Lebzeiten keiner kannte, schritt demonstrativ das Freidenkerkorps des Viertels.

Wer Gott leugnet, will auch die Götter leugnen, und wer das Dogma abstreitet, zerstört auch die Legende, – nicht nur die der Heiligen. Denn die Erkenntniswut, die vom linken Ufer kommt, ist ja jetzt politische Wut und soll, wenn es physikalische Gesetze auch für die Freiheit gibt (für das Bewegungsziel, nicht für die Draperie des Kaisergeschenks), in die Umsturzwut enden. Die neueste These vom revolutionären Atheismus ist unendlich zu variieren: auch wer die Geschichtsgötzen stürzt und vor allem jene Legende zerstört, die nur nationalisiert, in Wahrheit aber nichts als die geschickte Popularisierung des dynastischen Hausmärchens ist, wird Revolutionär sein. Wenn nachgerade zu erkennen ist, dass der Name die Geschichte der Zeit gemacht hat, nicht der zweifelhafte Nachfahre, dass er der Hut war, nicht der fragwürdige Kopf, dass es immer noch der Name ist, die Klammer des sakrosankten Signums, die den morschen Bau zusammenhält und die Fassade illuminiert: nun wohl, so greife man mit den guten neuen Waffen des unabhängigen Geistes den Kriegsgott an, so hebe man seine Pantheon-Immunität auf! Fällt der Name, so stürzt der Träger, der keinen anderen Halt mehr hat, – man sollte es wenigstens annehmen; und stürzt er nicht gleich, so kommt er doch ins Wanken. Es gibt ja keine Buchzensur mehr, dank des Namensträgers. Die Geschichte des Konsulates und des Ersten Reichs, von den Hof- und Schulhistoriographen natürlich abgesehen, sei nicht das Monopol des kleinen Thiers, der zwar politisch noch nicht ganz so vergreist ist wie als Historiker, aber sich doch, selber schon ein bisschen legendär, nun einmal – gleichsam schon um seiner selbst willen – mit dem alten Adler-Nimbus zudeckt und in Frieden ruhen möge. Jetzt aber tritt die neue Geschichtskritik auf, schiebt Adler, Schlachten, Grand' Armée und Gloire beiseite und richtet das Bild des politischen Diktators auf, und da es im Namen der politischen Freiheit geschieht, ist es ein fatales Bild, umgeben von allen Opfern, die der Götze verlangte, von Menschenhekatomben der zwanzig mörderischen Jahre; denn auch dort waren es zwanzig Jahre. Und im Kielwasser der aufklärenden Wissenschaft schwammen wieder die volkstümlichen Broschüren: und die sprachen nicht mehr von mörderischen Jahren, sondern von dem grössten Massenmörder der Geschichte. Da aber die Legende von zugleich fahnenzähem und märchenzartem Stoff ist und von so mächtigen Massen, dass sie weit und hoch über den Geschichtsraum in die Unwirklichkeit flattert, in die Unvernunft, in den Traum, treten jetzt die Dichter der neuen Freiheit auf den Plan. Sie klären nicht auf, kritisieren nicht, lästern nicht, sondern malen ein neues Bild von der Legende: die andere Seite. Sie erzählen nicht mehr vom Kriegsgott und seinen Erzengeln, sondern von der geopferten Masse, von Leid und Grösse des einfachen Mannes, von der aufgeschminkten Begeisterung und tiefen Verzweiflung des Konskribierten, von Biwak, Schlachtengraus, Lazarett, Blut und Kot, Sonnenhölle, Staubsintflut und Eisesstarre, – und eng daran schmiegt sich die Idylle, die Süsse des Lebens, Mann, Frau und Kind in der heimeligen Stube, wogendes Kornfeld vor dem lieben Häuschen, – Glück des stillen kleinen freien Lebens, Glück des Friedens. –

Nun ist auch der Name durchlöchert, versengt, verdorben, er mag ihn weitertragen, so lange es noch geht: das N ist jetzt das Kainszeichen. Der unabhängige Geist geht weiter. Die neue Aufgabe ist vorgezeichnet, der gestürzte Götze dient als Rammbock gegen das feste Haus, das sich der Namensträger auf dem Fundament des ersten Reichs erbaut hat, auf einer Fiktion also, die bereits erschüttert ist. Die neue Aufgabe ist die Untersuchung, die wissenschaftlich exakte und unerbittliche, wie das Zweite Reich begann. Die Laternen haben nicht umsonst den Staatsstreich umtanzt, immer wieder den Staatsstreich und seine Dezembristen. Siebzehn Jahre sind eine lange Zeit, und die Urheber des Staatsverbrechens haben nichts versäumt, um darüber Gras wachsen zu lassen oder sogar Lorbeer. Aber die Erkenntniswut reisst den Schmuck ab und wühlt die Erde auf und die Gebeine der Opfer und bringt es an den Tag. Es tut nichts zur Sache, dass die Geschichtskritik nicht exakt, die Wissenschaft nicht echt sein kann; denn es fehlen ja die Quellen von der Gegenseite, von dem Urheber des Staatsstreichs. Aber die aufwühlende Publikation über »Paris im Dezember 1851« gibt sich wissenschaftlich und erreicht durch den trockenen Ton ihrer Schreckenschronik, dass das Falsche und Übertriebene so sachlich und wahrscheinlich klingt wie das Wahre und dass die Freiheitshelden der zehnten Mairie, die Barrikaden von Saint Antoine und die Massakrierten des 4. Dezember grossartig auferstehen und in das Bewusstsein des Volkes marschieren. Die publizistischen Marodeure aber, die hinter der Wissenschaft oder Pseudo-Wissenschaft herlaufen, haben nun leichtes Spiel und gute Ernte. Denn wenn die alte Legende im Zeichen N, die endlich zerstörte, für Krieg und Despotie von so mächtigem Nutzen war, so muss eine neue gefunden werden, die Legende von den politischen Freiheitshelden bis in den Tod, damit sie das Volk zum revolutionären Glauben bringe, dem einzig erlaubten. Und jetzt ist Baudin gefunden, Volksrepräsentant Baudin mit der roten Schärpe, der die Arbeiter des Faubourg Saint Antoine aufforderte, die Freiheit zu verteidigen. Die aber murrten: »Wir haben nicht nötig, uns für eure fünfundzwanzig Francs töten zu lassen«, und meinten damit die Tagesentschädigung für Abgeordnete. Da sagte Baudin: »Ihr könnt jetzt sehen, wie man für fünfundzwanzig Francs stirbt«, stieg auf die Barrikade und wurde erschossen, mit ihm die Freiheit.

 

Ungefähr zwanzig düstere Männer marschierten in den Montmartre-Friedhof, begleitet von ein paar freundlichen und verlegenen Polizisten; denn dies hier war kein Besuch der Toten, sondern eine Auferstehungs-Demonstration, vorher von gewissen Blättern angezeigt oder ausgeschrien. Es war der 2. November, Allerseelen; aber man brauchte heute nicht alle Seelen für den Glauben an die Revolution, sondern nur eine einzige. Diese aber war schwer zu finden, wie es sich herausstellte; sie liess nach sich suchen, sie versteckte sich. Wo liegt Baudin?

Zwanzig sind nicht viel für eine frisch flammende Legende, nicht viel für den lauten und feierlichen Aufruf des Toten. Der ihn schrieb, führte sie, – der Linkeste der Linken, Revolutionär von Beruf, hart durch das harte Leben der unterirdischen Politik, der Geheimgesellschaften und aller Gefängnisse von Paris bis Cayenne, jetzt Herausgeber des »Réveil«. Er war der Polizei bekannt, auch seine Unterführer waren es, zwei kommunistische Schriftsteller und zwei Schuhmacher, Vater und Sohn, auch dieser und jener von den Zwanzig. –

Wo liegt Baudin? Die Opfer des Staatsstreiches liegen am Carrefour de la Croix, unter dem Grossen Kreuz, das wissen alle. Aber Baudin ist nicht dabei, er versteckt sich. Nahe und gross ist das Grabmal der Cavaignacs, und vor dem Monument Godefroys, Volksfreundes und Menschenrechtlers, nicht bei Eugene, dem Diktator von Achtundvierzig, stehen viele stille Menschen, die eigentlich zu Baudin gehörten und vielleicht nicht einmal seinen Namen kannten. Wo aber liegt Baudin? Der alte Schuster, ein praktischer Mann und nicht so feierlich stumm wie der alte Revolutionär, fragt einen Friedhofswärter. »Baudin, Baudin … ach ja, der Admiral …« Der Schuster sieht ihn böse an, lässt ihn stehen und macht sich auf die methodische Suche: Kreuzstrasse – nichts, rechts in den Artôt-Weg – zurück, links in den Polignac-Weg, Maler, Schriftsteller, Schauspieler, – und hier liegt Baudin, Volksrepräsentant.

Schnell sammelt man sich, es sprechen der eine kommunistische Schriftsteller und ein junger Mensch mit einer Pistole und der Parole: Volk und Jugend, und dann ruft man: »Hoch Baudin! Hoch die Freiheit! –, und der mit der Pistole ruft: »Hoch die Republik!« – »Leiser!«, ruft der alte Schuster, ein praktischer Mann. Die Stillen vom Monument des Godefroy Cavaignac kommen hinzu und werden laut wie die andern, – schon sind es sechzig, schon hundert Personen. Der mit der Pistole ruft, dass dieses Jahr das letzte des Kaiserreichs sei, »das nächste«, meinten andere, »dieses!«, schreit der Jüngling, »leiser!«, ruft der alte Schuster und stösst den jungen Schuster vor, den Poeten, und er rezitiert Verse, eigene Verse. Zweihundert Personen, der andere Schriftsteller spricht. Und plötzlich rollen Trommeln. »Militär!«, schreit der mit der Pistole, »Bluthunde! Ich schiesse!« Der alte Schuster hält ihm mit der einen Hand den Mund zu und nimmt ihm mit der anderen die Pistole fort. Die freundlichen und verlegenen Polizisten aber lächeln jetzt; denn sie wissen, dass die Friedhofswärter trommeln, wenn die Besuchszeit abgelaufen ist. Sie sagen es auch: die Versammlung löst sich auf, und die Demonstranten ziehen geschlossen ab; aber es sind ja nur zwanzig.

Dennoch war die Seele auferstanden, und dass sie dann zu schreien begann, so laut wie noch keine Stimme seit zwanzig Jahren, mit einer geliehenen Stimme doch, mit der lebendigen, jungen, wilden Stimme des berufsmässigen Fürsprechs, ganz ohne posthume Zauberei also und darum furchtbar wirklich, – wie kam es nur aus so dürftigem Anlass, aus makabrem Mummenschanz und dünner Beschwörung? Warum schlug der Staat zu, ins gleichsam Leere doch, auf ein jämmerliches demagogisches Destillat einer schon verschwebenden Nebelform, die nicht einmal für ein Gespenst taugte, – anstatt freundlich und verlegen zu lächeln und sich nicht zu rühren, wie seine Polizisten auf dem Friedhof? Warum spendete der kluge Kaiser auf den Aufruf des »Réveil« zugunsten eines Baudin-Denkmals nicht fünfhundert Francs? Dann wären vielleicht tausend Francs zusammengekommen, das Monument gesetzt und stumm wie das nachbarliche des Volksfreundes Godefroy Cavaignac. – Selbst Rouher, kein Freund der Freiheiten, riet von der Strafverfolgung ab, selbst der Justizminister hielt sie für politisch nicht opportun. Warum gab der Kaiser zu, dass der kleine Innenminister, einst Staatsanwalt, den Revolutionsmann des »Réveil« und seine vier Unterführer von der Korrektionspolizei packen liess und die Seele Baudins vor die Strafkammer schleppte, wegen Vergehens gegen den inneren Frieden, strafbar auf Grund des ganz verschwundenen und gerade noch von der Laterne beleuchteten Diktaturgesetzes der Allgemeinen Sicherheit? Vielleicht war der Kaiser sehr krank an diesem Tag, vor Schmerzen blind und taub oder ganz gleichgültig zu den Geschäften, vielleicht aber auch war es ein Tag seines verquollenen Zornes, Zorn über den Undank, und das Baudin-Destillat der Tropfen, der das Gefäss überfliessen liess.

Und so donnerte im Namen der auferstandenen Volksseele die junge, wilde, südliche Stimme des Rechtsanwalts Gambetta die Anklage gegen den Staatsstreich und gegen den Mann, der mit seinem Amt, durch feierlichen Schwur verpflichtet, die Republik in Verwahrung erhielt und sie umbrachte. Dieser Mann war der Kaiser. Der Gerichtssaal wagte nicht zu atmen. Der Vorsitzende machte spöttische Bemerkungen über das laute Debüt des jungen Fürsprechs und das endlich gefundene politische Fressen. Der Staatsanwalt bellte wacker. Aber die reissende Stimme verschlang Ironie und Einspruch und erfüllte den Saal, die Stadt, das Land mit unerhörter Sprache. »Am 2. Dezember hat man Paris mit der Provinz und die Provinz mit Paris betrogen! Dampf und Telegraph sind zu Instrumenten des Regimes geworden. Man hat über alle Departements hin geschrien, Paris sei unterworfen. Unterworfen? Nein, ermordet, füsiliert, niederkartätscht! – Und so hört zu! Siebzehn Jahre seid ihr die absoluten, die unumschränkten Herren Frankreichs. Was euch am deutlichsten richtet, weil es das klarste Zeugnis eures schlechten Gewissens bedeutet: dies ist es, dass ihr niemals zu sagen wagtet: Wir wollen den 2. Dezember zum Range eines Nationalfeiertages erhöhen. Gut, diesen Nationalfeiertag des 2. Dezember: wir nehmen ihn für uns in Anspruch, wir werden ihn feiern, immer, unaufhörlich! Alljährlich wird es der Gedenktag unserer Toten sein, bis zu dem Tag, wo das Land wieder sein eigener Herr ist und euch mit der grossen nationalen Sühne belegt, im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!«

Unter dieser Stimme erbebte das Kaiserreich und wankte leicht, zum ersten Mal.

 

Oder ist es nur die Erde, die bebt, nicht der Staat?, nur die Stadt Paris, die zur Abwechslung in allen öffentlichen Sälen den politischen Cancan tanzt, nicht einmal das Land? Durch das neue Bett der Freiheiten, vom Staat geschaffen, kann ja Schmutz, Schutt und Geröll hindurchtoben, als betäubendes und erschreckendes Schauspiel, wenn dann die Bahn für das ruhigere und schliesslich nützliche Wasser frei wird. Dass der Staat diese Hoffnung aufgebe und damit sich selbst: man glaube es nur nicht; und wenn administrative Fehler gemacht wurden, so werden sie geahndet; wenn der Innenminister, durch die Steinschlag-Propaganda der Demagogie nervös geworden, aus einem demonstrativen Friedhofsgang eine Erneute macht und einem Herrn Gambetta die Wahl-Plattform herrichtet, dann wird er entlassen und die Absetzung veröffentlicht. Man glaube indessen nicht, dass der Staat, der den Radikalismus weder überschätzt noch bagatellisiert, der politischen Auseinandersetzung ausweichen wird: im Gegenteil, wenn er mit den Neojakobinern ein Interesse gemeinsam hat, so sind es die Wahlen, die kommen. Der Staat fürchtet nicht die Deklamationen, die er selber gestattet, nicht die polizeilich zugelassenen Fastnachtsveranstaltungen im Stil des Konvents und der Klubs, nicht das Reihumspiel nach Links, wo auch der Linkeste im Handumdrehn immer noch und immer wieder einen linken Nebenmann bekommt – dergestalt, dass die alten parlamentarischen Radikalen schon fern, fern nach rechts in fluchwürdige Reaktion gerückt sind –, der Staat fürchtet auch nicht die Arbeiter-Internationale, die er selber tolerierte und heimlich förderte, als sie, die französische Sektion, noch keine Kampforganisation, sondern eine Hilfsgemeinschaft war und so nahe den Sozialplänen des Kaisers, dass sie von den radikalen Politikern als Imperial-Sozialisten beschimpft wurde: und jetzt steht sie auf dem extremsten Flügel der Opposition. Der Staat ist das liberale, das fortschrittliche Kaiserreich, die kaiserliche Demokratie, und er überschwemmt das Land mit hunderttausenden von Broschüren, in denen aufgezählt wird, was er, ausser der Narrenfreiheit für den jakobinischen Karneval, an sozialen Verbesserungen geschaffen hat, an Kooperativ-Gesellschaften, Schulen, Waisenhäusern, Kindergärten, Altersheimen, Krankenhäusern und Pensionskassen. Den Rest besorgen die Präfekten, die erfahrenen Wahltechniker.

Und Paris? Nun, die Hauptstadt ist doch schon radikal, seit sieben Jahren, der Staat lebt deshalb immer noch und ladet die Wähler des Landes ein, mit möglichster Aufmerksamkeit dem erstaunlichen Schauspiel zuzusehen, wie die alten linken Deputierten der Seine-Kreise von den neuen linksten Kandidaten angefallen werden, mit Keule und Stilett. Dass unter den Bruderkämpfern der Maître Gambetta ist, das neue Stadtgespräch, und Herr Jules Ferry, der sich seine Sporen durch ein Pamphlet gegen den Stadtpräfekten Haussmann verdiente, mag verständlich sein. Aber dass ein Mann wie Jules Favre, respektabelster Gegner des Staates, durch den elendesten aller Hass- und Hetzgewinnler, durch den berüchtigsten Pamphletisten einer wahllosen Zeit ersetzt werden soll, durch einen Menschen, der wohlweislich (weil er hier nämlich hinter Schloss und Riegel sitzen würde) in Brüssel sitzt, als Schosskind Hugos des Grossen, und aus sicherer Entfernung seine Giftpfeile ins Land schiesst: dies wird auch dem verstocktesten Republikaner die Schamröte ins Gesicht treiben, dem ländlichen Wähler aber die Augen öffnen, wenn er sie nicht schon auf hat. –

Der Staat behielt recht, die Wahlen gaben ihm recht, sie warfen nicht das Kaiserreich um, es war kein Erdbeben, nur grosser Lärm. Gambetta, Ferry und einige Andere der Jungradikalen gelangten zum Ziel und warfen die Älteren vom Stuhl. Aber Jules Favre siegte, wenn auch knapp, über Rochefort. »Ich gratuliere Ihnen«, schrieb der Chefredakteur dem Geschlagenen nach Brüssel, »nur so wird man ein richtiger Désiré; denn zwischen ersehnt und erwählt muss etwas mehr sein als sieben Monate Exil: denken Sie nur an unsern lieben Louis Napoleon.«

Paris blieb radikal, das Land kaisertreu, im grossen Ganzen blieb das Stimmenverhältnis, wie es war, und ungefähr in der alten Zusammensetzung betrat das Parlament den Weg der kommenden sieben Jahre. Was will also die Zeit mit ihrer Universalkritik? Es bleibt, wie es war.

 

Es blieb, wie es war? Als die Zeitungshändler mit den Extrablättern die Pariser Wahlresultate durch die Strassen brüllten oder doch nur dies: »Rochefort geschlagen!«, kam das Echo des Namens zurück, auf so unerwartete und wilde Weise, dass der Staat erschrecken musste. Denn dass ein Name aufstand und den Strassenfrieden störte, kannte er noch nicht; und dass es dennoch eine Wiederholung war, im grossen Kreislauf des politischen Schicksals, dass es einmal, vor zwei Jahrzehnten, der Name des Staatsrepräsentanten war, der aufstand und die Luft erfüllte, lag schon in der Vorwelt. Der Staat muss tun, als habe mit ihm die Zeitrechnung begonnen.

Das Echo erhob sich auf dem anderen Ufer, wo der rebellische Geist zu Hause ist und wo die Generalkritik gelehrt wird. Studenten durchzogen das Viertel der Sorbonne, riefen: »Rochefort!« und merkten im Nu, wie gut es sich nach dem Namen marschieren liess.

Roche-fort! Roche-fort!: Marschbefehl, Marschtakt, Trommel und Peitsche des Massenschritts, – auf die Strasse und: »Rochefort! Roche-fort! Das knallt auf das Pflaster und springt schon als Losung nach Osten, ins Quartier der Bastille-Stürmer, denen dort liegt es im Blut, auf die Strasse zu gehn, dort sind zwanzig Jahre plötzlich wie ein Tag, und gestern gingen sie auch auf die Strasse: die Söhne sind mit einemmal die Väter. Roche-fort! Roche-fort! – von Süden und Osten marschiert der schrittzerhackte Name zum Stadthausplatz, Grèveplatz, Revolutionsplatz, altem Platz der Unruhe, von keinem neuen Namen zu ersticken, alter Bühne für den Empörungschor. Die Marschierenden stehn, aus dem Marschwort wird das Standwort, das Chorwort: Rochefort! Sie schreien den Namen, sonst tun sie nichts, sie haben Laternen als Abzeichen im Knopfloch und am Hut oder Wagenlaternen, Stallaternen, Blendlaternen in der Hand oder riesige gemalte Laternen auf den Schildern, Plakaten und Spruchbändern über ihren Köpfen. Die Losung springt nach Nordosten und Norden, Belleville, La Chapelle, Montmartre, die Strasse marschiert zu den nördlichen Boulevards, Roche-fort! Roche-fort!, sonst tun sie nichts. Aber eine Polizeipatrouille will am Boulevard Montmartre ein Café räumen, das ihnen den Namen um die Köpfe schlägt: schon fliegen Biergläser, Stühle und Steine, es sind immer gleich Steine da, schon fliegen die Säbel aus der Scheide. – Lasst den neuen Tag kommen, der Name wird nicht mehr aufwachen. – Der Name wacht auf, an jedem Abend, gibt Marsch- oder Chorbefehl; und dann gibt er noch mehr: die Wut. Roche-fort! Roche-fort!, gegen Zeitungs-Kioske, verbrennt die Reaktion, verbrennt ihre Zeitungen, verbrennt die Kioske, stürzt Omnibusse um, zerschlagt die Laternen, die nicht die unsern sind, Barrikaden, damit ihr es lernt, Barrikade vor dem Variété-Theater, damit die Herzogin von Gerolstein ihre Fritze gerecht beschäftige! Jeden Abend tobt der Name durch die Stadt, eine Woche lang, die energisch eingesetzte Munizipalgarde fegt jetzt die Strassen rein, und aus dem Marsch- und Chor- und Angriffswort wird jetzt das höhnische Galoppwort der Auseinanderspritzenden und Davonlaufenden: Roche-fort!, so schnell wie die Beine tragen können.

Sprang denn die Losung bis ins Kohlenrevier von Saint-Etienne, wo plötzlich ein Streik ausbrach, man wusste nicht recht, aus welchen Gründen? Aber die Lösung war doch: Rochefort!, und dort schrie man: »Vive la Rouge!«, wollte die Fördermaschinen zerstören, die Schächte zum Ersaufen bringen oder die Offiziere des Liniendetachements hineinwerfen, das zum Schutz der Anlagen anrückte, Saboteure verhaftete und, von den Streikenden angegriffen, feuerte. Zehn Tote.

Der Chefredakteur schrieb nach Brüssel: »Ich gratuliere, Ihre Laterne ist mehr als Aladins Wunderlampe; denn sie kann auch schiessen. Noch sechs Monate Exil, jetzt ist Juni, und Sie haben Ihren Staatsstreichdezember.«

Rochefort in Brüssel gellten die Ohren, er hatte grosse Lust, sich die Ohren zuzuhalten, er war ja ein scheuer Mensch. Aber er las doch nur das tausendstimmige Geschrei seines Namens und brauchte die Kraft der Einbildung, um es zu hören. War es nicht dies, was er sich wünschte: zugleich die Klausur und die Wirkung? Doch er sah nicht aus, als sei er glücklich. Er schrieb jede Woche seine Laterne und liess sie auf tausend Wegen über die Grenze schmuggeln, die immer bösartigere Konterbande. Es muss gesagt werden, dass die zehn Toten von Saint-Etienne ein Fressen für ihn waren.

Es sah nicht danach aus, als würde er jemals satt.

 

Paris hat zwei Gesichter, man weiss es, und als es die Laternen hervorschüttelte, die Losung des Namens, die Demonstrationszüge, Zwischenfälle allerorten, selbst ein paar dilettantische Barrikaden, zeigte es eine stürmische Woche lang das andere Gesicht so deutlich, wie schon lange nicht mehr oder, wenn man als guter Untertan die Zeitrechnung mit dem Kaiserreich beginnt, wie noch nie. Jetzt aber ist der 15. August, Napoleonstag, nicht der alljährliche und geläufige, sondern der besondere, Zentenartag seiner Geburt, – die Stadt trägt Gala, rings um die heilige Vendôme-Säule, die den römischen Kriegsgott, nicht mehr den Mann mit dem Hütchen, in den Himmel hebt, läuft die Girlande des kaiserlichen Signums, das N der Legende, – der kritisierten, gestürzten, zersetzten? Die Stadt sieht nicht erkenntniswütig aus, sondern leuchtet napoleonisch, wie es der Gedenktag befiehlt, ihre Menschen bewegen sich festlich durch die Strassen, – ihre Menschen marschierten doch eben nach dem Rochefort-Takt: es ist schon unglaubhaft.

Die Menschen aber haben jetzt gelernt, dem Wunderbaren mit aller Skepsis zu begegnen. Gestern die Laterne, heute das illuminierte N, morgen vielleicht La Rouge, – es gibt für jeden Ausdruck eine Begründung und für jede Verwandlung das Kostüm. Die Stadt zumal ist so gross und der Tag so lang, dass es ganz glaubhafte Simultanvorstellungen von dynastischen Zentenarfeiern und rebellischen Geburtstagen geben könnte. Es ist beispielsweise zu vermuten, dass heute weder im Quartier Latin noch in Saint-Antoine noch in Belleville oder auf Montmartre napoleonische Ideen propagiert werden, während das gekrönte N mit tausend Flämmchen leuchtet, wo man auch hinschaut. Die Stadt ist so gross, dass sie heute zugleich den hundertjährigen Geburtstag und einen frischen Tod feiern kann. Wer auf die andere Seite des Flusses geht, der grossartigen Illumination den Rücken kehrend, aber auch das Quartier des lateinischen Geistes links liegen lassend, gerät in das andere Schauspiel eines militärischen Trauerprunks: Marschall Niel wird aus dem Kriegsministerium zur Invalidenkirche überführt. Da es aber nicht viele sein mögen, die beiden Feiern zuschauen, der rechts- und linksseitigen, wandern auch nur wenige Gedanken vom hundertjährigen Kriegsgott zum Heeresreformer, der zu früh starb.

Es ist ein lauter Feiertag, auch die letzte Ehrenerweisung für einen Marschall benötigt Trommel, Musik, Geläut und kriegerischen Salut. In Saint-Cloud aber ist es still, die Menschen schleichen durch das Schloss, die Bäume im Park rühren sich nicht, der Kaiser ist erkrankt, – aber er ist doch ein kranker Mann schon lange? Der Kaiser ist sehr krank.

Geschah es also doch durch die Undankbarkeit, die Generalkritik, die Rochefort-Losung, durch Keule und Stilett der täglichen Beschimpfung, dass er mürbe wurde oder noch mürber und nun daliegt, weiss Gott wie schlimm? Man sollte es kaum annehmen; denn er setzte dem jähzornigen oder tollwütigen Ausbruch der Freiheiten – der doch von ihm gewährten – eine eigentümliche Ruhe und Zuversicht entgegen, er war es doch, der auf das reine Wasser zu warten und an die Vorläufigkeit des widerwärtigen oder erschreckenden Schauspiels zu glauben befahl, er begegnete den Krawallen sowohl mit der Stadtgarde als auch mit der überlegenen Erklärung, dass Volksbewegungen die prinzipiellen oder personellen Konzessionen nur wieder unwirksam machen und dass eine Regierung, die Achtung vor sich selber hat, dem Druck der Strasse keinesfalls weicht: er fegte also nicht nur die Strasse wieder sauber – es war keine grosse Mühe –, sondern setzte auch sieben Pariser und zweiundzwanzig Provinzzeitungen in Anklagezustand und machte einen der bekanntesten und ausgesprochensten Männer der Rechten zum Kammervicepräsidenten und Grossoffizier der Ehrenlegion: und dann, dann fuhr er in den Reformen fort, in dem systematischen Abbau des persönlichen Regiments, im grundsätzlichen und personellen Zugeständnis. Schon war das Staatsministerium aufgelöst und seines Leiters Rouher vicekaiserliche Existenz gelöscht, ein Übergangsministerium, zwar noch mit mehr oder weniger altem Personal, gebildet und noch bis gestern dauerten die täglichen Reorganisationsbesprechungen mit der Kammer, die alle parlamentarischen Privilegien erhalten sollte, Unabhängigkeit vom Staatsrat, in der Gesetzgebung und Finanzgebarung, mit Initiativrecht, Interpellationsrecht; Besprechungen mit dem Senat, der wieder zur alten Pairskammer aufblühen sollte, – und beide Häuser würden Minister stellen können. Bis gestern arbeitete der Kaiser an seinem liberalen Reich, scheinbar durch nichts angefochten und der Zeitrechnung ersten Strassenfriedensbruch durch die Laternenmänner schon zwei Monate hinter sich, – und heute, am Napoleonstag, wird er sehr krank. Wer kennt sich in ihm aus?

Der Kaiser hat Rheumatismus und muss das Bett hüten, melden die Gazetten; denn die Strasse soll nicht nachträglich triumphieren. Nur die »Laterne«, Massenkonterbande roter Flecke aus Belgien, gibt triumphierendes Bulletin aus: »Gute Nachricht aus den Tuilerien: dem Kaiser geht es schlecht!«

Dem Kaiser ging es schlecht, man fand ihn in einem seiner tiefen Sessel, es war, als schliefe er, der Anblick war weder bedenklich noch ungewöhnlich. Aber er hörte nicht auf zu schlafen, er verkroch und verbiss sich in einen so tiefen Schlaf, dass er aus dem Sessel gehoben und ins Schlafzimmer getragen werden musste. Dieser Marsch der vier verstörten Diener mit der Last des starren und stillen Körpers, und hinter ihnen Doktor Conneau, der den wächsernen Kopf des Kaisers auf seinen Händen wie auf einem Kissen trug, zugleich fachmännisch und mütterlich, und Eugenie und Loulou neben ihnen, rechts und links, jeder eine gleichgültige Hand des Kaisers haltend, – dieser Marsch war von allen Aufmärschen des zweifachen Gedenktages der totenähnlichste. Conneau und die andern Ärzte konstatierten eine tiefe Ohnmacht, die tiefste und bedenklichste der Kaiserzeit; aber in den schlimmen Tagen, die folgten, drängte sich dem Ärztekonsilium immer wieder der Napoleonstag auf, gleichsam als böses Beispiel: nicht sein Zentenarfest, sondern seine Leichenfeier auf dem andern Ufer. Denn der Heeresreformer litt an der kaiserlichen Krankheit und er starb an der Vergiftung des Bluts durch die Substanz, die nicht mehr ausgeschieden wurde. Eilte der Kaiser seinem Marschall nach, mitten aus der Reichsreform durch Betäubung, Krämpfe, Fieber den gleichen Gang in den Tod, – fällt nun auch der schreckliche Todes reif der Urämie auf die Haut und überzieht sie mit dem Stoff, der das Blut zersetzt? Als die Haut unversehrt blieb und der gleichgültige Körper plötzlich wieder zu arbeiten begann, zu schwitzen, auszutreiben, auszuscheiden, kam die Hoffnung wieder auf und dahinter versank der Marschall Niel als Beispiel.

Bulletin der »Laterne«: »Schlechte Nachrichten aus den Tuilerien: dem Kaiser geht es besser.«

 

Der Kaiser sass in seinem Sessel, wie immer. Herzog Persigny, der alte Eiferer am Rande der Zeit, war endlich zur Audienz zugelassen worden, und als er ihn wiedersah, im Sessel wie immer, staunte er über so viel Hartnäckigkeit. Der Kaiser war doch sehr krank gewesen, todkrank, und er sprach nicht einmal über seine Krankheit, er antwortete auf die Fragen nach seinem Befinden knapp und abweisend. Der Prophet war mit einem Sack voll zorniger Zeitkommentare und Schwarzseherei gekommen – denn er hat ja recht gehabt in allem, und ihn überraschte die Krankheit des Kaisers nicht, ihn hätte nicht einmal sein Tod überrascht, so schlimm stand es mit der Zeit, der entsetzlich falsch behandelten –, der Prophet stand da mit seiner Eckart-Bürde und wagte nicht, sie abzuladen. Denn der Kaiser war zugleich vertraut und fremd anzusehn: er sah jünger aus. Das war mehr als erstaunlich nach alledem: es war nicht geheuer.

»Lieber Freund«, sagte der Kaiser kühl, »es ist seit je Ihre Sorge, mich über die schlechten, nichtsnutzigen oder wohlfeilen Charaktere der Männer meiner Umgebung aufzuklären. Zur Zeit ist es ja recht leer um mich, dafür haben der Tod und andere Umstände gesorgt, besser als Sie. Sie haben mir also einen Brief geschrieben, der mich über den Charakter der Kaiserin aufklärte, vornehmlich über die Gefahren, die dem Staat aus ihrem politischen Subjektivismus drohen, aus ihrer überaus weiblichen Art, Politik zu machen. Dieser Brief ist versehentlich von der Kaiserin empfangen und geöffnet worden. Sein Inhalt hat sie nicht erfreut.«

Der Prophet starrte den Kaiser an, und was er sah, was er jetzt entdeckte, war mehr als nicht geheuer, es war ungeheuerlich, man konnte darüber sogar die peinliche Eröffnung über die Eugenie-Kritik in den Wind schlagen. Der Kaiser war jünger geworden. Haar und Bart waren wieder dunkel geworden, auch die Braue, ja, auch die Wimper, und auf der mürben Wange sass eine ganz diskrete Röte. Der Prophet kannte sich mit den Künsten der Kosmetik aus; denn auch bei ihm gab Haar und Bart der Zeit nicht nach, nur an den Schläfen glänzte das echte Silber, wie es der grosse Alfred d'Orsay für den interessanten Mann vorgeschrieben hatte. Aber warum hielt sich Persigny so mit allen Künsten jung? Weil bisher doch der Kaiser, der Gleichaltrige, gegen das Altern gleichgültig war und weil es zu den Pflichten des Paladins gehörte, für ihn und gegen die ewige Attacke des Lebens auch den jugendkräftigen Schein zu wahren. Jetzt aber, wo der Prophet den Tod schon sieht, das grosse Sterben der Idee: jetzt wird der Kaiser schaurig jung und dankt ihn ab.

»Es ist ein Vorteil«, sagte der Kaiser, »dass die Kaiserin durch die Vorbereitungen ihrer Orientreise ungemein beschäftigt ist.«

»Für wen ein Vorteil?«, fragte Persigny mit sonderbar leiser Stimme.

Der Kaiser hob das verjüngte Gesicht und sagte nach einer Pause: »Für mich. – Und wenn sie fort ist: für die Regierungsbildung.«

»Sie werden mit der Linken regieren, Majestät?«, flüsterte Persigny.

»Auch mit der Linken.«

»Ollivier«, flüstere Persigny, der Name kam ihm kaum aus der Kehle.

Der Kaiser überhörte es. Er sagte: »Als Niel starb, ging es mir schlecht.« Er presste die Lippen zusammen, so als habe er schon zu viel gesagt. »Aber möglicherweise«, sagte er dann, »hat die Opposition recht, die die Heeresreform Nielscher Observanz als übertrieben und unnotwendig bekämpft.«

»O ja!«, stöhnte der Prophet, »die Opposition hat recht!«, und sein Gesicht war ganz verbogen. Er war zum alten Eisen geworfen.

»Ich bin vollkommen allein«, sprach der Kaiser, »ich habe keinen Menschen mehr. So muss ich doch ans andere Ufer gehn. So muss ich doch mit dem Neuen beginnen.«

Er hätte sterben müssen, wir hätten sterben müssen, dachte der Prophet, so brauchte ich nicht mehr zu sehn, wie er jetzt aussieht, so brauchten wir nicht mehr das zu erleben, was kommt.

Dann weinte er auf, warf sich über die Hand des Kaisers und trat ab, ein dramatischer Mann.


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