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Franceschini Pietri stand vor dem Schlafzimmer des Kaisers. Es war fast zwölf Uhr nachts, es war der 3. Juli. Regen rauschte auf die Bäume des Tuileriengartens, sonst war es still, so still, wie es sein musste, wenn der Kaiser schlafen wollte. Franceschini sah sich um, der Leiblakai im Vorraum stand still und blass neben seinem Stuhl und schaute ängstlich auf den gefürchteten Geheimsekretär, der sich eine ungewohnte und unziemliche Stunde für das Dienstgeschäft ausgesucht hatte. Denn er trug die rote Ledermappe unter dem Arm. Franceschini wies auf die Schlafzimmertür, legte für einen Augenblick, die Augen schliessend, die Wange in die Hand und zeigte dann wieder auf die Tür. Der Lakai hob die Achseln: wie sollte er wissen, ob der Kaiser schon schlief? Franceschini dachte: wenn er schon schläft, nehme ich es auf mich, ihn damit nicht zu wecken. Der Sekretär schaute finster und dachte dennoch solche zarten Gedanken. So finster und zart dienten alle Pietris dem Kaiser; und auch der Leiblakai liebte den guten Kaiser, von dem niemand noch je ein böses Wort zu hören hatte, und er schaute ängstlich auf den finsteren, dienstlichen Störer der Kaiserruhe, eine heilige Ruhe in diesen Räumen: er konnte ja nicht Pietrische Gedanken lesen.
Franceschini öffnete mit grosser Vorsicht auf einen Spalt die Tür, die nicht knarrte. In diesen Räumen knarrte keine Tür, auch kein Stiefel. Im Schlafzimmer war noch Licht. Der Kaiser sass in einem tiefen Sessel neben dem Bett und sah ins Leere. Franceschini schloss wieder die Tür mit grosser Vorsicht. Dann klopfte er.
Der Kaiser trug einen flauschigen, grauen Schlafrock, auch der Sessel war grau, von der gleichen Farbe dicken Nebels. Der Kaiser hob das Gesicht dem Sekretär zu, aber die Augen waren geschlossen; man hätte meinen können, er habe geschlafen und komme nicht los vom Schlaf.
»Ein Unglück?«, fragte er mit wacher Stimme.
»Für Österreich«, antwortete Franceschini und entnahm der Mappe eine Mitteilung des Grafen Goltz, die den Inhalt der zu später Abendstunde in der preussischen Gesandtschaft eingetroffenen Siegesdepesche wiedergab, und ein Telegramm von Benedetti aus Berlin, das Benedeks Niederlage nicht nur bestätigte, sondern auch in ihrer entscheidenden Grösse recht eigentlich erst darstellte. Goltz schrieb vom Sieg bei Königgrätz, Benedetti von der Niederlage bei Sadowa: es war ein und dasselbe.
Der Kaiser las langsam die beiden Blätter, ein wenig sich der Nachttischlampe zuneigend. Franceschini sah genau hin: die Blätter kamen nicht ins Zittern. Der Kaiser gab sie dem Sekretär zurück.
Franceschini fragte: »Soll das Zweite Bureau die Presse anweisen …«
»Nein«, unterbrach der Kaiser und schirmte die Lampe ab.
Heute ist der 3. Juli, heute, als in Nordböhmen die Schlacht tobte, war Goltz, der angenehme Kavalier, bei dem Kaiser, bei dem er wohlgelitten war, und zeigte seine Zuversicht. – »Aber Sie wissen, Goltz …« – Der Gesandte durfte zuversichtlich sein, Hannover, Dresden, Kassel: der Reisige ritt an den Main mit schnellen, scharfen Hieben; doch es sind Schläge gegen die kleinen Feinde, 17., 18., 19. Juni, und am 24. Juni schlug der grosse Feind im Süden den Verbündeten bei Custozza und im Norden steht der grosse Feind in Böhmen, – Goltz soll nur zuversichtlich sein. »Aber Sie wissen, Goltz, Preussens grosse Rolle wäre nicht möglich ohne meine Neutralität …«
Draussen rauschte der Regen, einschläfernd. – Vielleicht ist er eingeschlafen, dachte der Sekretär; was unsereinen erregt, das treibt ihn in den Schlaf, den kranken Mann …
»Lieber Franceschini,« sprach der Kaiser mit wacher Stimme, »schicken Sie doch bitte eine Ordonnanz … Nein, fahren Sie doch selber, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mit den Depeschen zum Herzog Persigny, und wenn er noch nicht zu Bett ist und es ihm nichts ausmacht, so können Sie ihn mitbringen.«
Die Stille ist gross. Der Regen, der rauscht, gehört zur Stille wie das Blut, das rauscht.
Am 3. Juli war Sadowa.
Der Prophet war ein lärmender Mann, er konnte nicht anders, er passte nicht in die Stille, die Welt war laut und hörte nicht mehr auf ihn, dieses Zimmer war leise, hier war eine taube Luft, er musste sich vernehmlich machen. Hier waren zwei Gleichaltrige: wer möchte es glauben? Hier stand der älteste Paladin und Reichsgründer vor einem nebelgrauen Haufen, einem Sessel und einem Menschen, und der Kauernde war der Kaiser.
»Haben mich Eure Majestät rufen lassen, um meine Meinung zu hören?« Der Kaiser rührte sich nicht. »Meine Meinung ist, dass das, was heute in Böhmen geschah, die Schuld des Kaisers der Franzosen ist. Sind Eure Majestät mit der Weltgeschichte zufrieden? Der Wiener Kongress ist endlich zusammengeschlagen worden, wie höchsten Orts erwünscht. Darf man gratulieren? Zentraleuropa hat den Riss bekommen, aber nicht die Risse, auf die der aufmerksam Neutrale möglicherweise gelauert hat, um die Teile nach seinem Geschmack wieder zusammen zu kleben. Denn nicht beide Gegner liegen auf der Walstatt, wie höchsten Orts erwünscht, sondern nur einer.«
Der Kaiser hob die Hand und fingerte durch die Luft, wie er zu tun pflegte, wenn er, in Eugenies blauen Salon tretend, die aufspringende Gesellschaft bat, es sich nicht unbequem zu machen. Aber er sagte nichts.
Der Prophet sprach: »Ich war der einzige, der vor Mexiko warnte, ungehört. Jetzt ist der Abbruch des Abenteuers die Tragödie für den Hineingelockten, aber auch für den Protektor, der sein Wort verpfändet hat, die Fortführung jedoch ist Revolutionierung des Volkes. Und wenn die aufmerksame Neutralität im Deutschen Krieg eine Spekulation war, deren Gewinn den Mexiko-Verlust wettmachen sollte, so ist sie bei Sadowa ebenfalls geschlagen. Ich war der einzige, der in Biarritz vor dem Preussensieg warnte, ungehört. Eure Majestät haben nicht Nein gesagt. Ich habe noch im April, als die Vorkriegsstockung eintrat, das österreichische Angebot von Venetien gegen Preussisch-Schlesien vermittelt und das Bündnis Frankreich-Österreich-Italien angeregt, ungehört. Eure Majestät haben die Stockung beseitigt, Herrn von Goltz zum Mitbieten aufgefordert und Florenz wieder zu Berlin gebracht. Ich habe im Mai die Idee des autonomen rheinischen Pufferstaats im Geheimen Rat vorgebracht, um den Kaiser des Nationalitäten-Prinzips vor dem Widersinn einer französischen Rheinprovinz zu bewahren, vor dem politischen Wahnsinn eines Rhein-Venetiens, und dennoch die Grenze strategisch zu gewinnen. Ich umriss, auf der Basis der vollkommen territorialen Wunschlosigkeit des Kaiserreichs, das Kontinentalbündnis zwischen Frankreich, Preussen, dem die deutsche Hegemonie und die Aufsaugung von Sachsen, Hannover und aller Kleinstaaten nördlich des Mains gegen die Abtretung Schlesiens an Österreich zugestanden wird, Österreich, das Venetien an Italien abgibt, und dem saturierten Italien. Ich setzte meinen Kopf zum Pfand, dass ich als ausserordentlicher Botschafter in Berlin, Wien und Florenz innerhalb zehn Tagen zum friedlichen Ziel und zur neuen Ordnung Europas gelangen würde. Aber was ist der Kopf eines Maniaken für ein Pfand? Die Regierung Eurer Majestät hat zwischen der Zwangsjacke und dem Gelächter einen Augenblick geschwankt und sich dann für das letztere entschieden. Im Juni dann wurde nach höchst schwieriger, wenn auch wohl assistierter Entbindung der Krieg geboren. Heute ist der 3. Juli und Sadowa.«
»Ich habe Sie nicht kommen lassen,« sagte der Kaiser endlich, mit wacher Stimme, »um Ihr Ressentiment, sondern um Ihre Meinung zu hören.«
»Meine Meinung ist, dass Eure Majestät das europäische Ereignis von Sadowa vor der Nation zu verantworten haben werden. Das Zusehen kann nur verantwortet werden, wenn es einen ganz bestimmten Sinn hätte. Ich glaube also schon seit Monaten, ja, schon seit Biarritz, dass Eure Majestät ein Geheimabkommen mit Bismarck abgeschlossen haben.«
»Nein«, sagte der Kaiser.
»Die Kompensationen!«, rief Persigny.
»Nein«, sagte der Kaiser, »Bismarck hat nichts Bestimmtes versprochen, weil er mit dem Sieg rechnete. Ich habe nichts Bestimmtes verlangt, weil ich nicht mit dem Sieg rechnete. Wäre ich Bismarck, so würde er auf meine Dankbarkeit rechnen können. Sehen Sie auch so schwarz vom 3. Juli in die Zukunft?«
Der Prophet schwieg und plötzlich setzte er sich auf das Bett, auf das Bett des Kaisers. Es waren doch auch Stühle da.
»Ich wollte Sie fragen«, meinte der Kaiser sanft, »ob wir noch so hartnäckig sind wie in Biarritz.«
Der Prophet starrte ins Graue des Sessels und des Menschen, als untersuche er es auf die Hartnäckigkeit hin. Aber er sagte nichts, obgleich sich seine Lippen ziemlich rasch bewegten.
»Sonst müsste ich abdanken«, flüsterte der Kaiser.
Der Prophet sprang auf, hob die Arme und schüttelte sie. »Das habe ich nicht gehört!«, schrie er, »das habe ich nicht gehört!«, und dann schluchzte er.
»Wie peinlich!«, flüsterte der Kaiser, »das ist mir peinlich, Persigny.«
Doch der Prophet war ausser sich, ausser der höfischen Gesittung. Er lief im Zimmer hin und her. »Intervention!«, rief er, »sofortige Intervention, wenn nötig: bewaffnete Intervention!«
Vor dem Wind, den er machte, schloss der Kaiser den grauen Schlafrock am Halse.
Eine kleine Stunde vor dem Ministerrat des 5. Juli betrat der angemeldete Aussenminister das Arbeitskabinett des Kaisers. Nun war jeder Tag wichtig geworden, und der 4. Juli, der Wiens erstaunliches Gesuch um den Ausgleich mit Italien zugleich mit der Überantwortung Venetiens in die Treuhände des Kaisers nach Paris brachte, hatte das Zentrum der europäischen Politik wieder in diesen Raum mit den grossen Wandkarten und dem grossen Geheimschrank verlegt. Wenn so durch das Unternehmen Österreichs die Erschütterung des Sadowa-Tages abgefedert und ungefähr in jene schiedsrichterliche Ausgleichsstellung gemindert worden war, die ja dem Sinn des Kaisers entsprach und ihm auch schmeicheln musste, und wenn es ein Zeichen des kaiserlichen Gefallens an der plötzlichen und dennoch gewohnten Rolle war, dass er sofort nach Empfang des Wiener Telegramms die Depeschen mit dem Waffenstillstandsvorschlag an die Herrn Brüder Wilhelm und Viktor Emanuel abfertigte, so war die Zeit für den Aussenminister, den geduldeten, aber hartnäckigen Freund Österreichs gekommen, die Zeit für entschiedene Politik. Doch da bei dem unerforschlichen Herrn alles bedingt war und seine Politik ein Rätsel von je, nach dem harten Wort Walewskis für den Portier des Aussenministeriums so gut oder so schlecht verständlich wie für den Amtsleiter selber, und da Freund Metternich, der österreichische Botschafter, nicht zu wissen brauchte, wie schwierig und folgenschwer das Wiener Verlangen in Wirklichkeit sei – das Verlangen, das jener, der den Knoten zwischen Berlin und Florenz geschürzt hat, ihn lösen oder durchschneiden und die genau gegensätzliche Verknüpfung herstellen soll –, so war für Herrn Drouyn de Lhuys jede Stunde wichtig, zumal die kleine Stunde vor dem Ministerrat. Warum sollte ihm nicht einmal und unter günstiger Konstellation das gelingen, was zum Beispiel dem Grafen Goltz fast jeden Tag gelang; die Privatstunde, das Gespräch unter vier Augen, die intime Politik, die diskrete Beeinflussung. Und wie er so den Kaiser vor sich sitzen sah, einen aufmerksam stillen Zuhörer – vielleicht ist es nur der tiefe Sessel, der die Schläfrigkeit dem Bilde zufügt –, fühlte er sich nicht nur merkwürdig ermutigt, sondern immer mehr zu reden berechtigt. Denn Sadowa, am 3. Juli eine scheinbare Entscheidung, konnte schon am 5. Juli zu einem noch nicht entscheidenden Ereignis zurückgedrückt werden, wenn man nur wollte, wenn man nur die Entscheidung für die eigene Politik annahm. Der Waffenstillstand mit Preussen war ja in diesem Sinn nur Zeitgewinn, bis die Südarmee durch die Venetien-Transaktion frei würde und zu Benedek nach Böhmen stossen könnte: dann erst würde die Entscheidung fallen, und sie wäre in dem Augenblick voraussehbar, wenn sich gleichzeitig auch die französische Politik im parallelen Sinne entschiede.
»Bei alledem vorausgesetzt«, meinte der Kaiser freundlich, »Italien hat dazu Ja und Amen gesagt.«
»Auch das hängt ja nur von der entschiedenen Politik Eurer Majestät ab«, antwortete der Mutiggewordene.
»Die Kaiserin hat die gleiche Meinung«, sagte der Kaiser.
Waren diese Worte eine neue Ermutigung? Hatte der Schock von Sadowa den Schwankenden in den heilsamen Entschluss gestossen?
»Majestät«, sagte der Minister und presste die Handflächen zusammen wie zum Gebet, »um die entschiedene und, ja, die entscheidende Politik einzuleiten, empfehle ich auf das dringlichste drei heute noch zu beschliessende und sofort im »Moniteur« zu veröffentlichende Dekrete: erstens Einberufung der Legislative, zweitens Auflage einer Anleihe, drittens …« – er stockte, die Handflächen waren nass; doch der Kaiser schaute ihn aus den müden Äuglein freundlich an – »drittens die Aufstellung einer Beobachtungsarmee an der Ostgrenze.«
Der Minister hielt den Atem an. Der Kaiser strich mit dem Zeigefinger die Augenbraue entlang, immerzu. »Das wäre ja bereits die bewaffnete Intervention«, stellte er dann fest, mit freundlicher Stimme.
»Nur eine Demonstration, Majestät!«, rief der Minister und hakte die Hände ineinander, dass die Gelenke knackten, »und sie erlaubt uns dann, Preussen die notwendige Mässigung nicht nur anzuraten, sondern auch aufzuerlegen, und der Kriegsminister, von dem ich eben komme, kann sofort und ohne weiteres 80 000 Mann auf der Linie Strassburg-Hagenau-Saargemünd massieren …«
»Sehr gut«, unterbrach der Kaiser freundlich, »Ihre Vorschläge sind sehr beachtenswert, Herr Drouyn de Lhuys, unterbreiten Sie sie dem Ministerrat.«
War das der Sieg? Aber gab es nicht noch starke Gegner, die Preussenfreunde oder Österreichfeinde, also die Kaisergünstlinge in der Regierung, den mächtigen Rouher und den Innenminister, einen unleidlich liberalen Gentleman? Der Aussenminister lächelte gequält. »Eure Majestät gestatten mir eine Frage, ohne sie mir zu verdenken: werden Eure Majestät Herrn Rouher noch vor dem Ministerrat von meinem Vorschlag in Kenntnis setzen?«
»Wir hatten ein Privatgespräch«, sagte der Kaiser und lächelte.
Der Minister dankte; aber er ging noch nicht. »Herr de La Valette ist nicht geladen worden«, meinte er leise, vielleicht war es eine Frage. Der Kaiser brauchte darauf nicht zu antworten; denn der Aussenminister war ja heute der Rats-Einberufer. Herr Drouyn de Lhuys verbeugte sich dankbar und ging.
Der Kaiser sass im Sessel und sah dem Rauch der Zigarette nach. Dann sah er auf die Uhr und läutete nach dem Sekretär Pietri. –
Während der Kaiser die Kaiserin zum Ministerrat abholte, fuhr der Sekretär Pietri in einem Fiaker zur Place Beauveau, dem Amtssitz des Innenministers.
In der Mitte des Ministerratszimmers stand der grosse runde Tisch mit der grünen Plüschdecke, die faltenreich bis auf den Teppich hing. An der Fensterwand hinter dem tiefen Sessel des Kaisers stand die Canovabüste des Kriegsgottes. An der Türwand hinter dem Sesselstuhl der Kaiserin hing Winterhalters lebensgrosses Bild von der schönsten Kaiserin mit der Krone, darunter stand auf der geschweiften und mit üppigem Zierat versehenen Konsole die Büste des Kaisers, zwischen zwei siebenarmigen Prunkleuchtern. Die Büste des Kaisers war für die am Tisch durch die Kaiserin verdeckt; aber ihr schönes Bild leuchtete hinter ihr. Die Herme des Kriegsgotts war für die am Tisch hinter dem Kaiser zu sehen; denn der Kaiser sass niedrig und die Büste stand auf ziemlich hoher Säule. Der Kaiser sass niedrig und nach seiner Gewohnheit in den Sessel gekauert, die Kaiserin sass erhöht und überaus aufrecht, wie immer: sie schien zu präsidieren.
Eugenie war nun vierzig, sehr blond, immer noch sehr schön, das Alter berührte sie mit dem leichtesten Finger und hatte ein schweres Machen bei ihr, da ihre Schönheit hart wurde wie Stein; und wäre nicht ihr betäubend schönes Bild im Hintergrunde leuchtend aufgerichtet, so würde nicht einmal die mühselige Werkelei der Zeit in ihrem Antlitz festzustellen sein. Da die Zeit, die sie gemach von der Zeit ihres Bildes entfernte, der zart-festen und glatten Haut ihres Gesichts kaum viel anhaben konnte, arbeitete sie an dem Antlitz ganz verstohlen auf andere Weise: sie setzte sich unter dem Kinn fest, lockerte leicht die Linie zum Hals, die untere Hälfte des Ovals unmerklich ausbuchtend, sie hängte sich, schien es fast, an die edel-lange und wunderbar geschnittene Nase und zog ein wenig, zog an, und sie klopfte sehr vorsichtig und ganz langsam das höchst empfindliche und nachgiebige Fleisch zwischen Backenknochen und Augen auf, durchaus noch nicht zum Hügelchen oder gar zum Sack, aber doch zur winzigen Erhöhung: und das geschah auf Kosten der Märchenaugen. So senkte sich ein ganz gelinder, beileibe noch nicht entstellender und nur die Entwicklung des Zeitwerks verratender Anflug von Eulenhaftigkeit über das Gesicht, das in dieser Stunde von zweifacher Gespanntheit war: durch die Natur der harten Schönheit und durch das Fieber der Politik. Ach, es war ja nun nicht mehr Politik, das spielerische Wort, das vom Vertreib der Zeit bis zum Trieb reichte, aber doch nicht Genügendes aussagte. Es war ja nicht das, was die Welt meinte: nicht der Tätigkeitsdrang der betrogenen Frau und nicht die tätliche Abneigung gegen den betrügerischen und trughaften und spukhaften Mann, die sie immer tiefer in die Politik rissen, in die politische Opposition, in den Klerikalismus und Legitimismus, und die sie schliesslich zum Mittelpunkt aller von Rom und Wien nach Paris laufenden Fäden machten, zur Empfängerin und Bearbeiterin aller römischen und österreichischen Wünsche. Es war schon immer Angst gewesen, seit dem Augenblick der krachenden Orsinibomben, als sie zu arbeiten begann, Angst um den Märchenthron, und das hiess: um den Sohn. Die Angst lag immer unten, tief unten zuerst, und dann hob sie sich langsam, und die Politik, recht äusserlich zuerst, senkte sich langsam in sie ein. Aber es blieb immer noch der Zwischenraum des kaiserlichen Daseins, der vollkommenen Repräsentation zwischen der Angst und der Politik, es blieb immer noch die goldene Isolierschicht des Märchenglücks, – selbst nach Biarritz, wo sie zwar vergeblich um das Kriegs-Nein gebettelt hatte, doch auch kein Kriegs-Ja zu hören bekam, wohl aber viele Gerüchte, die gutösterreichisch klangen. Vorgestern aber war Sadowa, und das war der Schlag, der sie traf, der Einschlag, der die Märchenschicht durchschlug und die Politik in die Unterwelt der Angst stiess. So kam ihr Fieber und von solcher Art war es.
Der Aussenminister war ihr Vertrauensmann in der Regierung, und die entschiedene Haltung, die er jetzt empfahl und wahrlich gut begründete, war ihre Haltung. Denn die Angst des Herzens verriet sich nicht, nicht bei ihr. Und bei ihm, dem Kaiser? Bei ihm verriet sich die Krankheit des Körpers, – oder vielleicht war es so: der kranke Körper verriet das rätselhaft mutige Herz. Auf dem kleinen Gang zu diesem Raum hatte er ihr höflich und beiläufig gesagt, dass Herr Drouyn de Lhuys soeben bei ihm gewesen sei. Lieber Gott, sie hatte doch den Minister zu ihm geschickt – war das alles? – »Es ist viel dran«, hatte der Kaiser im letzten Augenblick gesagt, und schon öffnete der Huissier den Vorraum zum Ratszimmer.
Der Aussenminister sprach zur Kaiserin hin oder zum Bild der Kaiserin; denn sein Blick ging über sie hinweg. Doch immer, wenn er die Stimme hob oder wenn die Stimme in Erregung bebte, sah er sie an, – immer auch, wenn er ein Argument zu Ende geführt hatte. Dann warf sie ihre Zustimmung ein, mit heiserer und heftiger Stimme. Als er schwieg und sich setzte, legte sie die schönen, weissen Hände flach vor sich auf die grüne Decke, hob das Kinn und sagte: »Ich bemerke zusammenfassend.«
Die Minister sahen sie an. Über der Nasenwurzel sass jetzt ein kleiner, harter Strich zwischen den gewölbten Brauen; aber selbst diese Falte blieb nicht, sie züngelte auf und verschwand, beinahe rhythmisch. Der Kaiser sah sie nicht an, er sah auf die grüne Decke, eine wohltuende Farbe.
»Die Rheinlinie«, sprach Eugenie, »ist preussischerseits von Truppen so gut wie entblösst. Der Herr Kriegsminister bestätigt es.«
Marschall Randon zuckte mit den weissen Brauen: »Ein dünner Truppenschleier«, sagte er.
Ein Crayon klopfte leicht auf eilig beschriebenes Papier, Herr Staatsminister Rouher, der Protokollführer, erlaubte sich mit tönender Stimme eine Zwischenbemerkung: »Das ist kein Leichtsinn; denn Frankreich hat seine Neutralität erklärt.«
Es entstand eine kleine Stille, und nun schauten alle Herren auf die grüne Decke, auch der Zwischensprecher. Eugenie, leicht erkältet, hustete. Dann sagte sie aufgerauht: »Die Rheinprovinz ist also ungeschützt, die süddeutschen Kontingente sind noch so gut wie intakt, Österreich zwar schwer geschlagen, aber noch nicht am Ende, sondern aufrichtbar, wenn wir Italien anhalten und uns am Rhein zeigen. Ich glaube, da gibt es nach alledem keinen Widerspruch.« Eugenie schaute im Kreise herum, und der eilig schreibende Rouher spürte, dass ihr Blick auf ihm hängen blieb. Der Kaiser schaute aus kleinen Augen vor sich hin und sah aus, als fühle er sich nicht der Tischrunde zugehörig und als fühle er jetzt nicht ihren langen, suchenden Blick.
Eugenie hustete. »Herr Kriegsminister«, sagte sie, und der Marschall zuckte mit den weissen Brauen, »besteht eine irgendwie bedenkliche Relation zwischen der mexikanischen Inanspruchnahme unserer Effektivkräfte und der Erfüllung des Dekrets über die Aufstellung des Rhein-Beobachtungskorps?«
»In bedingtem Sinne«, knarrte der Marschall, und jetzt zuckten auch die Schultern mit dem Schüttergold der Epaulettenfransen. »Mexiko ist nicht so sehr quantitativ wie qualitativ anspruchsvoll, zumal hinsichtlich des Offizierskorps, – und dann hat es bekanntlich aus budgetären Gründen zwecks möglichster Verringerung der Anschaffungskredite und Vermeidung ihrer öffentlichen Kritik die Arsenale bedenklich geleert. In bedingtem Sinne heisst also: wenn aus dem Dekret mehr entsteht als die Beobachtung oder die Demonstration.« Der Sprechende schaute auf den Kaiser, nicht auf die Kaiserin. Aber er war es doch, der nach Sadowa gesagt hat: ›Wir sind es, die geschlagen wurden‹.
»Es soll ja nicht mehr entstehen!«, rief Eugenie gereizt und rauh. »Die Frage lautet unbedingt!«
Der Marschall blinzelte aus weissen Wimpern zu ihr hin. »Dann bestehen keine Bedenken«, knarrte er, »80000 Mann können kurzfristig aufgebracht und an der Ostgrenze massiert werden.«
Eugenie zog die Hände vom Tisch und sass kerzengerade auf der Sesselkante. »Gut«, sagte sie und wurde immer heiserer, »das genügt für die Demonstration, und die Demonstration genügt für den moralischen Druck. Denn ich weiss aus sehr guter Quelle, meine Herren, dass die preussische Armee, zwar siegreich und siegestrunken, doch furchtbar geblutet hat – zehntausend Tote und Verwundete, meine Herren! – und dass sie erschöpft ist von den Gewaltmärschen, und ich weiss, dass sie an Krankheiten leidet, an Seuchen, und ich weiss auch an welcher Seuche, – Cholera!«
Als sie das böse Wort ausrief, misstönig und triumphierend, hob der Kaiser langsam den Kopf und sah sie an, die Fee der Spitäler, und dann senkte er wieder das Gesicht. Es war still am Tisch.
Eugenie hustete und behielt, leiser sprechend, das Taschentuch am Mund. »Herr Drouyn de Lhuys, haben Sie zum Abschluss der Debatte noch etwas zu sagen?«
Der Aussenminister erhob sich, fügte die Handflächen zusammen und sah auf das Wandbild der Kaiserin: »Ihre Majestäten, meine Herren, die Entschiedenheit, die notwendig ist, bedeutet Unverzüglichkeit. Die entschiedene Politik, die ich vorschlug und begründete, ist nur dann sinnvoll und erfolgreich, wenn sie sofort angenommen und ausgeübt wird, wenn sie dem Sieger keine Zeit lässt, den Sieg zu konsolidieren, und wenn unsere Politik ein für allemal ihre Integrität, Uneigennützigkeit und Unbestechlichkeit zeigt, alles wirre Kompensationsgerede Lügen straft, alle diese rheinischen, belgischen, luxemburgischen Gebietsgelüste als Popanz entlarvt. Dann haben wir ganz Europa hinter uns. Die Dekrete sind also ein Sofortprogramm, müssen es sein. Der Direktor des »Moniteur« ist von mir angehalten, den zu beschliessenden Text sofort in Empfang zu nehmen, um sie auf jeden Fall morgen früh zu publizieren. Redaktion und Druckerei werden die ganze Nacht in Bereitschaft stehen.«
Was dann geschah, war im Raum und in der Stunde der Beratung noch nie geschehen, es war unfasslich. Die Tür ging auf und jemand trat ein. Hier war das Schloss des spanischen Zeremoniells, der Raum, in dem die Krone mit den wichtigsten Mitgliedern der Regierung tagte, es gab im Reich keine höhere Gewalt, keine mehr zu respektierende Versammlung von Macht und Würde, keine beschütztere und ungestörtere. Die Tür ging auf und jemand trat ein: der Geist des Kriegsgotts?, die Vorsehung? Es war ein schlanker Mann in mittleren Jahren, mit ernstem und festem Gesicht und silbrig angetuschten Schläfen: Herr de La Valette, der Gentlemanminister des Inneren. Eugenie sprang auf. Aber so gross war die Verwirrung der Tischrunde, dass sie sitzen blieb, während die Kaiserin stand. Und so verworfen und ausser allem Herkommen, gleichsam ausser Rand und Band war die Szene, dass der Eindringling an der Kaiserin vorbei schritt, an der empörten und stehenden, und sich unmittelbar neben den Sessel des Kaisers stellte, an ihn das Wort richtend, nur an ihn: »Majestät, ich habe erst vor zwanzig Minuten erfahren, dass der Ministerrat tagt. Ich habe die Ehre, die Geschäfte des Innern zu leiten, und dadurch das verfassungsmässige Recht, dem Ministerrat mit beratender und beschliessender Stimme anzugehören. Wenn Eure Majestät befehlen, dass ich mich zurückzuziehen habe, so bedeutet es selbstverständlich den Rückzug aus meinem Amt.«
Der Kaiser war der einzige gewesen, den der Zwischenfall nicht erregte. Jetzt hob er die Hand von der Sessellehne und fingerte begütigend durch die Luft. »Aber was denn«, meinte er freundlich, »es ist mir ja sehr recht, dass Sie da sind. Nehmen Sie bitte Platz. Es gab bisher ohnedies nur Monologe und Chorgesang.«
»Was bedeutet das?«, fragte Eugenie, und jetzt bebte doch ihre Stimme. Der Kaiser überhörte es, er übersah auch, dass sie immer noch stand. Sie setzte sich und hatte ganz dünne Lippen.
Die Stirn des Aussenministers war rot und seine Nase weiss. Er sagte angestrengt: »Die Beratungen betreffen in keiner Weise das Ressort meines ehrenwerten Kollegen. Deshalb …«
»Die Beratungen«, meinte der Kaiser, und es war, als unterbräche er keine Rede, »betreffen die Umstülpung der bisherigen Neutralitätspolitik zur Interventionspolitik, und es sind beachtliche Gründe aufgeführt worden …« Der Wortkarge und Schläfrige hätte es sich bequem machen und den Staatsminister Rouher auffordern können, dem Eindringling das Sitzungsprotokoll vorzulesen; aber er tat es nicht, er sprach selber, mit leiser und wohllautender Stimme, er wiederholte alle Argumente und vergass nichts, er teilte auf das genaueste die Aussagen und Anmerkungen des Aussenministers, Eugenies, des Marschalls mit, er unterschlug nicht einmal den Rouherschen Zwischensatz, – er hat gut zugehört, sein Kopf ist gut.
Eugenie rief sehr nervös: »Die Dekrete sind bereits so gut wie beschlossen!«
Das war unvorsichtig. Der Kaiser meinte leise und höflich: »Herr de La Valette ist ja noch gar nicht zu Worte gekommen. Ich übrigens auch nicht.«
Der Innenminister erhob sich. »Ist eigentlich bisher noch nicht bemerkt worden, dass die Politik, die der Herr Aussenminister empfiehlt …«
»Ich empfehle sie auch!«, unterbrach Eugenie böse.
Der Gentleman verbeugte sich leicht. »... dass diese sogenannte entschiedene und angeblich integre Politik Partei ergreift, nämlich die österreichische?«
»Nein!«, rief Eugenie, »das ist nicht bemerkt worden, weil wir auf das Wohl Frankreichs schauen, auf nichts anderes. Also ist die entschiedene und integre Politik die französische!«
Der Gentleman verbeugte sich leicht. »Die Wiege dieses französischen Wohls steht aber nicht in Frankreich, und deshalb wird es uns fern und fremd bleiben.«
Man war still, der Kaiser hob den Blick, aber nicht den Kopf. Über dem Zimmer stand jetzt das Wort, das schon lange über dem Reich stand, das Wort von der Fremden. Die Fremde, die Spanierin. Eugenie aber sass kerzengerade, sie verstand es nicht.
»Meine Meinung ist,« sprach Herr de La Valette zum Kaiser hin, »dass unser Wohl nach wie vor in der Neutralität liegt und unsere würdige Aufgabe in der Vermittlung. Und unsere Vermittlung kann nur Erfolg haben, wenn sie besonnen und friedlich ist. Kriegerischer Apparat ist logischerweise das Gegenteil davon.«
»Steht der heilsame Zwang zum Frieden ausserhalb Ihrer Logik?«, fragte Eugenie.
La Valette wandte ihr das Gesicht zu. »Ja, Madame, weil ich den Zwang zum Frieden, wie er hier geplant ist, nur als eine heillose und unheilvolle Zwitterform des Krieges zu sehen vermag, und dann, weil noch anderes erzwungen werden soll als der Zwitter, nämlich der Zweifel an uns.« Mit einemmal war seine kühle Stimme mit Erregung geladen. »Ist eigentlich bisher noch nicht bemerkt worden, dass die sogenannte integre Politik das Ansehen der Krone aufs Spiel setzt?«
»Herr Minister!«, rief die Kaiserin schrill. La Valette wartete, doch Eugenie sagte nichts mehr. Sie schaute auf den Kaiser, der sich langsam aus der kauernden Haltung gelöst hatte und nun mit vorgebeugtem Körper dasass, den Rücken krumm und den angehobenen Kopf halslos zwischen den Schultern, seltsam neugierig. Auch La Valette blickte ihn an.
»Ist es mir erlaubt, weiter zu sprechen?«, fragte er.
»Aber ja, aber ja!«, sagte der Kaiser ungeduldig.
»Der Kaiser«, sprach La Valette und sah ihn an, »hat das Bündnis zwischen Preussen und Italien gestiftet. Kann er heute Viktor Emanuel zum Meineid raten?«
»Meineid …«, wiederholte der Kaiser ganz leise und legte, vorgebeugt sitzend und zum Sprecher aufblickend, mit einem Ruck die Hände auf die Seitenpolster, so als wollte er sich hochziehen.
»Ein Bündnis ist kein Schwur!«, rief der Aussenminister kehlig, stumm bisher, er wollte wohl die zugeschnürte Kehle freirufen, »nur ein gebrochener Schwur ist …« Er brach ab, seine Stirn war dunkelrot.
»Was heisst denn Meineid!«, rief Eugenie mit ihrer schartigen Stimme, »was sind das für Ausdrücke im Zusammenhang mit der Krone!«
»Majestät«, fragte La Valette, »habe ich den Ausdruck zurückzuziehen?«
»Nein nein nein«, sagte der Kaiser ungeduldig, »das hier sind keine Stilübungen!«
»Bitte, Herr de La Valette!«, rief Eugenie und stach mit dem Zeigefinger auf den Tisch, »um was kämpfte denn Italien? Um Venetien. Wir haben es. Wir können es dem Regno geben. Nicht als Lohn für den Bündnisabfall, sondern als Geschenk des Friedens!«
»Dieses Geschenk«, entgegnete der Minister, »ist ein Zwitter wie dieser Friede, Zwangsfriede. Es ist eine Gabe vom Hause Habsburg, das nur schenkt, was es verloren hat.«
»Das geht uns nichts an«, widersprach Eugenie, »wir haben nicht verloren, wir sind die Treuhänder!«
»Wir gewinnen immer für die anderen«, bemerkte Rouher tönend.
»Weiter, weiter!«, trieb der Kaiser und rüttelte leicht an der Sessellehne.
»Uns geht alles an«, sprach La Valette und hob die Stimme, »und ich frage Eure Majestät dies: was würde Europa sagen, wenn die italienische Regierung, in dem Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, durch Aktenveröffentlichung dokumentieren würde, dass der preussisch-italienische Bündnisvertrag vom 8. April durch die kaiserliche Regierung nicht nur gutgeheissen, sondern sogar angeraten worden ist?«
»Nicht nötig«, flüsterte der Kaiser, kaum hörbar, liess sich wieder in den Sessel zurücksinken und schloss die Augen. Seine Neugier schien befriedigt, im Zimmer herrschte Schweigen.
Wenn es still ist und die Erregung aus dem Körper geflohen und die Müdigkeit allein ist mit ihm, aber noch in ihrem Gehäuse und gleichsam demütig, noch nicht im Umlauf des Blutes, dann wölbt sich der Geist wie eine Glocke um die Zeit, die war, wie eine grosse, gläserne Schutzglocke vor dem Augenblick. Man schläft nicht, man weiss und denkt und sieht viel zu viel hinter den geschlossenen Augen. Cavour ist wieder da, beim ersten Blick, und will in allen Weltsprachen die Verschwörung von Plombières publizieren. Krieg oder Weltverachtung, das war damals, Neutralität oder Weltverachtung, das ist heute. »Nicht nötig«, flüsterte der im Sessel damals und heute, begütigend fingernd. Man lässt keine Aktenveröffentlichung zu. Man versteht mit dem Schicksal umzugehen, dem ewigen Erpresser. Sieh, man hat wohl auch gar keine Angst mehr vor ihm.
Eugenie war aufgestanden und beugte sich über den Sessel. Sie legte dem Kaiser die Hand auf die Schulter, scheinbar leichthin, in Wirklichkeit mit Druck, und es tat weh, denn jedes Gelenk barg Schmerz. Sie wollte ihn wohl wecken, er schlief doch nicht. Er öffnete ein wenig die Augen, sie flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Er zog sich sofort hoch.
»Madame und ich unterbrechen die Sitzung auf ein paar Minuten«, sprach er freundlich.
Das Aufstehen aus dem tiefen Sessel war nicht leicht. Man half ihm nicht; denn man wollte ihm nicht zeigen, dass er hilfsbedürftig sei. Er ging gebeugt hinter der vollkommenen Kaiserin zur Tür, die Rouher aufriss. Der Kaiser hatte einen sonderbar mühseligen Gang, sowohl um die angeschwollenen Gelenke der Knie und der Füsse zu schonen als auch um den Unterleib vor Erschütterungen zu bewahren. Die Minister verharrten stehend in der geziemenden Verbeugung.
Die Kaiserin und der Kaiser gingen durch den Vorraum in einen anstossenden Salon, der als zweites Konferenzzimmer diente und mit Polstertüren versehen war wie das Ministerratszimmer. Eugenie trat unter die gerafften Fenstervorhänge und legte die Stirn an die Scheibe. Die Läden waren geschlossen, es war auch wohl schon dunkel draussen. Eugenie hustete bei jedem Atemzug, das verriet ihre Erregung.
»Ich kann nicht lange stehen«, sagte hinter ihr der Kaiser, »ich möchte mich aber auch nicht erst setzen.«
Eugenie drehte sich heftig um, ihre Augen waren gerötet, sie zerrte an dem kleinen Taschentuch. »Ich will wissen, ob La Valette auf Bestellung kam und sprach.«
»Du willst wissen,« fragte der Kaiser zurück, »ob ich die Szene arrangiert habe?«
»Ja, natürlich, ja!«
»Der Herr wäre für derlei denkbar ungeeignet. Für derlei wäre Rouher da. Ausserdem hätte dann La Valette seine Rolle zu gut gespielt; denn ich bin von dem, was er gesagt hat, recht mitgenommen, wie ich gestehen muss.«
Eugenie kam auf ihn zu. »Das war kein Zufall! Louis, es geht heute …«
»Es ging heute um so Wichtiges«, unterbrach der Kaiser plötzlich erregt, »dass ich die Pflicht hatte, den Diskussionsschwindel und Abstimmungsbetrug zu verhindern und für den gerechten Ausgleich der Debatte zu sorgen. Franceschini gab dem übergangenen Innenminister einen Wink.«
»Aha!«, rief Eugenie, »und die eingeschmuggelte Meinung ist eben deine Meinung …«
»Zunächst nur die Kehrseite der Interventionsmedaille, meine Liebe, und aufmerksamer Betrachtung wert.«
Eugenie kam ganz nahe, und er sah, dass ihr Kinn bebte. »Ich sage dir«, flüsterte sie, und ihr Kinn bebte auch beim Sprechen, »ich sage dir, Louis, deine wohlwollende Neutralität ist die Konzession auf unser Ende …«
»Die Intervention, Eugenie, ist möglicherweise die Heraufbeschwörung des Endes. Also was wissen wir, Eugenie? Du bist doch eine fromme Frau, – Gott nur weiss es.«
»Gott sagt es mir!«, stöhnte sie, in Heiserkeit untersinkend, »Louis, du erlässt die Dekrete …«
»Wir beraten ja noch, ich bitte dich!«, sagte er gequält; denn er wusste, was nun kam.
Sie umklammerte ihn. »Du erlässt die Dekrete! Ich flehe dich an! Ich habe Angst! Ich weiss warum!«
»Ich bin etwas angestrengt heute«, flüsterte er gequält und legte den Kopf zurück.
Sie liess ihn los und trat zurück. »Man siehts«, sagte sie, »und an den Fall, dass die Kräfte nicht mehr ausreichen, sollte man vielleicht denken …«
Er öffnete weit die Augen. »Hat die Interventionsmedaille noch eine dritte Kehrseite?«, fragte er und machte mit gespreizten Fingern eine sonderbare Handbewegung vor dem Gesicht, so als zerrisse er störendes Spinnweb. Denn der Zorn, der seltene Zorn schwelte hoch, flackerte einen Augenblick spitz zum Herzen und dann vor den Augen wie ein Gespinst. Er wollte es mit der Hand forttun, der Zorn war doch schon verraucht. Aber die Trübung blieb, und jetzt, im Stehen und als sanfte Lust, trat die Müdigkeit aus der tiefen Zelle und strömte ins Blut. Der Kaiser wankte unmerklich; dann ging er aus dem Zimmer und in den Ministerratssaal zurück. Es war wie ein Waten im eigenen lauen, trägen Blut. So vergass er, der immer Höfliche, an der Tür der Kaiserin den Vortritt zu lassen. Er watete zu seinem Sessel, begütigend gegen die Ehrenerweisung der Minister fingernd, und liess sich ins Polster fallen, erleichtert seufzend.
Der Innenminister hatte das Wort und trat in die Diskussion über die militärischen Anforderungen und Aussichten einer bewaffneten Intervention ein; denn es bliebe nach den Erklärungen des preussischen und des italienischen Gesandten nicht bei der Beobachtung und der Demonstration. Wenn man die Augen schloss und das angenehme Gesicht des Sprechenden durch die Trübung nicht mehr sah, blieb nur die unerbittliche und überzeugte Stimme. »Es gibt also Krieg, Krieg mit Preussen, Krieg mit Italien. Kann dieser Zweifrontenkrieg von uns unternommen werden? Darf es ein Mensch wagen, aus Neigung zu Österreich und aus Hass gegen Preussen das unvorbereitete Land in den Krieg zu hetzen? Vergisst er Mexiko, das noch nicht liquidiert ist und unsere Elitetruppen in Anspruch nimmt? Vergisst er, dass unsere Arsenale leer sind und unsere Kriegsmaschine veraltet! Sadowa hat das preussische Zündnadelgewehr gewonnen, wie vor zwei Jahren die Düppeler Schanzen. Vergisst er das Zündnadelgewehr?«
»Zu früh«, flüsterte der Kaiser, »wir sind noch nicht schlagfertig.«
Aber vielleicht sprach er es nicht aus, sondern dachte es nur; denn das war von ihm nicht mehr zu unterscheiden. Die unerbittliche Stimme ging weiter, und dann erhob sich die flachere und engere Stimme des Aussenministers in grosser Erregung. Der Kaiser hörte alles; aber die wichtigen Gedanken schoben sich dazwischen und drängten die Stimmen immer weiter zurück. – Zündnadelgewehr – das ist das Wichtige. Der Hinterlader gewinnt. Zündnadelgewehr: Nadel durchsticht Pulverladung und stösst in die Zündpille, die nach rückwärts zündet; sechs Schuss in der Minute, aber ungenügender Gasabschluss, zu viele Ladegriffe, wohl auch Munitionsverschwendung durch Zielunsicherheit. Sechs Schuss in der Minute, gezogener Vorderlader ein bis zwei Schuss, sowohl Minié- wie Lorenzgewehr, sowohl Frankreich wie Österreich: das kommt nicht dagegen auf. Aber da arbeitet Büchsenmacher Chassepot im Kriegsministerium: kleinkalibriger Chassepot-Hinterlader, gleiche Schuss-Schnelligkeit wie Zündnadel, doch besserer Gasabschluss, nur drei Ladegriffe, grössere Zielsicherheit, grössere Tragweite, Chassepot wird besser sein …
Im Zimmer ist es plötzlich still. Der Kaiser denkt zu heftig, um es zu bemerken, und der Körper ist in der lauen, trägen, tiefen Flut ertrunken, er fühlt ihn nicht mehr, auch nicht seine Schmerzen, es geht ihm gut. Ganz in der Ferne krächzte Eugenie: »Er schläft.« Er schläft nicht, er könnte vielleicht sogar die Augen öffnen, mit Anstrengung. Aber wer kann es ihm befehlen? Chassepot-Gewehr ist besser, aber noch nicht fertig. Das ist gedacht oder gesagt. Unter den vielen Gedanken ist einer, der ist schlau: wenn der Kaiser schläft, hält das »Moniteur«-Personal unnütze Nachtwachen. Man glaubt, der Kaiser schläft. Man soll es ruhig glauben und sich mit der Beschlusslosigkeit abfinden. Der Beschluss ist der Schlaf.
Die Kaiserin sagte mit bebendem Kinn: »Die Sitzung ist aufgehoben«, und dann weinte sie auf, vor den Männern.